NATO-Raketen in Ost-Europa:
für oder gegen die Europäische Union?
Von Kai Ehlers, Hamburg
Erstaunliches geschieht auf der Bühne der globalen Politik: Die USA wollen, so erklären sie, die Europäische Union und sich selbst durch das Aufstellen neuer Abfangraketen in Polen und eines dazu gehörigen Radarleitsystems in Tschechien gegen Angriffe aus dem Iran und aus Nord-Korea schützen. Ab 2011 soll die Anlage einsatzbereit sein. Russland fühlt sich bedroht und protestiert; von Ferne grollt China. Die Regierungen Polens und Tschechiens dagegen wollen zustimmen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung beider Länder gegen die Stationierung ist.
Von der Gefahr eines neuen Wettrüstens ist die Rede, von einer drohenden Neuauflage des kalten Krieges, der die Welt gar in heiße Kriege ziehen könnte. Die deutsche Regierung wiegelt ab, Brüssel hält sich bedeckt. Die Reaktion ist verständlich, denn zwar bündeln sich mehrere Konfliktlinien in diesem Antrag der USA auf Stationierung von Raketen im ost-europäischen Raum in gefährlicher Weise, aber eines kann man mit Sicherheit ausschließen, nämlich, dass die Stationierung von NATO-Raketen in Polen und der tschechischen Republik das Ziel haben könnte, die EU vor möglichen Angriffen aus dem Iran oder Korea zu schützen, ganz zu schweigen von den USA. Ein einfacher Blick auf den Globus reicht, um dies zu verstehen, wenn man weiß, dass weder der Iran noch Korea über Raketen verfügen, welche die in Frage kommenden Strecken zu überwinden imstande wären. Das wird auch durch Erklärungen wie des CDU-Militärexperten von Klaeden nicht anders, Iran und Korea blieben ja sicherlich „nicht faul“ und daher müsse man damit rechnen, dass sie bis zur Fertigstellung der Anlagen 2011 zu einem Bau von Fernraketen in der Lage sein könnten. Diese Begründung wendet sich gegen sich selbst, denn so wie sich iranische, koreanische oder sonstige „Schurken“-Technik bis 2011 verändern kann, so kann es selbstverständlich auch eine NATO-eigene Anlage. Was heute technisch nicht möglich ist, kann es morgen sein. Alle Versicherungen Washingtons, die Raketen seien schon rein technisch nicht gegen Russland einsetzbar, sind damit von vornherein Makulatur – und jeder weiß es.
Worum also geht es, wenn es das öffentlich angegebene Ziel des Schutzes für die EU nur vorgetäuscht ist? Da wäre zunächst auf die langfristige Eigendynamik der US-Rüstung zu verweisen. Zwar nahmen die USA nach dem Ende des Kalten Krieges Abstand von der 1983 durch Ronald Reagan begründeten „strategischen Verteidigungsinitiative“ (SDI), im Volksmund Starwar-Programm genannt; in der Folge rüsteten sie jedoch nicht etwa ab, sie rüsteten lediglich um: Das Star-War-Programm wurde Schritt für Schritt in ein land- und seegestütztes System von Raketenbasen überführt, in das seit 1991 im Zuge der NATO-Erweiterung und der Umwidmung der NATO zu einer weltweit agierenden Organisation der „Friedenssicherung“ in zunehmendem Maße auch Länder des ehemaligen Warschauer Paktes, also der GUS wie auch Osteuropas einbezogen wurden. Erste Beschlüsse für dieses Programm wurden 1999 noch unter US-Präsident Clinton als „National Missile Defense Act“ vom US-Senat gefasst, von der Bush-Administration immer wieder, zuletzt 2006 noch einmal aktualisiert. Im Jahr 2015 sollen die weltweiten Stationierungen von Radarleitstationen abgeschlossen sein.
Parallel zu diesen Maßnahmen sagten sich die USA von allen wesentlichen internationalen Rüstungsbeschränkungen los, einschließlich des Atomwaffensperrvertrages.
