Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

US-Raketenabwehr: Abwehrschild gegen "Schurkenstaaten"?

Pressespiegel vom 31.05.2000

Pünktlich zur Ankunft des US-Präsidenten in Europa (30.05.2000), erschienen in den überregionalen Zeitungen zahlreiche Berichte und Analysen, die sich zum Teil sehr kritisch mit den Raketenabwehrplänen der USA (NMD) beschäftigten. Wir dokumentieren eine Auswahl interessanter Ausschnitte.

Die Frankfurter Rundschau widmete dem Thema eine Sonderseite. Zunächst unter der Rubrik "Im Blickpunkt" einige technische Erläuterungen über die Funktionsweise von NMD:
Technisch kommt der geplante Abwehrschild der USA gegen Interkontinentalraketen sogenannter "Schurkenstaaten" (NMD) dem Versuch gleich, eine Pistolenkugel mit einer Pistolenkugel abzufangen - und zwar im Zeitraffer. ...
Im Ernstfall würden der angreifende Marschflugkörper und die Abfangrakete mit einer Annäherungsgeschwindigkeit von über 20 000 Stundenkilometern aufeinander zu rasen. Das Abwehrgeschoss müsste den Sprengkopf nach Ansicht von Militärexperten nicht nur irgendwo, sondern im ersten Drittel treffen, um ihn vollständig zu zerstören. Idealerweise würde das fatale Rendezvous im Weltraum stattfinden. Unter der Wucht des Zusammenpralls, so die Kalkulation, würden mitgeführte chemische und biologische Kampfstoffe folgenlos zerstauben. Atomsprengköpfe sollen "verpuffen", was weniger Schaden anrichten würde als eine geordnete Explosion, aber immer noch nuklearen Fallout zur Folge hätte.
...
Möglich machen sollen einen direkten Treffer nun in den 90er Jahren erzielte Fortschritte in der Computer-, Radar- und Infrarottechnik. Dahinter wiederum verbirgt sich der Umstand, dass Washington die Arbeiten an einer Raketenabwehr auch nach dem offiziellen Aus für Reagans Star-Wars-Pläne nie ganz aufgegeben hat. Das Unterfangen gilt mit geschätzten Forschungs- und Entwicklungskosten von 60 Milliarden Dollar zwischen 1983 und 1999 schon jetzt als das teuerste Rüstungsprojekt aller Zeiten.

Herzstück von NMD wäre ein um die Vereinigten Staaten gelegter Radargürtel mit fünf Frühwarnstationen an der West- und Ostküste sowie in Alaska, Grönland und Großbritannien. Ein hochsensibler X-Band-Radar auf der Aleuteninsel Shemya im Beringmeer soll zudem im Falle eines Angriffs präzise Informationen über die Flugbahn einer gegnerischen Rakete an die Leitzentrale in Colorado Springs liefern. Die wiederum würde in Alaska eine Abfangrakete starten und führen. Mit den von der US-Regierung anvisierten 100 Abfangraketen könnten rund ein Dutzend angreifende Marschflugkörper eliminiert werden, erläutert ein europäischer Militärexperte in Washington. Dabei sei es technisch entsprechend der heutigen Planung allenfalls möglich, zwei bis drei Abwehrgeschosse gleichzeitig zu führen. Bei einem massiven Angriff mit mehreren Marschflugkörpern wäre der Schutzgürtel somit überfordert.
...

Die Süddeutsche Zeitung schreibt unter der Überschrift "Ein Schild gegen den Rest der Welt" u.a.:
...
Die Notwendigkeit einer Nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense - NMD) ergibt sich nach Ansicht amerikanischer Militärs aus einer neuen Bedrohung der USA durch Interkontinentalraketen mit atomaren, biologischen oder chemischen Ladungen. Solche Waffen, über die auch die Vereinigten Staaten verfügen, könnten also von einem anderen Erdteil aus direkt auf eine amerikanische Stadt geschossen werden.
...
Das Hauptaugenmerk der amerikanischen Analytiker gilt indes mehreren kleinen Ländern, die im amerikanischen Sprachgebrauch als "rogue nations" (Schurken-Staaten) gelten und deren Führer als unberechenbar gelten. Gemeint sind Nordkorea, Iran, Irak und Libyen. Libyen indes habe derzeit mit seinen Rüstungsprojekten Probleme, erklärte jüngst Robert D. Walpole, ein führender CIA-Spezialist für strategische und atomare Fragen. Nordkorea hingegen hatte 1998 eine dreistufige Rakete vom Typ Taepo Dong-1 getestet und könnte nach Einschätzung des US-Geheimdienstes bis 2015 den größeren Typ Taepo Dong-2 zu einer Interkontinentalrakete ausbauen, die auch einen Atomsprengkopf befördern könnte. Der Iran könnte bis 2010 ähnlich weit kommen, indem er mit russischer Technologie und Hilfe seine Shahab-Raketen weiterentwickelt. Dem Irak wird zugetraut, bis 2010 eine nordkoreanische Interkontinentalrakete zu testen.

