Heldendank
Wie kam es zur Begeisterung von Millionen? Kurt Pätzold hat Propagandadarstellungen des Ersten Weltkriegs und deren Fortleben untersucht
Von Arnold Schölzel *
Es tut sich Erstaunliches: 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges stehen dickleibige Bücher über ihn an der Spitze von Beststellerlisten, finden Ausstellungen zur Kunst oder zum Alltag jener Zeit ein großes Publikum, veröffentlichen Tageszeitungen und Zeitschriften Serien und Beilagen zum Thema. In Frankreich oder Großbritannien war breites öffentliches Interesse an diesem Krieg nie an Jahreszahlen gebunden, in Deutschland herrschte nach 1945 vor allem im Westteil generell Desinteresse vor. Die Spuren schreckten: Wer vom Ersten Weltkrieg reden will, kann von seinen Ursachen nicht schweigen – sollte man meinen.
Das war und ist, wie Kurt Pätzold in seinem Buch »1914. Das Ereignis und sein Nachleben« zeigt, in den deutschsprachigen Ländern aber der Fall. Heute zögen Geschichtsinterpreten, »eine aufsteigende Linie vom Jahre 1914 in unsere Tage, so daß der Weltkrieg mit der Erfahrung eines Menschenschlachthauses als Voraussetzung oder Grundsteinlegung für eine Entwicklung zu Demokratie, Menschenrechten, ganz allgemein zu Wohlbefinden erscheint«. Da interessieren Kausalitäten wenig.
Krieg als Kalkül
Pätzold stellt dieser Form von mißbräuchlicher Nutzung der Geschichtswissenschaft »eine andere Art des Erinnerns« entgegen und geht drei Fragen nach: Wie entstand dieser Krieg? Wie kam es zur Begeisterung von Millionen Menschen im August 1914? Wie gelang es, Millionen Menschen um die Lehren aus ihren Kriegserfahrungen zu betrügen?
Es ist hier nicht Raum, die Antworten des Autors im einzelnen darzulegen. Das Wesentliche ist Äußerungen von Friedrich Engels, Helmuth von Moltke und August Bebel zu entnehmen, die Pätzold seinem Buch vorangestellt hat: Sie warnten übereinstimmend davor, daß ein nächster europäischer Krieg ein Weltkrieg mit vernichtender, unbeherrschbarer Wirkung werde. Man hatte es also wissen können, denn sie waren nur die prominentesten Warner. Die Zweite Internationale und ihre führenden Theoretiker befaßten sich seit dem Ende der 1890er Jahre mit den imperialistischen Gründen für einen großen Krieg. Die umfangreiche damalige Literatur und die marxistischen Forschungen seit 1918 dazu haben allerdings nie eine Rolle in der Mainstreamliteratur gespielt.
Päzold zeigt, daß auch bei heutigen Historikern über der Beschäftigung mit dem Wie der Kriegsentstehung die Ursachen, »die nicht an Beratungstischen der Staatsmächtigen, sondern auf dem Boden von Gesellschaft und Staaten entstehen«, in den Hintergrund geraten: »Kriegsauslösung gilt als Kriegsverursachung«. Diese »Verwechslung« begünstige jene, für die Krieg fester Bestandteil ihres politischen Kalküls sei.
In den zwölf Abschnitten seines Buches untersucht Pätzold das Umgehen, Beschweigen, vor allem aber das Verfälschen der Kriegsursachen in Deutschland nach 1918. Dazu gehört an erster Stelle die Behauptung von der »Vaterlandsverteidigung«, die nicht nur konservative oder faschistische Kreise, sondern auch die SPD der Weimarer Republik aufrechterhielt. Der Autor zerpflückt kurz das Gerücht, die Legende vom »Dolchstoß in den Rücken« des deutschen Heeres habe ein englischer Militärfachmann aufgebracht. Pätzold verfolgt die Geschichte des Slogans »Im Felde unbesiegt« und widmet sich der Gedenkkultur zum Ersten Weltkrieg auf Friedhöfen, in Kirchen und im öffentlichen Raum. Die Otto-Weddigen- (U-Boot-Kommandant), Manfred-von-Richthofen- (Jagdflieger) oder Graf-von-Spee- (Admiral) Straßen und -Plätze finden sich in deutschen Kommunen zuhauf. Übertroffen wird alles aber nach wie vor durch die Würdigung des deutschen Militärdiktators seit 1916, General Paul von Hindenburg, der 1933 als Reichspräsident Adolf Hitler die Macht übergab, allein z.B. in den Hauptstädten deutscher Bundesländer wie Hannover, Mainz, Saarbrücken, Bremen und Berlin (München trennte sich 1946 von dem Namen). Am schönsten »bewältigt« das österreichische Bregenz die Geschichte: Dort gibt es seit 1926 eine »Heldendankstraße«.
Verdrängungsbegriffe
Pätzold wägt abschließend Sinnvolles und Manipulatives von Synonymen ab, die für den Ersten Weltkrieg gängig wurden: Urkatastrophe, Urknall, Dreißigjähriger Krieg, Epochenumbruch, »Zeitalter der Extreme« etc. Ihnen allen hafte ein »schwerwiegender Mangel« an: »Sie sagen nichts über das Wesen des Weltkrieges«. Das leiste die Bezeichnung »imperialistischer Krieg«, die weitgehend »in Vergessenheit gebracht« worden sei. Die angeführten Begriffe seien insofern an der Verdrängung klar zu benennender Kriegsziele beteiligt.
Der Bedarf an solcher Verschleierung ist angesichts der Kette imperialistischer Kriege seit 1990 wieder besonders groß, insofern ist manches von damals bei allen Veränderungen bis in die Gegenwart gültig. Das illustriert auch der äußerst lesenwerte Dokumentenanhang mit Kriegsbegeisterungslyrik und Antikriegsgedichten, vor allem aber mit den unsäglichen Dokumenten, in denen der deutsche und der österreichische Kaiser zu Kriegsbeginn ihre Unschuld beteuerten oder in denen sich z.B. im Herbst 1914 u.a. Max Planck, Wilhelm Röntgen, Wilhelm Ostwald, Gerhart und Carl Hauptmann und Max Reinhardt gegen die »Verleumdungen« der Feinde im »aufgezwungenen schweren Daseinskampfe« wandten. Pätzold hat ein hochaktuelles Buch über das geschrieben, was sich aus Geschichte lernen läßt, und über deren heutige Verunklärer. Sie schreiben auf ihre Weise weiter am Heldendank.
Kurt Pätzold: 1914 - Das Ereignis und sein Nachleben. Verlag am Park, Berlin 2014, 174 Seiten, 14,90 Euro
* Aus: junge Welt, Montag, 14. April 2014
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