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Clinton vertagt Raketenpläne

Erster Erfolg für Rüstungsgegner - Aber keine Entwarnung

Am 1. September - in Deutschland wird der Antikriegstag zum Gedenkn an den Beginn des 2. Weltkriegs begangen - gibt US-Präsident Clinton überraschend bekannt, er werde bis zum Ende seiner Amtszeit keine Entscheidung mehr über erste Arbeiten zur Stationierung des umstrittenen und nationalen Raketenabwehrprojekts treffen. Damit hängt NMD (National Missile Defense) mindestens bis zum Einzug des neuen Präsidenten in das Weiße Haus im Januar 2001 in der Luft. Fraglich ist außerdem, ob das Raketensystem wie ursprünglich geplant im Jahr 2005 einsatzbereit sein kann - selbst wenn Clintons Nachfolger sich sofort nach Amtsantritt für die Stationierung entscheiden würde. Nach Clintons Worten werde NMD nicht vor 2006 oder 2007 einsatzbereit sein.

Clinton gab seine Entscheidung in einer Rede in der Georgetown Universität in Washington mit den Woten bekannt: "Ich habe entschieden, zu diesem Zeitpunkt nicht über eine Stationierung des Systems zu entscheiden". Allerdings sollten die Entwicklungsarbeiten planmäßig und mit Hochdruck fortgesetzt werden. Es sei unabdingbar den Aufbau eines Abwehrsystems aufzubauen, da die Raketenbedrohung der USA durch so genannte Risikostaaten (states of concern) oder terroristische Gruppen real sei und zunehme. Die Technologie sei nach Clinton vielversprechend, sie sei nur noch nicht ausreichend erprobt. Clinton sagte weiter, er habe seinen Verteidigungsminister William Cohen angewiesen, "ein robustes Entwicklungs- und Testprogramm fortzusetzen".

Zuletzt hatte NMD mit einem fehlgeschlagenen Raketentest im Juli einen herben Rückschlag erlitten. Sowohl die Arbeiten am sogenannten "kill vehikel", das angreifende Interkontinental-Raketen im Weltall abfangen soll, als auch an der Antriebstechnik liegen hinter dem Zeitplan zurück.

In Washington hatten führende Republikaner, aber auch einzelne demokratische Politiker den Präsidenten aufgefordert, nicht mehr über NMD zu entscheiden. Während der Bewerber der Demokraten, Al Gore, ebenso wie Clinton nur eine begrenzte Abwehr von rund 100 Abfangraketen befürwortet, plädiert der republikanische Kandidat George W. Bush für eine "robustere" Variante.

Russland und China lehnen das System ab. Moskau sieht darin eine Verletzung des ABM-Vertrags von 1972, der den Aufbau eines umfassenderen Raketenabwehrsystems verbietet. Kritik war aber auch von europäischen NATO-Partner und aus Kanada laut geworden.

Das russische Verteidigungsministerium begrüßte die Erklärung von Clinton und wertete sie als "konstruktives Zeichen". Generaloberst Leonid Iwaschow schlug dem Nachfolger von Bill Clinton vor, die russisch-amerikanischen Gespräche auf Ebene von Militärexperten fortzusetzen. Zustimmung kam auch us dem NATO-Hauptquartier. NATO-Generalsekretär George Robertson sprach von iner "klugen Entscheidung". Die deutsche Bundesregierung reagierte mit "Verständnis und Anerkennung für die kluge Entscheidung von Präsident Clinton".

Angesichts des politischen Drucks und technologischer Probleme wurde bereits vor der Ankündigung des Präsidenten davon ausgegangen, dass Clinton lediglich erste Arbeiten zum Aufbau einer Radarstation auf den Aleuten-Inseln anordnet, nicht aber schon den Umfang des Systems festlegt. Nun will Clinton auch dies dem nächsten Präsidenten überlassen. Eine entsprechende Ausschreibung des Verteidigungsministerium sollte am 7. September enden und erste Verträge im Dezember unterzeichnet werden.