Nun wissen Iraker, Iraner oder Nordkoreaner nur zu gut, dass ein Raketenangriff gegen die USA einen vernichtenden Gegenschlag der überlegenen amerikanischen Militärmaschinerie zur Folge hätte. Sie könnten aber nach Meinung von US-Strategen versucht sein, in zehn oder 20 Jahren mit ihrem neuen Potenzial die USA oder auch europäische Länder in einem Krisenfall unter Druck zu setzen. Um dem vorzubeugen, erwägen amerikanische Politiker und Militärs den Aufbau des NMD-Systems. Es soll dem Abfangen und Vernichten anfliegender Langstreckenraketen dienen und das gesamte Staatsgebiet der USA einschließlich der entlegenen Bundesstaaten Alaska und Hawaii schützen - deshalb "Nationale" Raketenabwehr. Bisher gibt es vergleichbare Waffen nur gegen Kurz- und Mittelstrecken-Raketen und für den Einsatz auf begrenztem Raum.

...
Im Ernstfall würde zunächst mittels Radar eine anfliegende feindliche Langstreckenrakete erkannt und geortet. Binnen weniger Minuten müsste eine mehrstufige Abfangrakete aufsteigen und außerhalb der Atmosphäre in 120 bis 220 Kilometer Höhe den feindlichen Flugkörper erreichen, der dann von einem am Kopf der Abfangrakete sitzenden sogenannten "Kill Vehicle" (Killer-Rakete) getroffen und zerstört würde. Diesen Vorgang haben die US-Militärs und ihre Forscher bisher zwei Mal getestet, am 2. Oktober 1999 und am 18. Januar dieses Jahres. Dabei ließen sie eine Rakete mit einer Sprengkopf-Attrappe von der kalifornischen Militärbasis Vandenberg aus tausende Kilometer über den Pazifik fliegen, während 20 Minuten später vom US-Testgelände auf dem Südsee-Atoll Kwajalein (Marschall-Inseln) in 7000 Kilometer Entfernung eine Abfangrakete gestartet wurde. Ihre Killer-Rakete verfehlte indes beim zweiten Test in den letzten Sekunden der 100 Millionen Dollar teuren Operation das Ziel wegen einer Fehlfunktion der Hitzesensoren, die die Zielsteuerung besorgen. Ein dritter Versuch sollte ursprünglich am 27. April stattfinden und wurde dann auf den 26. Juni, inzwischen sogar auf Anfang Juli verschoben.
...

Ein weiterer Artikel in der FR befasst sich mit der innenpolitischen Diskussion in den USA. Clinton stehe unter großem Druck von Seiten der Republikaner, die noch viel weiter gehende Vorstellungen von einem Nuklearschirm haben. Auszüge aus dem Artikel "Mit Schirm, Deckel und Rakete" von Dietmar Ostermann:
...
Vorige Woche hat der republikanische Präsidentschaftskandidat George W. Bush dargelegt, was er bei einem Wahlsieg in Sachen NMD zu tun gedenkt. "Amerika muss eine effektive Raketenabwehr basierend auf der besten verfügbaren Option zum frühesten Zeitpunkt errichten", forderte der Texaner. Im Gegenzug bot er vage eine einseitige Reduzierung des US-Atomwaffenarsenals an, auf die "unter Gewährleistung der nationalen Sicherheit niedrigst mögliche Zahl". Damit wären unter einem Präsidenten Bush nicht nur drei der vier Kriterien (tatsächliche Bedrohung, Kosten, Auswirkung auf die Rüstungskontrolle) vom Tisch, von denen Clinton seine für den Sommer angekündigte Entscheidung über den Aufbau der international umstrittenen Raketenabwehr abhängig machen will (übrig bleibt die technische Machbarkeit). Hinfällig wäre auch die derzeit diskutierte Größenordnung von lediglich 100 Abfangraketen zum Schutz gegen hypothetische Angriffe sogenannter Schurkenstaaten ...
Bush strebt einen "weit robusteren Raketenschild" an, heißt es weiter in dem Artikel.
Damit liegt er auf der Linie führender Republikaner im Kapitol, denen die von Clinton unter dem Druck der konservativen Parlamentsmehrheit im Vorjahr vorgeschlagene Variante seit langem zu popelig ist. Vom Haushaltsbüro des Kongresses haben sie schon mal die Kosten für einen Schild mit 250 Abwehrraketen und zwei Startplätzen statt einem errechnen lassen: 60 Milliarden Dollar bis 2015. Zunehmend auf Resonanz trifft auch die im Februar erhobene Forderung der Marine, eine landgestützte nationale Raketenabwehr durch mobile, auf Schiffen stationierte Systeme zu ergänzen - was Kosten und Umfang weiter in die Höhe treiben würde.

