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Eiserner Atem

Ende Oktober 1914 übernimmt deutsches Großkapital die »Verwaltung« der lothringischen Schwerindustrie. Die dortigen Eisenerzvorkommen sollten garantieren, Kriege bis 1960 zu führen

Von Reiner Zilkenat *

Am 27. August 1914 meldete die Vossische Zeitung triumphierend auf ihrer Titelseite: »Longwy von der Kronprinzen-Armee genommen«. Der Sieg der von Kronprinz Wilhelm und Generalleutnant Konstantin Schmidt von Knobelsdorff geführten 5. Armee in Lothringen war zu Recht der Aufmacher jenes Tages. Es sei »für das deutsche Volk ein verheißungsvolles Vorzeichen, dass es gerade der deutsche Kronprinz gewesen ist, der mit seiner Armee Deutsch-Lothringen vor dem französischen Einmarsch gesichert und im Sturmlauf Französisch-Lothringen hinzuerobert hat«. Mit diesen euphorischen Worten kommentierte Jakob Wilhelm Reichert, der Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, den Sieg des deutschen Heeres. Die Freude beim einflussreichsten Interessenverband der deutschen Schwerindustrie war verständlich. Schließlich ging es hier nicht allein um einen militärischen Erfolg gegen die französische Armee, sondern um einen für die gesamte deutsche Kriegswirtschaft entscheidenden Einschnitt.

Denn das lothringische Erzbecken von Longwy-Briey, vor allem im Department Meurthe et Moselle gelegen, barg gewaltige Vorkommen an Eisenerz. Es erstreckt sich westlich der Mosel über die lothringische Hochebene und reicht in seinen Ausläufern bis in den Süden Luxemburgs und Belgiens hinein. Von den insgesamt zirka 50.000 Hektar Abbaugebiet befanden sich bereits vor dem Kriege mehr als zwölf Prozent unter der Kontrolle bzw. unter dem Einfluss deutscher Konzerne. Teilweise waren sie am Aktienkapital französischer Montanunternehmen beteiligt, teilweise konnten sie, wie die Firma August Thyssen, vom französischen Staat exklusive Konzessionen zum Abbau der Eisenerze erhalten. Bei den deutschen Unternehmen handelte es sich unter anderem um die Gelsenkirchener Bergwerks-AG (Generaldirektor: Emil Kirdorf), die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks-Gesellschaft (Stinnes-Konzern), die Dillinger Hütten-Werke (Stumm-Konzern) und die Konzerne der Unternehmerfamilien Röchling und Thyssen. Einige der mit deutschen Kapitalbeteiligungen ausgestatteten französischen Firmen hielten ihrerseits Beteiligungen an deutschen Unternehmen, die in Lothringen engagiert waren.

Die Versorgung der deutschen Industrie mit dem lothringischen Minette war dringend vonnöten. 1912 importierte das Deutsche Reich als der weltweit zweitgrößte Produzent von Eisen und Stahl immerhin 50 Prozent dieses benötigten Eisenerzes; das entsprach einer Menge von zirka zwölf Millionen Tonnen im Werte von 200 Millionen Mark. Die Berechnungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermittelten folgende Perspektiven: Während die eigenen Vorräte im Jahre 1973 erschöpft sein würden, könnten die lothringischen Vorkommen bis zum Jahr 2023 den deutschen Bedarf decken. Es kam hinzu, dass der Eisengehalt der in Lothringen abgebauten Minette mit 30 bis 35 Prozent deutlich über den entsprechenden Werten des in Deutschland gewonnenen Eisenerzes lag. Kurzum: Weder in der Friedens- und erst recht nicht in der Kriegswirtschaft wollte der deutsche Imperialismus auf das lothringische Erz als Rohstoffbasis verzichten. Als es darum ging, zu Beginn und im Verlauf des Ersten Weltkrieges die Planungen für Annexionen fremden Gebietes anzufertigen, stand das Becken von Longwy-Briey folgerichtig ganz oben auf der Agenda.

Vor dem Kriege vollzog sich der Import französischen Eisenerzes nach Deutschland (und im Gegenzug der Export deutscher Steinkohle nach Frankreich) weitgehend reibungslos. Doch bereits in den ersten Kriegszieldenkschriften von 1914 orientierten die Reichsleitung und führende Exponenten des Großkapitals auf die gewaltsame und dauerhafte Eingliederung Lothringens in das Deutsche Reich.

