Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Déjà-vu für Kalte Krieger

Gastkolumne zum US-Raketenschirm. Von Otfried Nassauer *

Die USA planen, Teile des Raketenabwehrsystems, das Washington vor atomaren Langstreckenraketen schützen soll, in Europa aufzustellen. Tschechien will ein Radar beherbergen, Polen zehn Abfangraketen. Es richte sich gegen die Bedrohung aus dem Iran.

Wie sein großes Vorbild, Ronald Reagan, ist George W. Bush überzeugt, dass solche Waffen für die Sicherheit der USA unabdingbar und technisch machbar sind. SDI, Star Wars reloaded. Ein weltweites Raketenabwehrsystem, das angreifende Raketen in jeder Phase des Fluges bekämpfen kann, steht bei Bush für den amerikanischen Traum. Den Traum von der Unverwundbarkeit Amerikas.

Im Traum ist es unerheblich, ob der Iran oder Nordkorea tatsächlich bald in der Lage sind, Raketen zu bauen, die die USA erreichen können. Oder ob das Abwehrsystem wirklich funktioniert. Es muss gebaut werden, damit weiter geträumt werden kann. Träume müssen nicht logisch sein. Heikel wird es nur, wenn Politiker mit träumerischer Logik reale militärische Potenziale begründen.

China und Russland haben zur Kenntnis genommen, dass ein Teil ihrer atomaren Langstreckenwaffen im Wirkungsbereich der US-Raketenabwehr liegen könnte. Beide sehen, dass dieses Vorhaben Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit ihres Abschreckungspotenzials haben könnte. Bei China schon heute und für Russland langfristig, wenn das System weiter ausgebaut werden würde. Russlands Präsident Putin kritisiert Bushs Traum von der Unverwundbarkeit, weil dieser Teil des russischen Albtraums einer globalen unilateralen Vorherrschaft Washingtons ist. Er befürchtet, dass schon der scheiternde Versuch die Welt instabiler macht. Sein Verteidigungsminister, Sergej Iwanow, ließ erkennen, dass Moskau sich zu wehren wisse.

Wie Russland sich wehren könnte, verriet kurz darauf der Chef der Strategischen Raketenstreitkräfte Russlands: Moskau werde den bilateralen Vertrag mit Washington über ein Verbot von Mittelstreckenraketen mit 500 bis 5500 km Reichweite (INF-Vertrag) kündigen und dann die Raketenabwehrbasen in Osteuropa mit neuen Mittelstreckenraketen bedrohen. Ein brillanter Einfall, um Washington zu erschrecken! Viele Hardliner in den USA wollen grade diesen Vertrag bereits seit Jahren kündigen.

Wenn Russland und die USA konventionelle und atomare Mittelstreckenraketen wiederentdecken, dann beginnen sie erneut die großen Diskussionen über verkürzte Vorwarn- und Entscheidungszeiten, präemptive und präventive Schläge und An- und Abkopplung. Willkommen in der Vergangenheit – bei den Lieblingsthemen der Kalten Krieger seit der Cuba-Krise! Bei diesem Déjà-vu darf einer nicht fehlen – Tony Blair: Der britische Knappe bittet darum, auch auf seiner Scholle ein paar der neuen Wunderwaffen aufzustellen. Ganz offensichtlich fürchtet er um seine Sonderrolle bei Hofe.

Doch es geht noch um etwas anderes: Als die NATO 1997 erweitert wurde, versprach sie Russland, keine Truppen und Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren. Eine vertrauensbildende Maßnahme. Diese will die NATO-Führungsmacht zehn Jahre später einseitig aufkündigen. Das ist ein Politikum mit drei Signalwirkungen für Moskau: Vertrauensbildung hat Washington nicht mehr nötig. Die amerikanischen Basen kommen näher. Und die bange Frage: Gehört der Zerfall Russlands zum amerikanischen Traum?

* Otfried Nassauer, Friedensforscher, leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Aus: Neues Deutschland, 5. März 2007



Zu weiteren Beiträgen zum Thema Raketenabwehr, Weltraumwaffen

Zur Sonderseite "US-Raketenabewehr"

Zurück zur Homepage