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Tätige Beihilfe Berlins

Mörderische Waffenbrüderschaft zwischen dem Kaiserreich und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg: Über die deutsche Unterstützung beim Völkermord an den Armeniern

Von Sevim Dagdelen *

Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke) hat am 26. April in der Christuskirche Bochum-Linden auf Einladung des Armenisch-Akademischen Vereins 1860 e.V. eine Rede zum Gedenken an die Opfer des Völkermords an den Armeniern gehalten, die wir im Folgenden auszugsweise dokumentieren.

Vor wenigen Tagen, am 24. April 2014, jährte sich der Völkermord an den Armeniern. 99 Jahre ist es her, daß mit der Deportation armenischer Politiker und Intellektueller aus Istanbul, auf Befehl des osmanischen Innenministers Mehmet Talat, diese grausame Tat begonnen wurde. Wir gedenken heute hier all der 1,5 Millionen Opfer dieses schrecklichen Verbrechens und verneigen uns vor ihnen in stiller Trauer.

Fast hundert Jahre sind vergangen seit jenem Tag. Kaum einer kennt noch die Namen der Deportierten. Haben wir je etwas von dem Schriftsteller Rupen Zartarian aus Diyarbakir, dem Dichter Yeruhan aus Istanbul oder dem Romanautor Dikran Chökürian aus Gümüshane gehört. Sie alle wurden auf schändliche Art und Weise ermordet. Ja, man kann sagen, mit ihnen wurde auch ein Teil der Kultur des Osmanischen Reiches, ein Teil der Kultur der Welt ausgelöscht.

Wer erinnert sich noch an die 20, zumeist jungen Aktivisten der Sozialdemokratischen Huntschak-Partei, die im Zuge des Völkermords an den Armeniern am 15. Juni 1915 im Stadtteil Sultanbeyazid in Istanbul durch Erhängen hingerichtet wurden. Wer weiß heute noch, daß diese Huntschak-Partei die erste sozialistische Partei im Osmanischen Reich war. Daß es ihre Aktivisten waren, die zum ersten Mal das Kommunistische Manifest am Bosporus herausgegeben haben.

Wenn wir heute des Völkermords an den Armeniern gedenken, geht es auch um eine Wiedergewinnung der Erinnerung an die Verschwundenen, eine Erinnerung an die Ausgelöschten. Eine Erinnerung an die in der Kemah-Schlucht-Ermordeten oder in der Wüste des heutigen Syrien zu Tode gebrachten. Diese Erinnerung ist so schwer, weil von Beginn an alles getan wurde, um diese unvorstellbare Tat vergessen zu machen.

»Unrühmliche Rolle«

Auch fast hundert Jahre nach den schrecklichen Massakern und Verfolgungen, wird der Völkermord an den Armeniern von Ankara immer noch bestritten. Die erstmalige Äußerung eines türkischen Ministerpräsidenten zum 24. April ändert daran nichts (siehe Spalte). Auch die Bundesregierung versucht weiter, die deutsche Mitverantwortung für den Völkermord zu relativieren. Das eigentliche Ausmaß, nicht nur des Völkermords, sondern auch der Beihilfe der deutschen Militärs und Politiker, ist in der deutschen Öffentlichkeit weithin unbekannt. Der Bundestag hatte sich 2005 in seiner Entschließung zur Erinnerung an die Vertreibung und Massaker an den Armeniern um die ganze Wahrheit herumgedrückt. Darin heißt es: »Der Bundestag bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Greuel zu stoppen.« Die historische Wahrheit läßt aber eine Festlegung der Rolle des Kaiserreiches auf eine unterlassene Hilfeleistung nicht zu. Mit Blick auf die mörderische Waffenbrüderschaft zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Seite alles getan, um den Völkermord zu decken.