Als Erster meldete sich bereits am 28. August, zwei Tage nach dem »Sieg von Longwy«, kein Geringerer als August Thyssen zu Wort. Seine Kriegszieldenkschrift ließ er dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg über den Reichstagsabgeordneten des Zentrums und späteren Reichsfinanzminister, Matthias Erzberger, zuleiten. Darin finden sich die folgenden Formulierungen: »Mit der Einverleibung der Departements Meurthe und Moselle würde Deutschland in den Besitz der mächtigen französischen Minette-Vorkommen gelangen, deren Bestand man auf mindestens drei Milliarden Tonnen schätzt.« In der berühmten »September-Denkschrift« des Reichskanzlers zu den deutschen Kriegszielen (siehe jW vom 9.9.2014) hieß es nur wenige Wochen später kurz und bündig: »In jedem Falle abzutreten, weil für die Erzgewinnung unserer Industrie nötig, ist das Erzbecken von Briey.« Die Forderung nach Annexion von Longwy-Briey blieb bei allen maßgeblichen Politkern und Militärs sowie den Vertretern des Großkapitals eine Konstante der deutschen Kriegszielplanungen bis kurz vor dem Waffenstillstand im November 1918.

Der »Ständige Industrielle Beirat«

Etwas weniger gut plaziert als die Nachricht vom militärischen Erfolg der »Kronprinzen-Armee«, lediglich auf der zweiten Seite der Vossischen Zeitung kurz mitgeteilt, ist die Meldung vom 31. Oktober 1914 über die Bildung eines »Ständigen Industriellen Beirates« zur »Beratung« des militärischen Gouverneurs der Festung Metz und Armeekorpskommandanten, des Generals der Infanterie Adolf von Oven, für die Verwaltung des Erzbeckens von Longwy-Briey. Die Anordnung zur Bildung dieses Beirates stammte von Reichskanzler von Bethmann Hollweg persönlich. Es handelte sich bei diesem »Beirat« um eines der zahlreichen Gremien, die eigens für die Organisierung der Kriegswirtschaft geschaffen wurden. Charakteristisch war, dass in ihnen sowohl Vertreter des Großkapitals als auch des Militärs und der zivilen Verwaltungen vertreten waren. Im Kern handelte es sich dabei um neue Formen der direkten Beeinflussung wirtschaftspolitischer Entscheidungen und ihrer Durchsetzung durch Exponenten der Monopole – im Grunde die durch den Krieg beschleunigte Entwicklung staatsmonopolistischer Strukturen.

Im Falle von Longwy-Briey lohnt es, sich die personelle Zusammensetzung des »Ständigen Industriellen Beirates«, dem sieben Personen angehörten, genauer anzuschauen: Peter Klöckner, einer der Magnaten der deutschen Schwerindustrie, war Inhaber der gleichnamigen Firma mit Sitz in Duisburg. Bereits vor dem Krieg hatte er im Lothringischen die Erzfördergesellschaft Murville seinem Konzern angegliedert. Klöckner hatte bereits frühzeitig einen vertikalen Konzern mit Bergwerken, Hütten- und Walzerzeugnissen aufgebaut und sich überdies im Eisenhandel eine international führende Position verschafft. Nach dem Krieg verlor er seine nunmehr in Frankreich liegenden Unternehmen.

Generalleutnant a.D. Conrad von Schubert scheint auf den ersten Blick nicht in diesen Kreis zu passen. Die Biographie dieses Militärs widerlegt das. Seit 1903 gehörte er dem Preußischen Abgeordnetenhaus an, von 1907 bis 1912 war er als Hospitant der Nationalliberalen Partei Mitglied des Reichstages. Vor allem aber fiel sein verwandtschaftliches Verhältnis zur saarländischen Großindustriellen-Familie der Freiherrn von Stumm ins Gewicht. Als Schwiegersohn des »Scheichs von Saarabien«, Karl Friedrich Freiherr von Stumm-Halberg, hatte er nach seiner Verabschiedung aus dem preußischen Militär schnell den Zugang zu leitenden Positionen in der Privatwirtschaft und zu den industriellen Interessenverbänden gefunden. So war er zum Beispiel Mitglied des Ausschusses des Centralverbandes Deutscher Industrieller und der Aufsichtsräte der Dillinger Hüttenwerke AG und der Gebrüder Stumm GmbH. Verschwägert war er mit Wilhelm von Stumm, dem Leiter der Politischen Abteilung und späteren Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes, einem der Scharfmacher in der Juli-Krise 1914.