Schmackhaft macht die Navy ihren Vorstoß mit der Aussicht, in Krisenfällen direkt vor der Küste potenzieller Angreifer operieren zu können. Interkontinentalraketen sollen so schon in der Startphase abgefangen werden. Zusätzlich zum eigenen Territorium soll der schwimmende Schutzschild US-Truppen im Ausland oder alliierte Staaten flexibel schützen.
Im Prinzip finden auch NMD-Kritiker wie der demokratische Senator Joseph Biden an einer mobilen "theater missile defense" Gefallen, die nach ihrer Ansicht mit bestehenden Verträgen mit Russland eher in Einklang zu bringen wäre. Es sei einfacher, argumentiert etwa Richard Garwin vom Council on Foreign Relations, "einen Deckel auf Nordkorea zu drücken, als einen Regenschirm über die ganzen USA zu spannen".
Konservative Schurken-Bekämpfer im Kongress wollen indes vehement beides, wenn es nur machbar ist. ...

Laut Washington Post kommt eine vom Verteidigungsministerium noch unter Verschluss gehaltene Studie der Ballistic Missile Defense Organization (BMDO) jetzt .. zu dem Schluss, dass es durchaus möglich sei, seegestützte Abwehrgeschosse zu entwickeln, die schnell genug wären, ballistischen Interkontinentalraketen hinterher zu jagen. Kritiker zweifeln allerdings, wohl nicht ohne Grund, den Wert solcher Erkenntnisse an. Zuletzt jedenfalls gab es schon bei der landgestützten Variante mehr Pannen als Erfolge. Zudem ist die mit der Raketenabwehr betraute BMDO kaum ein unabhängiger Gutachter, wenn es um die Ausweitung des Projektes und neue Forschungsgelder geht.

Zustimmung finden die USA mit ihren Raketenplänen nirgendwo in der Welt. Zu den Auswirkungen auf Russland und China heißt es in einem Beitrag der Frankfurter Rundschau (Karl Grobe: Gefundenes Fressen für Falken):

Die russische Reaktion auf die amerikanischen Raketenabwehrpläne lässt sich in einem gut bekannten Wort zusammenfassen: njet. General Leonid Iwaschow, Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit im Verteidigungsministerium, hält "solche Pläne nicht für eine Grundlage künftiger Konsultationen, denn sie könnten den ABM-Vertrag (von 1972 über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen; d. Red.) zerstören". Unsinnig seien sie auch, denn "diese Länder" - die von den USA als Schurkenstaaten klassifizierten, angeblich mit Nuklearwaffen drohenden Länder Nordkorea, Iran und Irak - "werden in nächster Zukunft wohl nicht die Möglichkeit erreichen, Waffensysteme auf die USA abzuschießen". Iwaschow ist als harter Knochen bekannt und mag die Politik der USA und des Westens nicht.

