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Kein Knabbern am Kriegszwieback

Ein neues Buch des Historikers Kurt Pätzold, der am 3. Mai 85 Jahre alt wird

Von Arnold Schölzel *

Auf der ersten Seite des Auswahlbandes »Kein Platz an der Sonne. Hundert Jahre danach und wenig gelernt« von Kurt Pätzold wirbt der Verlag: Die deutsche Erinnerungsindustrie habe sich 2014 an den beiden Jahrestagen 75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkrieges und in weit stärkerem Maße am 100. der Herbeiführung des Ersten Weltkrieges abgearbeitet – mit der Tendenz zur Revision gesicherter Urteile, mit Verdrängung oder Unterschlagung von Tatsachen. Und weiter: »Wie ein Berserker, das sieht man allein an der Fülle der Beiträge, schrieb der marxistische Historiker Pätzold dagegen an.«

So ist es, läßt sich dazu sagen, mit der Ergänzung: Die Vokabel »Berserker« kann allein dem enormen Pensum gelten, zu dem auch der Band »1914: Das Ereignis und sein Nachleben« vom März 2014 zu zählen ist. Den Stil, in dem die 34 hier versammelten Artikel, Ausstellungs- und Buchrezensionen und die bilanzierenden Bemerkungen geschrieben sind, trifft das Wort »Berserker« nicht. Er ist zumeist gewohnt leicht, oft elegant, die Argumentation souverän mit Überblick über Stoff und Literatur.

Zum Pensum gehört aber auch das, was der Autor mündlich vorgetragen hat. Einige Referate nahm er in diesen Band auf, aber auch da wäre zu ergänzen: Einladungen führten ihn 2014 wieder in der Bundesrepublik in alle vier Himmelsrichtungen und nach Österreich. Er diskutierte in Schulen und auf Veranstaltungen meist linker Orientierung, sprach bei Stiftungen, auf Konferenzen, vor Wissenschaftlern, historisch Interessierten, kleinen Vereinen und großen Auditorien. Er ist eine Institution, die ihresgleichen hierzulande nicht kennt: Ein unermüdlicher Aufklärer in einer Zeit gezielt gestifteter Verwirrung, eines Irrationalismus, der als Gleichgültigkeit gegenüber wissenschaftlichen Ansprüchen daherkommt, mit plumpen Fälschungen in beachtlichen Größenordnungen und in akademischem Gewand.

Hier seien nur zwei Exempel aus diesem Band benannt, die den Sarkasmus des Autors herausforderten: Die Vorstellung, die der Deutsche Bundestag am 3. Juli 2014 bot, als er des Ersten Weltkrieges gedachte und einen Antrag der Linksfraktion, Karl Liebknecht zu ehren, zur Versenkung in einen Ausschuss überwies. Auch dort wurde die Erfindung, die der australisch-britische Historiker Chistopher Clark in seinem Buch »Die Schlafwandler« erfolgreich plaziert hatte, angeboten: Der Krieg ohne gesellschaftliche Ursachen. Entlastung von Schuld fanden schon 1914 die maßgeblichen Kriegsanstifter wichtig, »die als Täter nicht gelten wollten« (Pätzold). Seit 1999 hebt auch die Mehrheit des jetzigen deutschen Parlaments regelmäßig die Hand für Angriffskriege, die Rückführung von Krieg auf Somnambulismus erscheint da passend.

Die damit verbundene intellektuelle Beleidigung – Krieg ohne eingeschalteten Kopf – wird aber erst vollendet, wo sie Früchte trägt. Wer nicht Pätzolds kurze Glosse zu der Ausstellung des Stuttgarter Hauses der Geschichte »Fastnacht der Hölle – Der Erste Weltkrieg und die Sinne« gelesen hat, kennt den geistigen Zustand dieses Landes nur unzureichend. Laut Ankündigung der Museumsleiterin sollte die Schau »den Krieg fühlbar machen, seinen Geschmack und seinen Geruch«. Inbegriffen war »Knabbern am Kriegszwieback« (Pätzold), der nach Rezepten der Soldatenverpflegung von damals hergestellt wurde.

Über gesellschaftliche Ursachen von Krieg wird mehrheitlich nicht mehr gesprochen. Die Auseinandersetzung mit den Belegen dafür ist der rote Faden des Buches. Der Autor hebt hervor, dass das Gedenkjahr 2014 mit einem Ausdruck aus Österreich besser Bedenkjahr hätte heißen sollen. Kaum ein anderer Historiker kann für sich reklamieren, diesem Anspruch gerecht geworden zu sein. Am 3. Mai wird Kurt Pätzold 85 Jahre alt. jW dankt und gratuliert herzlich.

Kurt Pätzold: Kein Platz an der Sonne. Hundert Jahre danach und wenig gelernt. Verlag am Park, Berlin 2015, 235 Seiten, 14,99 Euro

* Aus: junge Welt, Samstag, 2. Mai 2015


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