Neubewertung mit weitreichenden Folgen? US-Raketenabwehrpläne auf dem Prüfstand.
Andreas Flocken (NDR) im Gespräch mit Dr. Bernd W. Kubbig von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Andreas Flocken (Moderation)
Wie geht es weiter mit der geplanten Raketenabwehr der USA? Präsident
Obama hat Moskau in einem Brief angeblich ein Tauschgeschäft vorgeschlagen: Unterstützt die russische Regierung die diplomatischen Bemühungen der Amerikaner, das iranische Atomprogramm zu verhindern, dann könnte auf die US-Raketenabwehr in Osteuropa verzichtet werden, so war es in dieser Woche in der NEW YORK TIMES zu lesen. Der russische Präsident Medwedew lehnte jedoch postwendend einen solchen Deal ab. Und auch Präsident Obama wollte ein solches Angebot nicht gemacht haben. Der Zeitungsbericht habe sein Schreiben ungenau wiedergegeben. Er habe lediglich seine bekannte Position dargestellt, ließ Obama wissen:
"Wenn wir den Iran dazu bewegen können, in seinem Streben nach Atomwaffen nachzulassen, dann besteht weniger Druck und Notwendigkeit für ein Raketenabwehrsystem."
Über das Raketenabwehr-Projekt der USA habe ich mit Bernd W. Kubbig von
der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung gesprochen. Er beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Rüstungsvorhaben. Ich habe Bernd W. Kubbig gefragt, ob die Raketenabwehr überhaupt noch gestoppt werden kann oder ob sie sich möglicherweise schon längst verselbstständigt hat:
Interview Flocken/ Dr. Kubbig
Kubbig: Insgesamt gesehen, lässt sich ein Projekt, das jedes Jahr in der Bush-Administration zwischen 9 und 10 Milliarden Dollar bekommen hat, nicht stoppen. Aber es lässt sich überprüfen, es lässt sich verlangsamen, und es lässt sich nach klaren Kriterien überprüfen: Was ist technologisch machbar? Was ist Effizienz und was nicht? Ich rechne damit, dass der gegenwärtige Budget-Level von derzeit 9 oder 10 Milliarden, um ein oder zwei Milliarden gekürzt wird. Aber das heißt nicht, dass das Projekt aufgehalten wird.
Flocken: Präsident Obama hat ja auch Kriterien für die Raketenabwehr gesetzt.
Er hat gesagt, das System muss funktionieren. Nun gibt es schon seit geraumer
Zeit immer wieder Erfolgsmeldungen. Es gibt Tests, die sehr erfolgreich
gewesen sein sollen. Es gibt aber auch Zweifel. Kann die Raketenabwehr auch
an dem Kriterium Funktionsfähigkeit oder Einsatzreife scheitern?
Kubbig: Es ist erfreulich zu sehen, dass die Obama-Administration zu klaren
Kriterien der Clinton-Administration zurückgekehrt ist. Die Bush-Administration
ist ja einen Irrweg gegangen, als sie von der Testpolitik der Vereinigten Staaten,
wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg gegolten hat, abgerückt ist. Der sogenannte
"Wir fliegen, während wir kaufen"-Ansatz, das heißt, auch wenn Sachen
noch nicht ausreichend getestet sind, dann kaufen wir sie trotzdem, ist ein Ansatz,
den die Obama-Administration derzeit überprüft. Und hier sehe ich die
größten Veränderungschancen. Ich denke, die Administration unter Obama
wird zu realistischeren Kriterien technologischer Machbarkeit zurückkehren.
Flocken: Nun gibt es die Finanzkrise. Sie hat die Weltwirtschaft ja in schwere
Turbulenzen gestürzt. Der Pentagon-Etat stößt ebenfalls an Grenzen. Die Raketenabwehr
- Sie haben es eben gesagt - ist sehr teuer. Könnte letztlich die
Raketenabwehr nicht auch auf der Strecke bleiben, weil sie unfinanzierbar ist?