Als Dritter im Bunde sei Georg Frielinghaus genannt, Direktionsmitglied der Alfred Krupp AG, seit 1898 oberster Leiter aller Kohle- und Erzgruben dieses größten deutschen Konzerns. Zuvor hatte er Erfahrungen in der Kolonialwirtschaft in Deutsch-Südwestafrika gesammelt. Mit Friedrich Springorum ist ein weiterer Spitzenvertreter der deutschen Schwerindustrie im Industriellen Beirat präsent. Springorum, Generaldirektor der Eisen- und Stahlwerke Hoesch in Dortmund, war von Kaiser Wilhelm II. wegen seiner »Verdienste« um die preußische Monarchie zum Mitglied des Herrenhauses berufen worden. Seine Beiratskollegen Klöckner und Kirdorf traf er damals übrigens auch im Aufsichtsrat der Deutschen Bank, dem alle drei lange Jahre angehörten. In einer derart prominenten Runde fehlte auch Emil Kirdorf nicht, der Generaldirektor des größten europäischen Bergbau-Unternehmens, der Gelsenkirchener Bergwerks AG. Kirdorf war einer der Gründer, einflussreiches Mitglied und Finanzier des Alldeutschen Verbandes. Wie kaum ein anderer Großindustrieller trat er bis »fünf Minuten nach zwölf« für einen sogenannten deutschen Siegfrieden ein, der möglichst groß dimensionierte Annexionen in Nordfrankreich und Belgien im Westen sowie die Ukraine, die russischen Ostseeprovinzen und den Kaukasus im Osten des Kontinents nach sich ziehen sollte. Mittelständische Interessen schien offenbar Karl Wilhelm von Oswald zu vertreten, der Aufsichtsratsvorsitzender der Rombacher und der Moselhütte sowie Vorstandsmitglied des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller war.

Zu guter Letzt sei Louis Röchling genannt, seit 1890 Teilhaber und seit 1892 kaufmännischer Direktor der Gebrüder Röchling oHG in Völklingen, der bedeutendste Konkurrent des Hauses von Stumm an der Saar. Röchling verwaltete auch die bereits seit 1862 im Firmenbesitz befindlichen Anteile an der Hütte in Pont-à-Mousson, gelegen im Department Meurthe-et-Moselle. In Berlin koordinierte er mit Kriegsbeginn beim »Reichskommissar für die Übergangswirtschaft« die Bewirtschaftung mit Mangan- und Eisenerzen. Auch er verlor wie Peter Klöckner seine Unternehmen im seit 1919 wieder zu Frankreich gehörenden Lothringen.

Die wichtigste Aufgabe dieses Beirates, die Sicherstellung der Eisenerzförderung zu gewährleisten und die entsprechenden Gruben möglichst schnell und reibungslos in die deutsche Kriegswirtschaft einzugliedern, gelang offenbar ohne Schwierigkeiten. Schließlich kannten sich die hier versammelten Vertreter des deutschen Großkapitals aus eigener Erfahrung in Friedenszeiten bestens mit den Gegebenheiten des Erzabbaus in Lothringen aus. Fast von selbst versteht es sich, dass die auf Vorrat liegenden, bereits geförderten Erze, die nach der Eroberung von Longwy-Briey aufgefunden werden konnten, sogleich nach Deutschland abtransportiert wurden. Louis Röchling bezifferte sie auf einer Sitzung des Hauptvorstandes des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller auf »einige Hunderttausende Tonnen«. Rettung in künftigen Kriegen

Welche herausragende Bedeutung das Erzbecken von Longwy-Briey in den Augen der deutschen Großindustriellen besaß, besonders für die Herren von Rhein, Ruhr und Saar, erhellen diverse Denkschriften und die damals in vertraulicher Runde im Berliner Nobelhotel Adlon tagenden Gremien des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VDEStI). Am 8. Dezember 1917 bilanzierte der Hauptvorstand dieses Verbandes auf einer internen Sitzung einige der bisher erzielten Ergebnisse bei der Erzförderung in Longwy-Briey. 1915 und 1916 seine jeweils fünf Millionen Tonnen Eisenerz gefördert worden, in den ersten zehn Monaten des Jahres 1917 bereits 4,2 Millionen Tonnen. Allein im November dieses Jahres seien voraussichtlich mehr als 550.000 Tonnen nach Deutschland abtransportiert worden. Albert Vögler, Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten AG, sprach erfreut von einem »Rekord«.