Seit 1999 gehören Tschechien, Polen und Ungarn, seit 2004 Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Slowakei und Slowenien der NATO an, allerdings ohne Entscheidungsgewalt und ohne Bündnisverpflichtung. Der Ukraine, Moldawien, Georgien wurde die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, jedoch von der „Klärung ihrer Beziehungen zu Russland“ und ihren „strategischen Entscheidungen“ für den Westen abhängig gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist der US-Antrag an Polen und Tschechien, nun bitte Kooperationsbereitschaft zu zeigen, zwar ein neuer, aber kein überraschender Schritt.
In ein neues Stadium der Entwicklung kommen die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA: In der strategischen Konzeption der USA, wie sie von Sbigniew Brszezinski, Henry Kissinger und den Neo-konservativen Kräften hinter ihnen ausgearbeitet und von der Bush-Regierung umzusetzen versucht wurde, war Europa die Funktion eines “Brückenkopfes“ für die Beherrschung Euroasiens, insonderheit der Niederhaltung Russlands durch die USA zugedacht. Als zweiter Brückenkopf auf asiatischer Seite gilt Japan.
Der Fall des eisernen Vorhangs, die schrittweise Erweiterung der EU bis an die Grenzen Weißrusslands, Moldawiens und der Ukraine, die Entwicklung der „Strategischen Partnerschaft“ zwischen EU und Russland, die in den Jahren, besonders von Deutschland ausgehend, in eine immer enger werdende Energiepartnerschaft zu münden scheint, die Einführung des Euro, sowie die Entwicklung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft als eigener Block in der veränderten NATO haben das Kräfteverhältnis zwischen den USA und der EU soweit verschoben, daß die EU heute aus der Rolle des „Brückenkopfes“ herauszutreten beginnt. Der Euro tritt inzwischen in ernsthafte Konkurrenz zum Dollar als Öl-Währung; die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist, obwohl immer noch mit der NATO verwoben, in eigenen, von der NATO unabhängigen Einsätzen aktiv. Aus US-Sicht ist diese Entwicklung eine ernste Bedrohung.
Gleichzeitig hat die EU mit der Erweiterung um die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes historische Konflikte geerbt, die ihre Beziehungen zu Russland belasten. Hier liegt eine potentielle Bruchstelle zwischen „altem“ und „neuem“ Europa, zwischen russlandfreundlicher und russlandfeindlicher, das heißt zwischen US-bezogener oder US-kritischer Politik. Sie wird noch verstärkt durch die politisch instabilen Pufferzonen zwischen Russland und der EU. Das gibt den USA die Möglichkeit, mit ihrem Antrag auf diese Bruchstelle einzuwirken und so auf diesem Umweg über die neuen EU-Länder Polen und Tschechien zu versuchen, die Europäische Union wieder stärker an sich zu ziehen, nachdem die Frontlinie zwischen EU und Russland, einschließlich der NATO seit Bildung des NATO-Russland-Rates zunehmend zu verwischen schien.
Russland hat diesen Charakter der neuesten US-Intervention erkannt, wie aus Wladimir Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung klar hervorgeht. Er weist die geplante Erweiterung der NATO-Stützpunkte nach Polen und in die tschechische Republik als Aggression der USA und nicht etwa der EU zurück, obwohl Russland durchaus genügend Anlaß zu machtpolitischen Allüren der EU hat und diese bei anderen Gelegenheiten durchaus auch vorbringt. Auch die Kritik an der NATO führt Putin wesentlich als Kritik an den USA, nicht der EU. Diese Schwerpunktsetzung seiner Rede demonstriert das fundamentale Interesse Russlands an der strategischen Partnerschaft mit der EU. Dabei geht es Russland entgegen allen anders lautenden Kommentaren nicht um eine Wiederholung historischer „Achsen“, sondern um die Entwicklung einer multilateralen und kooperativen Völkerordnung, die den heutigen Kräfteverhältnissen entspricht. Das erkennbare neue Selbstbewusstsein Russlands erklärt zugleich, wogegen sich die aktuelle Intervention der USA richtet.
