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"Jeder Rüstungsschritt bedingt unausweichlich eine Konfrontation auf höherer Stufe"

Zu den US-Plänen einer Raketenabwehr auf mittel-osteuropäischem Territorium - Und ein Blick in die Geschichte der Raketendebatte der 80er Jahre - Zwei Beiträge

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die sich auf verschiedene Weise mit den US-Plänen befassen, neue Raketen in Polen und Tschechien zu stationieren. Wir haben Sie der Wochenzeitung "Freitag" entnommen.



Ein Trojanisches Pferd

Politisch Unkorrektes über mögliche US-Raketen in Polen und Tschechien - Damit soll besonders das "alte Europa" gezügelt werden

Von Frank Unger *

Wer regelmäßig wissen will, was die maßgeblichen außenpolitischen Eliten der USA denken beziehungsweise was sie wollen, dass wir denken sollen, der braucht bloß einmal pro Woche in den Berliner Tagesspiegel zu schauen. Jeden Montag beantwortet dort der Mit-Herausgeber der Zeit, Josef Joffe, unter der selbstbewussten Überschrift Was macht die Welt? Fragen zur weltpolitischen Lage, die ihm vom Leiter des Washingtoner Büros, Christoph von Marschall, im Namen von uns ratlosen Ignoranten vorgelegt werden. Joffe genießt den ihm zugebilligten Status als autorisierter praeceptor imperii mit zwischen den Zeilen lesbarer Wonne.

Weniger bekannt ist möglicherweise, dass ausgerechnet dieses Musterexemplar eines transatlantischen Karrieristen seit kurzem auch Mit-Herausgeber eines Buches ist, das vorgibt, eine Art Anthologie von "politisch unkorrektem" Denken zu sein, (Josef Joffe, Henryk M. Broder, Dirk Maxeiner, Michael Miersch: Schöner denken. Wie man politisch unkorrekt ist, München 2007) Unter "politisch unkorrektem" Denken verstehen Leute wie Joffe vorzugsweise die von einer kleinen, unerschrockenen Geisteselite tapfer unter die Leute gebrachten Einsichten in den ethischen Wert unserer Weltordnung und Amerikas als Weltmacht Nr. 1, die aber gegenüber den "politisch korrekten", von den Linkseliten gnadenlos überwachten anti-amerikanischen und natürlich anti-semitischen Sprach- und Denkvorschriften auf verlorenem Posten stehen.

Der russischen Lesart angeschlossen

Seit den Zeiten des Kalten Krieges verstanden die politischen Führer Amerikas die Weltpolitik in Kategorien der Spieltheorie. Die Welt war unzweideutig geteilt in Freund und Feind, jeder "Gewinn" des Einen wurde als "Verlust" des Anderen gedeutet, man rang um "Einfluss", sandte "deutliche Signale" und kämpfte gegen "Glaubwürdigkeitsverluste". Nuklearstrategie nannte man das damals. Joffe verkauft seinen Lesern bis heute eine Weltsicht nach diesem Muster, obwohl die Frage des Feindbildes inzwischen viel komplizierter ist. Das ficht ihn nicht an, denn klar bleibt für ihn stets, wer Freund ist.

Gerade informierte er uns nun in seiner Rubrik, wie man das aufgeregt debattierte Thema "US-Raketenabwehr auf mittel-osteuropäischem Territorium" zu sehen habe. Er kommt ohne Umschweife zur Sache: Die Deutschen, erläutert er seinem Interviewer, hätten sich in dieser Frage "erstaunlich schnell" der "russischen Lesart" angeschlossen, allen voran Außenminister Steinmeier - der warne lächerlicherweise vor einem "Wettrüsten" und das bloß, "weil die Polen eine Handvoll Anti-Raketen haben wollen!" Dabei wisse doch erstens jeder, fabuliert er ohne jeden Beleg, dass Moskau "längst wieder aufrüste" und zweitens die "polnischen Systeme Putins globales Angriffspotential nicht einmal ankratzen können". Außerdem bauten Franzosen und Deutsche ebenfalls Abwehrsysteme. Vor allem aber wäre es unverantwortlich, wenn die Amerikaner in Osteuropa keinen Raketenschild errichteten, angesichts der Atomrüstung Irans und seiner kommenden Nachahmer. Also noch mal: Erstens rüsten die Russen gleichfalls auf, zweitens können die geplanten Systeme russische Raketen gar nicht abwehren, drittens bauen andere auch Abwehrsysteme, viertens sind sie gegen die Iraner gedacht. Wer wissen will, was uns derartige Sophismen über ihren Urheber sagen, der schaue nach in Freuds Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten.