Bewertung
Bill Clinton hatte eine Entscheidung über das Raketenabwehrsystem immer von vier Faktoren abhängig gemacht: 1) den bestehenden Rüstungsabkommen, 2) den Kosten, 3) der Fortexistenz der Bedrohung von außen und 4) der technischen Machbarkeit.
  1. Über die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit mit dem ABM-Vertrag von 1972 wird unter US-amerikanischen Juristen gestritten. Die führenden Politiker der Demokraten sind der Auffassung, dass ihr Raketensystem sich an den Vertrag hält bzw. nur mit einer zu verhandelnden Nachbesserung kompatibel gemacht werden könne. Den Republikanern scheint der ABM-Vertrag relativ egal zu sein. Er wurde mit der früheren Sowjetunion unter weltpolitisch völlig anderen Bedingungen abgeschlossen und entspreche nicht mehr den Erfordernissen der Zeit.
  2. Die hohen Kosten (das Projekt wird auf ca. 60 Mrd. Dollar veranschlagt) schrecken die Amerikaner nicht. Wie auch, bei einem Rüstungs-Jahresetat von über 600 Mrd. Dollar!
  3. Was die Bedrohung von außen betrifft, so hat Clinton ausdrücklich festgestellt, dass sie nicht nur fortexistiere, sondern sogar zunehme. Dies sieht der republikanische Präsidentschaftskandidat George Bush jr. genauso. Der einzig Unterschied zwischen Clinton/Gore und Bush besteht darin, dass Clinton und sein Vize und Kandidat Gore seit Juni 2000 nicht mehr von "Schurkenstaaten" (rogue states) sprechen, sondern von "states of concern" ("Sorgenstaaten", "Risikostaaten"). Dagegen hält Bush an der alten Wortwahl fest. Für ihn bleiben Nordkorea, Libyen, Iran, Irak und - selbstverständlich - Kuba (die Liste ist jederzeit erweiterbar) "rogue nations".
  4. Bleibt als einziges Problem für die USA das technische Problem. Bei den bisherigen Tests hat es mehr Fehlschläge als Erfolge gegeben. Unter vielen Experten in aller Welt herrscht Skepsis über die Machbarkeit des Projekts im Sinne einer hundertprozentigen Sicherheit bei der Abwehr feindlicher Raketen.

Es ist bezeichnend für die US-Außenpolitik seit dem Ende der Blockkonfrontation und des bipolaren Kräftegleichgewichts, dass ein Kriterium überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird: der außenpolitische Schaden, den eine Entscheidung für das Raketenabwehrsystem anrichten würde. Dieser Schaden bestünde nicht nur in einer Abkühlung der Beziehungen zu Russland und China und nicht nur in einer Irritation der europäischen "Partner" oder Kanadas. Weit größerer Schaden würde entstehen durch eine neue Welle nuklearer und konventioneller Aufrüstung weltweit. Dies beträfe einmal die europäischen NATO-Staaten selbst, die entweder auch unter den "Schirm" des US-Raketenabwehrsystems kommen wollen (und dafür entsprechend bezahlen müssten!) oder ein eigenes System installieren müssten, um nicht selbst zur Geisel potenzieller Raketenangriffe aus "Risikostaaten" zu werden. Dies beträfe vor allem aber die offiziellen Nuklearmächte Russland und China, vielleicht auch die inoffiziellen Nuklearmächte Indien und Pakistan. Denn alle mit den USA nicht verbündeten Nuklerstaaten werden die US-Raketenabwehr verständlicherweise als gegen sie gerichtet betrachten. Die Schurkenstaaten-Phobie der US-Politiker wird also dort zu Recht als vorgeschobene Rhetorik betrachtet. Und die "Schurkenstaaten" selbst? Nun, wenn es sie denn gibt mit ihren finsteren Gedanken, dann werden sie in ihrem "terroristischen Drang" Mittel und Wege finden, die USA militärisch zu treffen, ohne ihre tödliche Fracht über Tausende von Kilometer anzukündigen. - Wie man es auch dreht und wendet: Die geplante Raketenabwehr NMD bringt nicht einmal den USA selbst mehr Sicherheit. Wohl aber stürzt sie die Welt in eine neue Aufrüstungsspirale.
Peter Strutynski

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