Doch auch Außenminister Igor Iwanow hat vor zwei Monaten schon dem Washingtoner Sicherheitsberater Leon Fuerth seine Ablehnung signalisiert: Wenn die USA sich tatsächlich an ein "nationales ABM-System" machen sollten, dann könnte nicht allein der seit 28 Jahren bestehende ABM-Vertrag, sondern der ganze Komplex des Herunterrüstens in Gefahr geraten....
Washington hatte vorher den Moskauer Verantwortlichen signalisiert, die amerikanischen Pläne seien wirklich nicht gegen Russland gerichtet. Der Beweis: Selbst gegen ein auf 1 500 Fernraketen verkleinertes Arsenal, ein Viertel des gegenwärtigen, würde das neue System nichts nützen; die Planung für die National Missile Defense (NMD, Nationale Raketenverteidigung) gehe von zunächst hundert Abfangraketen in Alaska aus und reiche damit gerade hin, um eine oder zwei Schurken-Raketen auf halbem Wege in der Stratosphäre abzuschießen.... Moskau ist nicht überzeugt.
"In Wirklichkeit wird doch ein System mit solchen - auch weltraumgestützten - Kontroll- und Zielerfassungsmitteln geplant, das leicht auf nationale Dimensionen vergrößert werden kann", argwöhnte Iwaschow, wie die Washington Post Anfang Mai aus Moskau berichtete. Was der russische General nicht sagte, lässt sich aus dem Kleingedruckten der neuerdings geltenden russischen Militärdoktrin ablesen. Moskau behält sich den (taktisch begrenzten) Ersteinsatz von Atomwaffen vor, sobald russische lebenswichtige Interessen tangiert sind; mag NMD auch gegen einen massiven Atomraketenangriff machtlos sein - es könnte in einer regionalen Variante (Theater Missile Defense, TMD), die sich auf einen regional begrenzten "Kriegsschauplatz" bezieht, doch funktionieren. Daher rührt auch der chinesische Argwohn. Stichwort: TMD in Ostasien, einschließlich Taiwan. Zwar hat Chen Shui-bian, der neue Präsident in Taipei, gerade wieder betont, es werde kein TMD geben, solange China nicht mehr Nuklearraketen aufstelle, aber seine Demokratische Fortschritts-Partei (DPP) hatte sich laut China Times noch im Dezember vorigen Jahres für eine Taiwaner Beteiligung an TMD-Plänen stark gemacht. ...
...
Doch selbst in Russland und in China gibt es heimliche Befürworter dieser Pläne der Amerikaner. Es sind diejenigen, die gar nicht genug eigene Fernraketen haben können. Der unabhängige Militärexperte Pawel Felgenhauer spielte in der Moscow Times kürzlich diesen Gedanken durch: Wenn die USA ein NMD-System aufbauen, das tatsächlich bis zu 90 Prozent der auf sie abgefeuerten Interkontinentalraketen abfangen könnte, dann müssten nach Ansicht "vieler Leute in unserem Militär" eben mehr Interkontinentalraketen abschussbereit gehalten werden. Diese Leute "wünschen in Wirklichkeit, dass die USA mit NMD Ernst machen".
Hong Yuan von der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften griff diese Überlegungen kürzlich auf andere Weise auf: In Japan seien "Falken" und "Tauben" dabei, die pazifistischen Teile aus der Verfassung zu streichen. Dann werde Japan in ein TMD-Bündnis mit den USA eintreten, und von diesem Augenblick an sei ein regionales Wettrüsten unvermeidlich.

In der Süddeutschen Zeitung wird das Thema etwas variiert: Trotz starker Protestworte aus dem Kreml sehe die russische Führung und insbesondere die Generalität dem Raketenabwehr-Schauspiel gelassen zu. Tomas Avenarius schreibt unter dem Titel "Gelassene Generäle" u.a.:

...
Putin weiß, dass Clinton in der Frage der US-Raketenabwehr nur noch bedingt entscheidungsfähig ist. Der Kremlchef hingegen ist unangefochten und kann sich als abrüstungspolitischer Saubermann präsentieren. Dank seiner Initiative hat Moskau den Start-II-Vertrag ratifiziert und das Atomteststopp-Abkommen unterzeichnet. Der Russe kann dem Amerikaner somit vorhalten, mit der US-Raketenabwehr die Rüstungskontrolle zu gefährden.

Generaloberst Walerij Manilow, einer von Putins obersten Militärs, warnt: "Der ABM-Vertrag ist die Basis eines Systems von Rüstungskontrollverträgen. Wird er aufgelöst, bricht das gesamte System zusammen." Moskau wird also fürs Erste den ABM-Vertrag für unantastbar erklären. Der Wunsch der USA nach einem Schutzschild gegen Atomraketen aus "Paria-Staaten" sei ein Vorwand, so die russische Sicht: Iran, Irak oder Nordkorea verfügten bisher nicht über Raketen, die die USA erreichen können. In Wirklichkeit wolle Washington langfristig die russische Atomstreitmacht ausschalten....