Kubbig: Auch das ist sicherlich ein Punkt. Die Kostenfrage tritt viel stärker in
den Vordergrund als das noch vor Monaten der Fall war. Amerikanische Befürworter
der Stationierung von 10 Abfangflugkörpern in Polen und der Radaranlage
in Tschechien haben immer gesagt: diese 3 bis 5 Milliarden Dollar, die
machen uns nichts, wir finanzieren das. Aber jetzt ist sicherlich eine neue Situation
eingetreten, auch aus Kostengründen. Deswegen denke ich, dass in Washington
hier eine gründliche Überprüfung stattfinden wird.
Flocken: Kann die Raketenabwehr aus Ihrer Sicht überhaupt funktionieren?
Kubbig: Es gibt immer etwas, das funktioniert. Aber die Frage ist, wie sind die
Standards? Was sind die Ziele der Raketenabwehr? Und da kann ich nur sagen:
25 Jahre nach der berühmten Rede von Ronald Reagan am 23. März
1983 sind wir nach wie vor soweit, dass wir feststellen können: die Raketenabwehrbefürworter
haben nicht geliefert. Sie haben ihre eigenen Versprechen
nicht erfüllt. Dazu gehört die mangelnde technologische Effizienz, dazu gehört
das Versprechen: Wenn wir Raketenabwehrsysteme aufstellen, werden wir die
Weiterverbreitung von Raketenabwehrsystemen oder von Raketen oder von
Nuklearwaffen aufhalten. Auch das ist nicht passiert. Und das dritte große Versprechen
war, dass Raketenabwehrsysteme rein defensiv sind. Auch das hat
sich als Mythos entlarvt. Das heißt, die Glaubwürdigkeitslücke der Befürworter
ist sehr, sehr groß. Und deswegen ist es gut, das dieses System von links bis
rechts gründlich überprüft wird.
Flocken: Warum halten die USA dann aber an der Raketenabwehr fest, wenn
das alles unrealistisch und quasi eine Geldverschwendung ist, wie ich Sie eigentlich
verstehe?
Kubbig: Sie halten deswegen daran fest, weil die Raketenabwehr ein gieriger
Dinosaurier geworden ist. Wenn Sie ein Tier oder eine Maschine mit 10 Milliarden
über einen langen Zeitraum füttern, dann ist dieses Tier gewöhnt, weiterhin
gefüttert zu werden. Sie können es ein bisschen abspecken. Aber da sind die
Netzwerke, die in den Vereinigten Staaten vor allem im Bereich des Pentagon,
der Administration, aber natürlich auch der Rüstungsindustrie hinter diesem
Projekt stecken. Es sind mächtige Netzwerke, große Interessen, die sich inzwischen
mit der Raketenabwehr verbinden.
Flocken: Es gibt ja einen Trend zur Weiterverbreitung von Atomwaffen. Es gibt
auch einen Trend zur Weiterverbreitung der Raketentechnologie. Da könnte
man doch sagen, dass das alles Bedrohungen sind, die eigentlich den Aufbau
eines Raketenabwehrschirms rechtfertigen. Oder wird diese Bedrohung durch
die Raketenrüstung übertrieben?
Kubbig: Ich denke, dass sie falsch eingeschätzt wird. Sie wird nicht nur übertrieben,
sondern auch falsch eingeschätzt. Wenn Sie sich die sogenannte horizontale
Proliferation anschauen, das heißt, neue Staaten, andere Staaten, zusätzliche
Staaten schaffen sich Raketen oder schaffen sich Nuklearwaffen an.
Wenn Sie sich diesen Trend anschauen, dann haben wir etwas positives zu
verzeichnen. Libyen ist weg als Problemfaktor. Der Irak ist weg. Sie haben
letztlich im Moment nur den Iran, der Probleme bereitet. Aber insgesamt gesehen
können wir uns doch relativ gelassen zurücklehnen. Die Welt ist in diesem
Bereich nicht so schlecht, wie sie oft gemacht wird.
Flocken: Sie sagen, wir können uns gelassen zurücklehnen. Die Befürworter
der Raketenabwehr sehen das natürlich anders, gerade mit Blick auf den Iran.