Bleibt schließlich noch darauf hinzuweisen, was nur einen Monat vor dem Vorstoß der USA nach Polen und in die tschechische Republik in China geschah: Am 12.1.2007 wurde in Xichang im Südwesten des Landes eine Rakete gestartet, mit welcher der in ca. 860 Kilometer Höhe fliegende Satellit Fengyun.1C des chinesischen Wetterdienstes zerstört wurde. Der Abschuss war ein erfolgreicher Test. China ist damit nach der Einstellung von Versuchen mit „Satellitenkillern“, wie sie im Rahmen des SDI-Programms vorgenommen wurden und vergeblichen US-Ansätzen, solche Vehikel vom Boden aus zu steuern, das erste Land der Welt, das Satelliten vom Boden aus abschießen kann. Die USA fühlen sich herausgefordert. Die militärischen Satelliten der USA bewegen sich auf der gleichen Höhe wie der abgeschossene chinesische Wetter-Satellit. Als US-Präsident Bush 2006 seine neue Weltraumstrategie vorstellte, hatte er erklärt, man behalte sich das Recht völliger Handlungsfreiheit im All vor und werde dazu „gegnerischen Staaten“ den Zugangs ins All nötigenfalls verweigern, sofern nationale Interessen der USA bedroht würden. Mit dem Test hat China das von den USA beanspruchte Monopol auf Herrschaft im Weltraum gebrochen.
Angesichts des skizzierten Auftretens von Konkurrenten für die USA, vor dem Hintergrund ihrer sich abzeichnenden Niederlage im arabischen Raum, der immer offensichtlicher hervortretenden Krise des Dollars als Leitwährung für das Öl und des katastrophalen Imageverlustes der USA als globaler Leitkultur ist die Anfrage an die osteuropäischen Mitglieder der NATO Polen und Tschechien daher weniger als reale aktuelle Bedrohung Russlands zu werten, wenn auch als politische Provokation, mehr jedoch als der Versuch, Europa wieder enger an die USA zu binden, zumindest aber die Partnerschaft zwischen Russland und der EU zu erschweren, wenn nicht gar zu zerstören. Die tatsächliche Einrichtung der angekündigten Stützpunkte ist demgegenüber ganz offensichtlich verhandelbar, wie die Reise des US-Verteidigungsministers Robert Gates nach Moskau, wie die intensiven Verhandlungen im NATO-Russland-Rat, wie die emsigen Gespräche der europäischen Innen- und Verteidigungs-Minister zeigen. Dies alles geschieht nach der Rede Putins auf der NATO-Sicherheitskonferenz, in der er den US-Vorstoß zurückwies. Diese Gespräche werden geführt, obwohl seit zwei Wochen fast kein Tag ohne scharfe Erklärungen aus Washington und Moskau vergeht und auch wenn Moskau mit dem Ausstieg aus dem Vertrag über den Abbau von Mittelstreckenraketen droht, der 1987 von Reagan und Gorbatschow unterzeichnet wurde. Selbst wenn der Chef der russischen strategischen Raketentruppen, drohte, man werde die neuen US-Basen in osteuropäischen Ländern "ins Visier" nehmen und jetzt von neuen Raketen die Rede ist, die eingerichtet würden, so steht dem Putins Aussage entgegen, man werde sich kein Wettrüsten aufzwingen lassen.
In dieselbe Richtung weisen die Debatten in Polen und der tschechischen Republik, in denen trotz Zusagen seitens der Regierungen noch lange nicht ausgemacht ist, ob die Länder dem US-Verlangen zustimmen werden oder nicht. Zuviel könnte auf dem Spiel stehen, heißt es in den Kritiken an den Regierungsverlautbarungen, wenn man sich zwischen die Frontlinien begebe. Die entscheidende Frage, um die es zur Zeit geht, lautet deshalb nicht, vielleicht man sollte besser sagen, noch nicht: Neuer Rüstungswettlauf, neuer „kalter Krieg“ ja oder nein, erst recht nicht Ausweitung des „Vierten Weltkriegs“ der USA auf eine heiße Konfrontation mit Russland oder China. Sie lautet vielmehr, dies aber mit aller Schärfe: Wo steht Europa heute im Kontext der neuen Weltmächte? Wo stellt es sich auf? Ist es bereit, weiter einen „Brückenkopf“ für die Aufrechterhaltung des US-Anspruchs auf globale Alleinherrschaft abzugeben oder emanzipiert es sich – gemeinsam mit den von Putin in seiner Rede genannten BRIC-Mächten, also Lateinamerika, Russland, Indien, China - auf dem Weg in eine Völkerordnung, die den neu herangewachsenen globalen Kräfteverhältnissen entspricht?
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