"Moskau spielt die Frage der US-Raketenabwehr aus politischen Gründen hoch", sagt der unabhängige Militäranalytiker Pawel Felgenhauer. "Die Militärs wissen, dass das US-System in seiner ersten Stufe, also ohne weltraumgestützte Komponenten, keinen Schutz vor einem russischen Angriff mit hunderten Atomraketen bietet." Auch westliche Experten urteilen: "Moskaus Vergeltungsfähigkeit ist vorerst nicht gefährdet." Im Generalstab sehe man die US-Pläne gelassen, sagt Felgenhauer. Selbst wenn der Schutzschild über den USA einmal funktionieren sollte, habe Russland Mittel, seine Schlagfähigkeit zu erhalten. Zum einen führe Moskau derzeit die moderne Langstreckenrakete Topol-M ein. Diese könne mit Mehrfachsprengköpfen ausgerüstet werden und so jedes Abwehrsystem überlisten. Mehrfachsprengköpfe sind zwar durch Rüstungskontrollverträge verboten. Sie könnten aber stationiert werden, wenn das Rüstungskontroll-Vertragssystem annulliert würde.

So weit müsse es nicht kommen, sagt Felgenhauer. Moskau habe in den achtziger Jahren Techniken entwickelt, eine Raketenabwehr zu unterlaufen. So könnten Langstreckenraketen mit Einfachsprengkopf beim Anflug Hunderte von ballonartigen Flugkörpern ausstoßen. Die Abwehrrakete könne zwischen Ballons und Sprengkopf nicht unterscheiden - mit hoher Wahrscheinlichkeit würde die Atomladung ins Ziel gelangen. Felgenhauers Fazit: "Moskau bleiben dank dieser Technik und dank der Unzuverlässigkeit des US-Systems zehn Jahre, bevor es reagieren muss."...

Militärisch jedenfalls ist Russland durch die US-Pläne derzeit nicht wirklich gefährdet. Und politisch fühlt es sich stark. Wenn sich Clinton und Putin nicht einigen, müssten die USA den ABM-Vertrag einseitig aufkündigen, um mit der Raketenabwehr Ernst zu machen. Moskau könnte Washington vorwerfen, das seit 30 Jahren funktionierende System der Rüstungskontrolle zerschlagen zu haben. ...

Putin könne sich ein "Ja" zur Raketenabwehr allerdings abhandeln lassen. Nachdem Russland den Start-II-Abrüstungsvertrag ratifiziert hat, will der Kreml rasch ein Nachfolgeabkommen (Start-III). Moskaus großes, aber altes Atomarsenal verrottet. Die älteren Raketen gefährden Russland stärker, als dass sie Gegner schrecken. Moskau kann sich eigentlich nur 1500 Sprengköpfe leisten. Nur wenn es dazu flächendeckend Topol-M-Raketen aufstellt, kann es seine Atommacht für weitere 15 Jahre sichern. Ganz so stark ist die Moskauer Position also nicht, denn wie Felgenhauer sagt: "Moskau will Start-III unbedingt."

Die Auswirkungen auf China und andere Staaten Asiens dürften größer sein, mutmaßt Peter Münch in einem anderen Artikel der Süddeutschen Zeitung: "Pekings Protest - China und andere Atommächte in Asien fühlen sich provoziert".

Es ist die Angst vor der Unberechenbarkeit ferner Diktatoren, die in den USA Argumente produziert für den Bau des nationalen Raketenabwehrsystems (NMD). Fern und unberechenbar, das passt perfekt auf die Potentaten in Pjöngjang, die vom amerikanischen Verteidigungsminister William Cohen jüngst als die "bedeutendste kommende Gefahr" bezeichnet wurden. Von Nordkoreas Hauptstadt bis zur amerikanischen Westküste sind es 9500 Kilometer - eine Distanz, über die mit Langstreckenraketen durchaus todbringende atomare, biologische oder chemische Kampfstoffe bis zur Westküste der USA transportiert werden können.

Allerdings verfügt Nordkorea noch gar nicht über solche Interkontinentalraketen. Doch der Test einer Mittelstreckenrakete namens Taepo Dong-1 im August 1998, die über den Norden Japans hinweg flog und im Pazifik versank, hat die Nachbarn im Süden sowie die Japaner erschreckt und die Amerikaner aufhorchen lassen. ...