In diesem Fall erkennen wir Joffes Absicht ohne Freud: Er will um jeden Preis von den wirklichen Motiven der US-Regierung für den Aufbau von Raketenabwehrsystemen in Osteuropa ablenken. Es handelt sich dabei nämlich gar nicht um ein militärisches, sondern ein politisches Manöver. Seit Beginn des Irak-Krieges unterscheiden die Bush-Leute zwischen einem "alten" und einem "neuen" Europa. Mit dem alten meinen sie Länder, die sich der "solidarischen" Teilnahme am Irak-Krieg verweigerten, mit dem neuen Europa sind Staaten, vorrangig im Osten, benannt, die sich als willige Helfer zur Verfügung stellten. Das alte Europa gilt als jene Fraktion des Kontinents, die gewisse Emanzipationsambitionen gegenüber den Amerikanern hegt, angeführt von Frankreich und Deutschland. Umgekehrt fühlen sich einige osteuropäische Staaten von Paris und Berlin zu sehr dominiert. Folglich wurde die Möglichkeit gern ergriffen, ein Gegengewicht aufzubauen - und sei es um den Preis einer unpopulären Kriegsteilnahme.

Im gleichen Boot?

Während des Kalten Krieges waren die Nukleararsenale der Supermächte inklusive aller mit ihnen verbundenen Abwehrsysteme mitnichten vorgesehen, damit wirklich Kriege zu führen. Sie dienten vielmehr zur Machtprojektion, um jederzeit in durch Nuklearsuperiorität abgesicherte konventionelle Kriege ziehen zu können.

Diese Strategie wird unbeirrt fortgeführt, etwa mit den Plänen der Bush-Regierung, eine neue Generation von Wasserstoffbomben zu entwickeln. Bei der geplanten Raketenabwehr dagegen geht es um etwas Spezielles: Wenn nämlich die Amerikaner in Polen oder Tschechien eine solche installieren sollten, verfügen sie damit über ein gewichtiges Einflussinstrument auf EU-Territorium. Es hat allein politischen, keinen militärischen Wert. Nicht einmal ein ausgesprochener Idiot dürfte ernsthaft glauben, dass irgendwer im Iran einen Atomangriff auf Westeuropa vorbereite.

Also sind auch die geplanten US-Systeme in Polen zur Machtprojektion gedacht. Nur gegen wen soll die sich richten? Doch gegen Russland? Wohl kaum, dessen Interkontinentalraketen auf Amerika würden nicht über Europa fliegen, und Angriffe auf Polen könnte der vorgesehene Raketenschild gar nicht abwehren. Was bleibt dann übrig? Nichts Geringeres als die Projektion amerikanischer Macht gegenüber Frankreich und Deutschland! Wenn die USA im neuen Europa hoch gezüchtete Militärinstallationen unterhalten, ist das alte Europa vorläufig eingedämmt bei seinen Versuchen, eine EU-Einheitsfront gegen die USA aufzubauen. Das möchte die deutsche Regierung gern verhindern, deshalb beklagt ihr Außenminister einen "möglichen Rüstungswettlauf". Tatsächlich meint er - aber das wäre nun wirklich "politisch unkorrekt", würde er das laut sagen - ein Trojanisches Pferd der USA!

Die Gefahr, dass sich die Europäer irgendwann selbstständig machen, haben die außenpolitischen Eliten der USA bereits unmittelbar nach Abdankung der Sowjetunion 1991 heraufziehen sehen. In den Richtlinien für die Verteidigungsplanung 1994 bis 1997, verfasst unter dem damaligen Verteidigungsminister Cheney, heißt es: "Unser oberstes Ziel muss sein, den Wiederaufstieg eines neuen Rivalen zu verhindern - sei es auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder sonst irgendwo auf der Welt -, der eine Bedrohung von der Größenordnung der ehemaligen Sowjetunion darstellen würde." Dass damit perspektivisch auch die sich seinerzeit (1992) gerade über eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verständigende EU eher als das demoralisierte Russland gemeint war, ist so nahe liegend wie den meisten Deutschen unangenehm. Es geht nämlich nicht mehr um konkurrierende Gesellschaftssysteme, sondern um Ressourcen - die Stoffe, aus denen das gute Leben ist. Da hört, wie beim Geld, auch in so genannten Wertegemeinschaften die Freundschaft auf. Aber wir sollen, ginge es nach Leuten wie Joffe, gar nicht auf die Idee kommen, dass die amerikanischen Freunde uns gegenüber andere denn atlantisch fürsorgliche Absichten hegen. Schließlich sitzen wir doch alle im gleichen Boot, oder?