Kubbig: Sie sehen es anders, aber der Iran ist das einzige Land, das weit und
breit als Problem geblieben ist. Es gibt kein neues Land, so weit ich sehen
kann auf der Liste. Und hier ist die Frage, warum kann man mit dem Iran, ein
Land von insgesamt 195 oder 190 UN-Mitgliedstaaten, warum kann man mit
dem Regime in Teheran nicht auf effektivere und weniger kostspielige Weise
produktiv umgehen, etwa durch Diplomatie? Und hier sehen wir ja auch, dass
die Obama-Administration plant, direkte Gespräche mit Teheran in Gang zu
bringen. Hier sehe ich viel mehr Erfolgs-Chancen, als durch eine bisher nicht
ausreichend getestete Raketentechnologie, die zudem sehr teuer ist.
Flocken: Russland sieht die geplante Raketenabwehr in Osteuropa, so wie sie
jetzt geplant ist, als eine Bedrohung für die eigene Sicherheit. Zu Recht?
Kubbig: Ich habe dieses Argument nie verstanden. Ich finde es wird von Seiten
der Russen überzeichnet. 10 Abfangflugkörper für sich genommen sind keine
Bedrohung der russischen Nuklearstreitkräfte. Allerdings wurde ja von amerikanischer
oder polnischer Seite nie gesagt, dass es bei diesen 10 Interzeptoren-
Abfangflugkörpern bleiben soll. Wenn hier also die Bush-Administration
aufgestockt hätte, oder die Obama-Administration aufstockt, dann wird das sicherlich
ein Problem für Moskau werden.
Flocken: Moskau ist ja gegen die US Raketenabwehrpläne. Russland hat aber
vor anderthalb Jahren bereits angeboten, eine gemeinsame Raketenabwehr
aufzubauen - mit den USA, aber auch mit den Europäern. Bei Bush fand dieser
Vorschlag keine große Resonanz. Nach der Präsidentenwahl hat Moskau jetzt
erneut eine gemeinsame Raketenabwehr vorgeschlagen und auch Präsident
Obama hat eine Kooperation angeboten. Wäre das alles ein gangbarer Weg
zur Entschärfung des Streites zwischen Russland und den USA in Sachen Raketenabwehr?
Kubbig: Ich bin skeptisch. Und zwar auf Grund der Vergangenheit. Diese Kooperationsangebote
hat es in den letzten 17, 20 Jahren seit dem Fall der Mauer
und bereits während des Kalten Krieges immer gegeben. Aber ich sehe drei
große Hindernisse der Zusammenarbeit zwischen Ost und West bei der Raketenabwehr.
Das erste ist ein politisches. Man traut den Russen letztlich doch
nicht. Und man ist im Westen nicht ganz einig: will man sie wirklich im Boot
haben? Richtig im Boot haben oder nur halb im Boot haben? Ein politisches
Hindernis ist aber auch, dass die Russen selbst doch oft zweifelhafte Signale
geben. Außerdem ist ihre Position, wohin sie denn gegenüber dem Westen
eigentlich wollen, nicht ganz klar. Die zweite Hürde der Zusammenarbeit ist
technologischer Art. Und das heißt, die Überlegenheit gerade auch der USA ist
im Bereich der Raketenabwehr ganz deutlich. Und die USA sind nun mal bekannt
dafür, dass sie sich ungern in die technologischen Karten schauen lassen
und viel Geheimniskrämerei betreiben. Und der dritte und vielleicht wichtigste
Punkt ist, dass es große Rivalitäten gibt. Die Russen sind ja im Bereich
der Raketenabwehr ebenfalls aktiv, gerade bei der Abwehr taktischer Waffen.
Also ich denke, für die Zusammenarbeit ist die Raketenabwehr kein gutes Feld.
Flocken: In diesem Jahr läuft der START-Vertrag aus. Angestrebt wird eine
Folgevereinbarung. Eine eventuelle drastische Reduzierung der strategischen
Atomwaffen: hätte ein solcher Schritt nicht auch Auswirkungen auf das Raketenabwehrprojekt
der Amerikaner, insbesondere in Osteuropa? Denn die Angst
der Russen könnte sich ja verstärken, da diese Abwehrraketen in Osteuropa
dann die Zweitschlagfähigkeit oder die Vergeltungsfähigkeit der Russen in Frage
stellen.