1915 hatte Reichskanzler Bethmann Hollweg gegenüber österreichischen Bedenken geantwortet: »Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.« Daraus wird ersichtlich, daß Deutschland bereit war, den Völkermord zu billigen. Wichtig war allein die Waffenbrüderschaft mit dem Osmanischen Reich. Als Beispiel sei nur General Friedrich Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs im Großen Hauptquartier in Istanbul und damit oberster Kriegsplaner direkt nach dem Kriegsminister Enver Pascha, genannt. Bronsart von Schellendorf befürwortete nicht nur die Deportation der Armenier aus militärischer Notwendigkeit, sondern äußerte sich auch nach dem Krieg in übelster Form über die armenische Minderheit. In einem Brief von 1921 an das Auswärtige Amt schrieb er: »Der Armenier ist nämlich, wie der Jude, außerhalb seiner engeren Heimat ein Parasit, der sich von dem Marke des Fremdvolkes mästet, unter dem er seinen Wohnsitz aufschlägt. Alljährlich wandern zahlreiche Armenier aus ihrem Stammlande nach Kurdistan, um nach kurzer Zeit ganze kurdische Dörfer zu bewuchern und sich dienstbar zu machen. Daher der Haß, der sich oft in ganz mittelalterlicher Weise durch den Mord mißliebig gewordener Armenier entladen hat.«

Dazu taten 800 deutsche Offiziere und 25000 Soldaten im Osmanischen Reich Dienst, die sich auch aktiv am Völkermord an den Armeniern beteiligten. Diese Mitverantwortung Deutschlands zeigt sich auch in der Beantwortung der Kleinen Anfragen des späteren KPD-Gründers und damaligen USPD-Abgeordneten Karl Liebknecht im Januar 1916 im Reichstag. Liebknecht hatte als einziger Abgeordneter im Dezember 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt und trat mit seinen Anfragen, dem einzig verbliebenen parlamentarischen Instrument, das ihm ohne Zustimmung seiner ehemaligen SPD-Fraktion möglich war, im Reichstag auf, um die imperialistische Politik des Kaiserreichs zu beleuchten. Der Anfrage zu den Massakern an den Armeniern folgte eine zu deutschen Kriegsverbrechen an Zivilisten in den besetzten Ländern wie Belgien. Liebknecht fragte: »Ist dem Reichskanzler bekannt, daß während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Greuel zu verhindern?« Darauf antwortete Dr. von Stumm, Kaiserlicher Gesandter, Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Kommissar des Bundesrats: »Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, daß die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden.«

Liebknecht versuchte eine Ergänzungsfrage nachzuschieben: »Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen…« Diese wurde, ohne daß Liebknecht überhaupt zu Ende sprechen konnte, unter Beifall des Reichstags vom Präsidenten unterbunden. Nicht einmal die Frage sollte also gestellt werden können. Zu sehr war man sich einig, diese Verbrechen verschweigen zu müssen.

Liebknecht erklärte im nachhinein seine Handlungsstrategie wie folgt: »Die türkische Regierung hat ein furchtbares Gemetzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß davon – und in aller Welt macht man Deutschland verantwortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandieren. Nur in Deutschland weiß man nichts, weil die Presse geknebelt ist.«

»Pflicht zu Schweigen«

Das Vorgehen des Kaiserreichs war symptomatisch für spätere Vorgehensweisen, den Völkermord an den Armeniern zu leugnen bzw. zu relativieren. Wie der Sozialwissenschaftler Richard Albrecht recherchierte gab es im offiziellen »amtlichen Zensurbuch« des Kaiserreichs die »armenische Frage« betreffend, im Herbst/Winter 1915 zwei zentrale Hinweise. Erstens die Anweisung vom 7.10.1915: »Veröffentlichungen über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur«: »Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilig Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muß man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und später vorgeben, daß die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden.«

Zweitens am 23.12.1915: »Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen. […] Alle Ausführungen, die das Ansehen unserer türkischen Bundesgenossen irgendwie herabsetzen könnten, müssen vermieden werden […] Aufsätze über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur.«

Als Lehre aus den genannten Verbrechen fordere ich, keine weiteren deutschen Rüstungsexporte zu tätigen. Angesichts der Angriffe auf kurdische Enklaven, auf Kesab und die anderen armenischen Dörfer in Syrien durch islamistische Milizen, die auch von der Türkei aus operieren, muß die Waffenbrüderschaft mit dem Erdogan-Regime beendet und die Bundeswehr aus der Türkei abgezogen werden.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 29. April 2014 (Kommentar)


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