Allerdings musste auf der gleichen Sitzung ein »Abweichler« zur Räson gebracht werden. Der Generaldirektor der Königs- und Laurahütte in Oberschlesien, Ewald Hilger, hatte nach Presseberichten auf der Aktionärsversammlung seines Unternehmens erklärt, eine Annexion des lothringischen Erzbeckens sei nicht notwendig. Statt dessen seien mit Frankreich nach dem Kriege »Nutzungsverträge« anzustreben, die deutschen Unternehmen ungehinderten Zugang zu den Eisenerzen von Longwy-Briey sichern würden. Die Franzosen – so Hilger – hätten sich schließlich vor dem Kriege als vertragstreu erwiesen und ihre Exportverpflichtungen gegenüber Deutschland stets erfüllt. Dies war ein für seine »Standesgenossen« nicht zu tolerierender Affront. Hilger wurde zum »Widerruf« veranlasst, seine Aussagen seien von der Presse »unrichtig« wiedergegeben worden. Der VDEStI bekräftigte bei dieser Gelegenheit seinen aus dem Vorjahr datierenden Beschluss, das Gebiet von Longwy-Briey sei »aus strategischen Gründen« zu annektieren. Eine undatierte, offenbar Ende 1917 angefertigte Denkschrift des VDEStI spricht Klartext: »Der Besitz und die Ausnutzung der lothringischen Minettefelder hat uns vor dem Untergang gerettet. Aus den französischen Gruben gewinnen wir soviel Eisen, dass wir daraus unsere gesamte Artilleriemunition herstellen können.«

Zugleich ist hier ein Thema angesprochen, das in immer neuen Varianten, allerdings zumeist hinter verschlossenen Türen, erörtert, immer wieder ins Zentrum der Erwägungen geriet: Die Bedeutung des Erzbeckens von Longwy-Briey für kommende Kriege. So heißt es in der Denkschrift: »Der Wert der einzuverleibenden Grenzgebiete ist für unsere wirtschaftliche Zukunft und vor allem für eine künftige Kriegführung unermesslich groß.« Das Eisenerz im okkupierten Teil Lothringens »wird uns auch in einem künftigen Kriege erretten.«

Eine schmale Broschüre, ebenfalls aus dem Jahr 1917 und von Reichert, von 1914 bis 1920 Leiter der Zentralstelle für Ausfuhrbewilligungen für Eisen- und Stahlerzeugnisse, verfasst, trägt den Titel »Was sind uns die Erzbecken von Briey und Longwy?« Darin heißt es in aller Deutlichkeit, »dass wir nach dem Jahre 1960 mit deutschem Eisen keinen solchen Krieg mehr führen können«. Und weiter: »Wir leben und atmen, weil wir unser Vaterland und unser Leben mit Lothringer Erzen verteidigen können. Briey und Longwy wird uns den Aufbau unserer Friedenswirtschaft gestatten und wird uns auch in einem etwaigen späteren Kriege vor der Vernichtung unserer Feinde schützen. Der Besitz von Longwy und Briey bedeutet nichts weniger als die Rettung unseres Vaterlandes.«

Franzosen »zurückgeben«

Zugleich wird ein Thema diskutiert, das bereits die spätere Praxis faschistischer Okkupationspolitik im Zweiten Weltkrieg anklingen lässt: Wie soll die endgültige Annexion dieser Gebiete genau vonstatten gehen? Kaiser Wilhelm II. hatte bereits frühzeitig den Gedanken geäußert, Teile Frankreichs und Belgiens »ohne Bevölkerung« zu annektieren, d. h. sie »freiwillig« oder durch die Ausübung von Druck nach Frankreich abzuschieben. Bevölkert werden sollten die betreffenden Gebiete besonders mit den Familien deutscher Soldaten.