Kubbig: Diese Ängste wird es sicherlich geben. Ich denke aber, dass das, was
ich aus Moskau gehört habe, durchaus heißt, dass man einem Vertrag, einer
vertraglichen Regelung, trotzdem sehr wohl zugeneigt ist.
Flocken: Die Nato plant ebenfalls eine Raketenabwehr, allerdings nicht im globalen
Maßstab wie die Amerikaner. Inwiefern wäre dieses Abwehrsystem der
NATO von einem möglichen Stopp oder von Veränderungen der USRaketenabwehrplanungen
betroffen? Wie hängen die beiden Systeme überhaupt
zusammen?
Kubbig: Die hängen zusammen, weil das Problem der NATO ist, wie sie ihr
eigenes Gebiet, aber auch die Randlage, gerade in der Türkei, gegen iranischen
Raketen schützen kann. Und hier liegt jetzt die Verbindung zwischen
den amerikanischen und den NATO-Programmen. Die USA sind die einzigen,
die in der Lage sind, die sogenannten THAAD-Raketen aufzustellen. Das sind
Abwehrsysteme, die vor Raketen mit einer Reichweite von bis zu 3000 Kilometer
schützen sollen. Die Verbindung ist auch dort gegeben, wo man sich von
NATO-Seite derweil dazu durchringen will, die Abwehrsysteme, die es bereits
gibt, etwa die Patriot in Deutschland oder die Aster in Frankreich, zusammen
bündelt, und an der Peripherie aufstellt, um gegen iranische Raketen gewappnet
zu sein. Es gibt keine Verbindung zwischen diesen Systemen, zwischen
diesen Vorstellungen und dem, was die Amerikaner in Polen vorhaben. Denn,
das was dort aufgestellt werden sollte oder soll, schützt nicht gegen iranische
Kurz- und Mittelstreckenraketen, sondern nur gegen Langstreckenraketen, die das Territorium der USA treffen sollen. Insofern gibt es hier keine Verbindung.
Flocken: Wie schätzen Sie das ein: Wann wird es eine Entscheidung geben,
wie es mit der US-Raketenabwehr weitergeht - insbesondere mit der US-Raketenabwehr in Osteuropa?
Kubbig: Also diese Überprüfungen brauchen Zeit. Die brauchen manchmal bis zu einem Jahr Zeit. Aber es gibt ja, das sage ich jetzt mit aller Vorsicht, bereits
Signale aus Washington. Verteidigungsminister Gates war jetzt in Krakau, und er hat vom Einfrieren gesprochen. Das heißt, hier gibt es klare Signale, dass man offensichtlich bereit ist, zunächst die Aufstellung in Polen und auch in Tschechien zumindestens auszusetzen, wenn nicht sogar ganz zu kippen.
Flocken: Europa, so der Eindruck hält sich in der Raketenabwehr eigentlich eher zurück, auch die Bundesregierung. Gleichzeitig unterstützen die Europäer aber in der NATO die US-Pläne einer Raketenabwehr. Wie sehen Sie die deutsche Haltung?
Kubbig: Die deutsche Haltung ist leider nicht so klar wie die französische. Sarkozy
hat vom Einfrier-Vorschlag für Europa gesprochen, mit Blick auf die Raketenabwehrsysteme.
Die deutsche Position ist im Prinzip auch sehr, sehr vorsichtig,
auch sehr skeptisch, gerade was die technologische Machbarkeit anbelangt.
Aber sie ist leider nach außen nicht so klar. Das hat wahrscheinlich damit
zu tun, dass Bundeskanzleramt und Außenministerium und Verteidigungsministerium doch in Nuancen unterschiedlicher Meinung sind. Es wäre sehr schön, wenn das Wahljahr 2009 mehr Klarheit bringen würde, die den Kern des Skeptizismus auch nach außen tragen würde.
Quelle: NDR Info; STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN; 07.03.2009; www.ndrinfo.de
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