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Vor 70 Jahren: Der Überfall, der die Welt in Brand setzte

Von Hermann Kant *

Die an Jahrestagen übliche Frage, wo denn nur die Zeit geblieben sei, entfällt in diesem Falle. Wer wie ich am 1. September 1939 dreizehn war, weiß, wo sie geblieben ist. Dass mein Leben wie im Fluge verging, kann ich wirklich nicht sagen. Dazu hat es aus zu vielen Arten von Leben bestanden. Tatsächlich kann ich manche davon gar nicht mehr glauben. Dann komme ich mir mit Tatsachen, zu denen ich Ort und Stunde weiß. Oder ein ausgefallenes Wort. Oder eine Stimmung, ein Gefühl.

Das Wort, mit dem ich am 1. September vor sieben Jahrzehnten meine Mühe hatte, hieß Gestellungsbefehl. Zwar kannte ich es aus hundert Büchern, aber diesmal betraf es meinen Vater. Gestellen musste er sich dort, wo ich sieben Jahre zuvor eingeschult worden war. Dass man ihm etwas befahl, kannte ich nicht erst aus sechs Nazijahren und bedachte es deshalb nicht weiter, doch der Bescheid, der die Umwandlung eines Hamburger Straßenfegers in einen großdeutschen Soldaten einleitete und so seltsam hieß, beschäftigte mich. Und Verwunderung, wenn nicht gar Enttäuschung setzte mir zu, weil es, anders als in den besagten Büchern, ganz ohne Jubel zuging bei diesem Kriegsbeginn.

An meinen Eltern überraschte mich das nicht; sie hatten ihre Gründe, keine Fahnenschwenker zu sein, doch war die allgemeine Stille auf dem Volksschulhof von Dockenhuden so ungewöhnlich, dass es selbst einem Dreizehnjährigen auffallen musste. Zumal er den Donnerhall des braunen Brauchtums noch im Ohr hatte, mit dem die zurückkehrende Legion Condor in Hamburg empfangen worden war. Oder den Schul- und Radioradau bei der »Heimholung der Ostmark«, wie Österreich uns nunmehr heißen sollte. Oder den Egerländer Marsch im Großdeutschen Rundfunk vor und nach der erpressten Eingliederung des jetzt als »Sudetengau« geltenden Teils der Tschechoslowakei ins Großdeutsche Reich.

Seither glaube ich, die Deutschen hätten an diesem düsteren Septembertag einen lichten Moment gehabt. Für einen Augenblick wussten sie: Der Blitz kam nicht aus heiterem Himmel, und die hartnäckigen Propheten mit ihrem Wer Hitler wählt, der wählt den Krieg! hatten wahrgesprochen. Doch haben die zeitweilig Einsichtigen, wie man weiß, aus der Einsicht nichts gemacht, und ihre Betroffenheit legte sich mit dem Blitzkrieg-Sieg über Polen und dem anfangs komisch genannten und dann handstreich- und beilschlagartigen Krieg im Westen des Reiches.

Aus Frankreich kam mein Vater halbtot zurück; gestorben ist er, kurz nachdem die Waffen schwiegen. Wo ich abgeblieben war, hat er nicht mehr erfahren. Ich galt als vermisst und vermisste ihn sehr. Zu gern hätte ich mit ihm besprochen, dass ich im verwüsteten Polen ausschließlich Quartiere bewohnte, die dort entweder nach dem 1. September 1939 von uns Deutschen eingerichtet worden waren oder seit diesem Tag von Deutschen benutzt und bewacht wurden. Fragen hätte ich wollen, ob ich übertrieb, wenn ich bei allem Ungemach eine gewisse Gerechtigkeit, die sich in meiner Verwahrung äußerte, nicht ganz übersah.

Es war widerwärtig, gefangen zu sein, aber widersinnig wäre es gewesen, das für ungerecht zu halten. Und geradezu widerlich mutet mich der Einfall an, man könne Ursache und Wirkung verkehren und der Überfälle der Deutschen vornehmlich als Vertreibungen der Deutschen gedenken. Im Traum fällt mir nicht ein, den Verlust von Heim und Heimat, den andere erlitten, kleinzureden, aber selbst im Schlaf weiß ich noch, mit welchem Treiben das Vertreiben begann.