Die primär und offiziell als Vorkehrung gegen eine Bedrohung aus Nordkorea geplante Maßnahme birgt die Gefahr einer Kettenreaktion: Erst China und dann die nuklearen Newcomer Indien und Pakistan könnten sich herausgefordert fühlen. ...
Denn schon in der bisher geplanten Dimension mit etwa hundert in Alaska stationierten Abfangraketen wären die Amerikaner in der Lage, Chinas gesamtes Arsenal atomar bestückter Langstreckenwaffen abzufangen. Verwunderlich ist es also nicht, dass Peking das NMD-Projekt auch als gegen China gerichtet versteht. Washington beteuert zwar das Gegenteil, aber allzu viel Mühe haben sich die Amerikaner bislang noch nicht gegeben, Pekings Protest zu entkräften. ... Die Realisierung des NMD-Projekts .. würde ein solches chinesisches Atomprogramm fast zwingend machen, um Peking sein Bedrohungspotential zu erhalten.

Und dies dürfte nicht ohne Echo aus Südasien bleiben. Schon als sich die Inder im Sommer 1998 mit ihren Nukleartests als neue Atommacht positionierten, war dies als Warnschuss nach zwei Seiten gewertet worden: gegen den Erzfeind Pakistan, aber auch gegen China. Indien mit seiner Bevölkerung von mittlerweile einer Milliarde Menschen strebt immer selbstbewusster nach einer regionalen Machtstellung. Dass dabei China im Blick gehalten wird, ist selbstverständlich. Eine chinesische Atomaufrüstung könnte also kaum ohne indische Reaktion bleiben.

Und wenn die Inder ihre Arsenale aufstocken, wäre Pakistan im Zugzwang, um im Dauerkonflikt um Kaschmir nicht ins Hintertreffen zu geraten. Amerikas Abwehrprogramm könnte also der Startschuss sein für ein asiatisches Aufrüstungsprogramm.

Auch in (West-)Europa hält sich die Begeisterung in Grenzen, überwiegen Kritik und Besorgnis. Hierzu die FR("Abwehr stößt auf Abwehr", von Martin Winter, Brüssel):

...
Die Bündnismitglieder östlich des Atlantiks fürchten einerseits das Risiko einer Erosion der Nato. Die Installation eines defensiven Systems in nur einem Teil des Bündnisgebietes nämlich kann, wie es in Brüssel heißt, zur Schaffung von "Zonen unterschiedlicher Sicherheit" führen. Die Stabilität der Nato gerät aber ins Rutschen, wenn nicht mehr die gleichen Sicherheitsgarantien für alle Partner gelten. Vorschläge aus Amerika, wie etwa kürzlich vom republikanischen Präsidentschaftskandidaten George Bush, die Europäer könnten NMD ja auch für ihr Territorium installieren, stoßen in Paris, Berlin, London oder Rom auf taube Ohren. Im Grundsatz nämlich sind sich die Europäer einig, dass NMD ein technisch unausgereiftes System ist und dass es, selbst wenn es funktionierte, für Europa unpraktikabel wäre.

...
... schauen die Europäer mit Sorge darauf, welche Auswirkungen ein amerikanischer Alleingang auf die Beziehungen zu Russland im Besonderen und auf die globale Abrüstung im Allgemeinen haben könnte. Moskau - Partner im ABM-Abrüstungsvertrag - könnte NMD zum Anlass nehmen, den vereinbarten Abbau von Waffensystemen zu stoppen. Und China oder auch Schwellenmächte wie Indien könnten durch NMD zu einem neuen Rüstungswettlauf provoziert werden.
Nachdem die europäischen Nato-Partner eingesehen haben, dass sie letztlich keinen Einfluss auf die Entscheidung der USA haben - Washington hat sich nur zu "Konsultationen" bereit gefunden -, versuchen sie, der Führungsmacht zumindest einige Bedingungen abzuringen: So sollte NMD nur nach einer entsprechenden, mit Moskau zu verhandelnden Anpassung des ABM-Vertrages realisiert werden. Und parallel zur Etablierung des neuen Abwehrsystems soll nach dem Wunsch der Europäer eine neue Abrüstungsrunde eröffnet werden, an der diesmal auch die asiatischen Länder, allen voran China, beteiligt sein sollen.

Zur Sonderseite "US-Raketenabewehr"