* Aus: Freitag 13, 30. März 2007


Acht Minuten bis zum Atomkrieg

Unternehmen "Nachrüstung": Als die NATO einst beschloss, neue Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu stationieren

Von Lutz Herden **

Historische Vergleiche bedienen gern den Gedanken: Was es schon einmal gab, mag ein Recht auf Wiedervorlage genießen. Werden derzeit die US-Raketenpläne für Osteuropa debattiert, gerät des öfteren auch eine NATO-Entscheidung von 1979 ins Blickfeld, bei der es gleichfalls um die Stationierung neuer, atomarer Waffen ging. Übersehen wird dabei häufig, dass sich vor 28 Jahren Nordatlantikpakt und Warschauer Vertrag als hochgerüstete Militärblöcke gegenüberstanden und ein Ende des bipolaren Zeitalters nicht absehbar war.

Es ist der 12. Dezember 1979, als der NATO-Rat in Brüssel mitteilen lässt, durch eine Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern (Cruise Missile) in Westeuropa die militärische Balance mit dem Ostblock verändern zu wollen. Das Unternehmen firmiert unter dem Label "NATO-Doppelbeschluss", was suggerieren soll, diese Mittelstreckenraketen zu dislozieren, sei die eine Option - dies durch Verhandlungen mit der Sowjetunion zu vermeiden, die andere. Das zweite mehr ins Militärische langende Etikett des Brüsseler Beschlusses versichert sich des Begriffs "Nachrüstung".

Es sei zunächst dahin gestellt, ob der damals reklamierte Handlungsbedarf wegen einer sowjetischen Übermacht bei atomaren Mittelstreckenraketen tatsächlich existiert hat. Schon von der Wortwahl und Absicht her erscheint jeder Vergleich mit heutigen US-Plänen in Sachen "Missile defense" für Polen und Tschechien fragwürdig, sollte es dabei - wie behauptet - um Gefahrenabwehr gegenüber dem Iran gehen. Bisher verfügt Teheran weder über Mittelstreckenraketen, die dank ihrer Reichweite West- oder Mitteleuropa anfliegen könnten, noch sieht es sich in der Lage, derartige Trägermittel mit Atomsprengköpfen auszustatten, so dass eher von "Vorrüstung" als von "Nachrüstung" zu reden wäre. Es sei denn, ein möglicher US-Raketenschild richtet sich eben doch gegen Russland, um dessen Mittelstreckenpotenziale (die SS-24 M1) neutralisieren zu können. In der Rüstungsgeschichte des Atomzeitalters fehlt es bekanntlich nicht an Versuchen, von veränderten militärischen Kräfteverhältnissen politisch Gebrauch zu machen - für die USA mag das angesichts der nicht unbelasteten Beziehungen mit der Russischen Föderation verlockend sein.

Henry Kissinger warnt

Doch zurück zum "NATO-Beschluss" von 1979. Die westliche Allianz fühlt sich Ende der siebziger Jahre einer - wie es heißt - wachsenden Bedrohung durch landgestützte Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 ausgesetzt, deren Basen im Westen der UdSSR liegen. SS-20 können nach Erkenntnissen der NATO mehr als 2.000 Kilometer weit fliegen, gelten als treffsicher und - verglichen mit den Vorgängern SS-4 und SS-5 - als variabler in der Zielauswahl. Henry Kissinger, Sicherheitsberater des 1974 wegen der Watergate-Affäre zum Rücktritt genötigten Richard Nixon, insistiert: Westeuropa, das atlantische Bündnis überhaupt, würde durch die SS-20 "politisch und militärisch erpressbar". Die Sowjetunion verschaffe sich eine Etage unterhalb der Master-Ebene Interkontinentalraketen (Reichweite bis zu 10.000 Kilometer) einen enormen Vorteil. Dies nicht nur, weil Moskau mit den SS-20 seine Erstschlagkapazität anreichern, sondern das dicht besiedelte Westeuropa mit seiner sensiblen Infrastruktur im NATO-Kernland angreifen könne. Wovon Kissinger nicht spricht, die sowjetische Fähigkeit, Westeuropa in Schutt und Asche zu legen, besteht seit der Stationierung erster Mittelstrecken-Potenziale 1964/65. Aber weder Chrustschow noch Breschnew haben diesen Joker je gespielt, um Paris, London oder Bonn politisch unter Druck zu setzen - aus Sicht des Kremls sind die SS-20 eine Kompensation für US-Langstreckenraketen, die über äußerst treffgenaue Mehrfach-Sprengköpfe verfügen, was die Verteidigung des Flächenstaates UdSSR erheblich tangiert. Außerdem soll dieser Raketentyp eine Antwort auf die Mittelstrecken-Arsenale der Atommächte Frankreich und Großbritannien sein, die nicht auf Schweden oder Griechenland, sondern Osteuropa gerichtet sind.