Zugegeben, manchmal übertreibe ich nach Art der Literaten und lasse Romanfiguren auf eine Weise von Vertreibung reden, die ich verstehe, weil ich ihre Gründe kenne, ja in vier polnischen Jahren gesehen habe. In einem Buch sagt ein polnischer Jude einem jungen Deutschen, der ihm im zerschroteten Ghetto vom Verlust der Heimat spricht: »Machen wir ein ehrliches Geschäft: Ihr behaltet, was man euch nehmen will, und wir bekommen wieder, was ihr uns genommen habt. Es kann auf Vorschuss sein: Im Augenblick, da der erste, der hier wohnte und Abgang via Umschlagplatz nach Treblinka oder Birkenau machte, aus seiner Asche aufsteht und aus Birkenau oder Treblinka via Umschlagplatz zurückkehrt in die Gesiastraße, im selben Augenblick soll von der Odermündung bis zur Quelle der Elbe inklusive Rübezahl alles euch gehören. Was meinen Sie, ist das ein Wort?«

Ein schneidendes und uneinlösbares ist es jedenfalls. Und eines, an das ich mich nicht erst halte, seit ich aus Polen zurück bin. Aus einem Land, in das ich mehr als fünf Jahre nach seiner Okkupation bewaffnet eingerückt war. Auf Befehl, gewiss, eher getrieben als eingefallen wohl, aber dennoch. Auf die Idee, wegen der langsam knapp werdenden Zeit um die verlorenen vier Jahre einzukommen, verfalle ich schon deshalb nicht, weil sie mir nicht als verloren gelten. Allein wenn ich denke, was ich während ihrer über die Beziehungen zwischen Gehorsam und Verlusten lernte! Oder über den Zusammenhang zwischen Gestellungsbefehlen und Flüchtlingstrecks. Oder über das Verhältnis zwischen verlorenen Gebieten und gewonnenen Einsichten. Das hilft denken – an Gedenktagen, an Jahrestagen und an Tagen, die einfach nur Lebtage sind.

* Aus: Neues Deutschland, 29. August 2009

Zur Person: Hermann Kant

Hermann Kant wurde 1926 in Hamburg als Sohn eines Gärtners in ärmlichen Verhältnissen geboren. Wegen der drohenden Bombenangriffe auf Hamburg zog die Familie 1940 nach Parchim. Nach der Volksschule begann er eine Elektrikerlehre in Parchim, die er 1944 erfolgreich als Monteur beendete. Am 8. Dezember 1944 wurde er als Soldat eingezogen. Er geriet in polnische Kriegsgefangenschaft und wurde zunächst in einem Warschauer Gefängnis, später in einem Arbeitslager inhaftiert, das sich auf dem Gelände des Warschauer Ghettos befand. Dort war er Mitbegründer des Antifa-Komitees und Lehrer an der Antifa-Zentralschule. Während dieser Zeit begegnete ihm die Schriftstellerin Anna Seghers, die ihn nachhaltig beeindruckte. Nach seiner Entlassung als Kriegsgefangener ging er 1949 in die DDR und trat dort der SED bei.
1952 holte Kant das Abitur an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) in Greifswald nach. Von 1952 bis 1956 studierte er Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Später arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut und ab 1959 als Redakteur der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur. 1960 wurde er freiberuflicher Mitarbeiter des Schriftstellerverbandes der DDR.
In seinem ersten Roman Die Aula (1965) beschrieb Kant eigene Erlebnisse an der Arbeiter- und Bauernfakultät. Im Buch ist die Schließung der ABF Anlass für eine Abschlussfeier, auf der die Hauptfigur eine Rede halten soll, für die sie dem Schicksal ihrer Mitstudenten und damit einem Teil ihres eigenen Lebens und der Pionierzeit der DDR erzählerisch nachgeht. Der Roman machte ihn in Ost und West schlagartig bekannt, auch weil das Buch in beiden deutschen Staaten kontrovers diskutiert wurde.
(Wikipedia)

Werkauswahl
  • Ein bisschen Südsee, Erzählungen, 1962
  • Die Aula, Roman, 1965
  • Das Impressum, Roman, 1972
  • Eine Übertretung, Erzählungen, 1975
  • Der Aufenthalt, Roman, 1977
  • Der dritte Nagel, Erzählungen, 1981
  • Zu den Unterlagen, Publizistik, 1957-1980
  • Bronzezeit, Erzählungen, 1986
  • Die Summe, Satire, 1987
  • Abspann, Erinnerungen, 1991
  • Kormoran, Roman, 1994
  • Okarina, Roman, 2002
  • Kino, Roman, 2005



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