Angesichts der als dauerhaft geplanten Annexion von Longwy-Briey wurden derartige Überlegungen weiter verfolgt. So formulierte Reichert in seiner bereits zitierten Broschüre aus dem Jahre 1917 unmissverständlich, dass die dort wohnende Bevölkerung an Frankreich »zurückgegeben« werden und durch deutsche Siedler ersetzt werden müsse. Auch in der ebenfalls angeführten Denkschrift des VDEStI vom gleichen Jahr ist von einer »Aussiedlung« der Franzosen aus Longwy-Briey die Rede. Klartext sprach der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, auf der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses am 28. August 1914: Für alle Gebiete, die in Frankreich annektiert werden, müsse gelten: »Frei von Menschen hat auch hier die Losung zu sein!« Das »auch« bezieht sich übrigens auf seine vorhergehende Aussage, dass bei den Annexionen im Zarenreich (die drei Ostseeprovinzen, die Gouvernements Suwalki, Kowno, Wilna und Witebsk) darauf geachtet werden müsse, »dass das gewonnene Land frei von Fremdblütigen zu machen sei«.

Das Protokoll enthält indes keinen Hinweis darauf, wie dieses »Freimachen« praktisch durchgeführt werden sollte. Der General der Infanterie a. D. Konstantin Freiherr von Gebsattel betonte auf der darauffolgenden Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses nur zwei Monate später, »dass die Forderung der Ausräumung fast die allerwichtigste unserer Forderungen darstellt. Niemand bezweifle, dass das deutsche Volk schwer an Landmangel litte, solle aber diesem abgeholfen werden, so müsse durch Ausräumung des Neulandes Platz für deutsche Siedlung geschaffen werden.« Als weitere Stimme sei ein Artikel der Zeitschrift Heimdall. Zeitschrift für reines Deutschtum zitiert, in der ihr Herausgeber Adolf Reinecke am »1. Hartung (Januar; R. Z.) 1915« forderte: »Wir müssen die Frankreich abgenommenen Gebiete ohne die jetzigen Bewohner unserem Reiche einfügen.« Großindustrielle Interessenverbände wie der VDEStI, der Alldeutsche Verband und deutschvölkische Publikationen sprachen bei diesem Thema offenbar mit einer Stimme. Noch 1917 schrieb Heinrich Claß in seiner Kriegszieldenkschrift, die in mehreren Auflagen in Zehntausenden Exemplaren gedruckt wurde: Es »bleibt nichts anderes übrig, als den französischen Boden dadurch tauglich zu machen, dass wir das Land ohne Bewohner erwerben, d. h. im Friedensvertrag mit Frankreich wäre auszumachen, dass dieses die Bewohner der abgetretenen Landstriche in sein verbleibendes Gebiet übernimmt, dort wiederum sesshaft macht und auf französische Kosten entschädigt.« Bei alledem blieb offen, mit welchen Methoden die »Ausräumung« der in Frankreich okkupierten Gebiete erfolgen sollte. Hätten die Führungen des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, des Alldeutschen Verbandes und anderer Befürworter derartiger Planungen vor der Anwendung massenhafter Gewalt zurückgeschreckt, wenn sie dies gekonnt hätten?

Letztlich »ein Wirtschaftskrieg«

Der deutsche Imperialismus führte den Ersten Weltkrieg, um die beherrschende europäische Großmacht zu werden und ein großes Kolonialgebiet in Afrika aufzurichten. Doch der »Griff nach der Weltmacht« misslang, weil am Ende die Kriegsziele nicht den vorhandenen Ressourcen entsprachen. Militärs, Großindustrielle und Politiker hatten die eigenen Kräfte bei weitem überschätzt. Auch die Okkupation des Erzbeckens von Longwy-Briey konnte keine Abhilfe schaffen. Millionen deutscher Soldaten wurden im Weltkrieg auch deshalb als »Kanonenfutter« verheizt, um die Kriegsziele der deutschen Großindustrie zu realisieren. So sei abschließend Heinrich Claß zitiert, der in der Denkschrift von 1917 schrieb, »dass dieser Kampf auf Leben und Tod am letzten Ende ein Wirtschaftskrieg ist«. Damals ging es vornehmlich um die Erzgruben in Longwy-Briey, die Mangan-Erze und das Getreide der Ukraine als notwendiger Rohstoffbasis zur Führung des Weltkrieges und – wie zu sehen war – für die fest eingeplanten, kommenden Kriege. Der Kampf des Imperialismus um den strategischen Rohstoff des 20. und 21. Jahrhunderts, das Erdöl, war noch nicht entbrannt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 29. Oktober 2014


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