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"Waren wir zu tolerant?"

Rede beim Hamburger Antikriegstag von Gisela Wiese, pax christi

Liebe Demonstrantinnen, liebe Demonstranten,
liebe Freundinnen, liebe Freunde,

alles ist gesagt, immer wieder, immer wieder. Wer aus deutscher Geschichte gelernt hat, weiß, dass es ohne Erinnern nicht geht. Wer sich nicht erinnern will, der hat keinen klaren Bllick für die Gegenwart und ist nicht fähig, die Zukunft zu gestalten.

Jede und Jeder kann um die Gefährdung unserer Demokratie wissen: Braunes Gedankengut war je nach politischer Lage mal leise, mal laut, mal mehr, mal weniger radikal. Neu sind Brand und Mord. Neu? Seit über zehn Jahren finden rechtsradikale Brandanschläge und Morde statt. Zehn Jahre, in denen Neonazis ungestraft vor laufender Kamera Naziparolen äußern durften.

Die Tat beginnt immer mit dem Wort.

Wer heute nicht weiß, der will nicht wissen.

Wenn wir nicht wissen wollen, dann bedeutet dies zumindest, dass wir genug wissen, um uns vor der Wahrheit zu drücken. Nicht wissen wollen, - niemand weiß besser als wir, wohin das führte: Zu Völkermord und Krieg. Die Welt hat mit 55 Millionen Toten bezahlt.

Rechtsradikalismus ist nicht nur ein Jugendproblem, nicht nur ein soziales Problem und schon gar kein Alkoholproblem.

Ein deutscher Schriftsteller hat die rechtsradikalen Täter "unsere Kinder" genannt. In der Tat, wer die deutsche Vergangenheit relativiert und einen Schlussstrich ziehen will, der hat rechtsradikales Denken und Handeln mitverschuldet.

Liebe Bündnispartnerinnen, liebe Bündnispartner, in der Ablehnung gegen Rechtsradikalismus wollen wir neue Bündnisse schließen. Für uns genügt aber nicht eine freundliche Rede auf der Demonstration. Jede und Jeder muss sich fragen lassen:
Was haben wir versäumt? Waren wir zu tolerant gegenüber den fremdenfeindlichen Äußerungen mancher Politiker?

Waren wir zu nachlässig in der Ächtung und Bestrafung rechtsradikaler Täter?
Nehmen wir es ernst, das braune Gedankengut, das sich in vielen Köpfen verbirgt?
Wer im Alltag nicht die Stimme erhebt gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Asylpraxis, wer sich nicht vor die Diffamierten und Verfolgten stellt, wird mitschuldig.

Was können wir tun? Mein Winterhuder Bäcker hat mir das vorgelebt.
Ein Rechtsradikaler wollte bei ihm Brötchen kaufen. Der Bäcker sagte: "Du kriegst von mir keine Brötchen mehr. So lange Du diese Gesinnung hast, kannst Du von mir aus verhungern."

Diese Ablehnung allein kann uns helfen.

Wenn nicht ein großes Aufgebot von Polizisten den Nazis in Hamburg gegenübersteht, sondern alle Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, dann sind Ausländer geschützt, dann wird die Abschiebepraxis sich verändern, dann werden die Zwangsarbeiter nicht mehr einer unendlichen Geschichte ausgesetzt sein, dann werden Minderheiten geachtet, weil die Bürger und Bürgerinnen unserer Stadt wirkliche Demokraten wurden.

Die Opfer von damals haben immer wieder erinnert für Gegenwart und Zukunft. Ihr Jungen lebt aus dem Erinnern verantwortungsvoll in der Gegenwart:
Sonst habt Ihr keine Zukunft!

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