Reduzierte Vorwarnzeit

Mit anderen Worten: Das tatsächliche Kräfteverhältnis, wie es 1979/80 zwischen Warschauer Vertrag und NATO besteht, wird durch den Beschluss von Brüssel nur höchst selektiv wahrgenommen. Bezogen auf eine solche Optik sind Parallelen zu heutigen Vorhaben der USA in Osteuropa in der Tat unübersehbar. Unterstellen wir, der geplante Sperrriegel richte sich wirklich gegen irgendwann vorhandene iranische Offensiv-Raketen, dann sollte es in einem Anflug von Fairplay denkbar sein, das regionale Kräfteverhältnis im Nahen und Mittleren Osten nicht vollends auszuklammern und in Betracht zu ziehen, dass Israel über ein eigenes Nuklearpotenzial verfügt, das Teheran zu recht als Bedrohung empfindet, weil es damit "politisch und militärisch erpressbar" ist. Die Widersinnigkeit eines selektiven Blicks, der je nach Interessenlage Realitäten ausblendet, kann offensichtlicher kaum sein - das galt für die NATO 1979 ebenso, wie es fast drei Jahrzehnte später für die USA gilt.

Und noch etwas sollte mit Blick auf die NATO-Pläne von einst erinnert werden - wie nie je zuvor fiel damals der Faktor Zeit im Wettlauf um strategische Vorteile ins Gewicht, denn eines stand von Anfang an außer Zweifel: Durch eine Stationierung von Pershing II und Marschflugkörpern in der BR Deutschland und Italien verkürzte sich die so genannte "Vorwarnzeit" - die Frist vom Auslösen des Atomalarms bis zu Gegenmaßnahmen oder deren Widerruf - für die Sowjetunion auf acht bis zehn Minuten. Da sich die nuklearen Systeme beider Seiten in permanenter Feuerbereitschaft befanden, konnte unter diesen Umständen schon ein kleiner Fehler - eine menschliche Fehlleistung oder eine technische Havarie - zu einem Inferno führen. Einmal abgeschossene Raketen ließen sich nicht mehr zurück holen.

"Der Atomkrieg ist vom Frieden nur wenige Minuten getrennt", schrieb 1982 der Friedensforscher Alfred Mechtersheimer in seiner Studie Rüstung und Frieden. Der Widersinn der Sicherheitspolitik über die möglicherweise irreversiblen Folgen der "Nachrüstung". Es lag auf der Hand, sollte sich für die Sowjetunion die Reaktionszeit bei einem möglichen Atomangriff extrem reduzieren, würde sie eine Antwort geben, die der Gegenseite Gleiches zumutete - etwa die Verlegung taktischer Kernwaffen mit kurzer Reichweite nach Tschechien und in die DDR (wie es ab 1984 auch geschah), deren kurze Flugzeiten für die Stationierungsorte der Pershing II ein hohes Risiko heraufbeschworen. Das ewige Axiom des Nuklearzeitalters ließ sich auch in diesem Fall nicht umgehen: Jeder Rüstungsschritt bedingt unausweichlich eine Konfrontation auf höherer Stufe - statt des erstrebten Gewinns bleibt ein Verlust an Sicherheit.

Das war so, als die NATO seinerzeit "nachrüstete" - und das wird so sein, sollten die Amerikaner demnächst in Osteuropa Raketensysteme aufbauen, gegen wen auch immer.

** Aus: Freitag 13, 30. März 2007


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