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Das Jahr 1913

Geschichte. Frühere und aktuelle Forschung zum Beginn des Ersten Weltkrieges

Von Luciano Canfora *

Im Januar 1913 ist Lenin in Wien und schreibt an Maxim Gorki: »Ein Krieg zwischen Österreich und Rußland könnte für die Revolution in Europa sehr nützlich sein; nur läßt sich schwer vorstellen, daß Franz Joseph und Zar Nikolaus uns diesen Gefallen tun wollen.« Im Februar treffen sich, ebenfalls in Wien, Josef Stalin und Leo Trotzki zum ersten Mal in ihrem Leben. Zufällig wurde zu jener Zeit in Barcelona Ramon Mercader geboren, der Mann, der 1940 auf Anordnung Stalins Trotzki töten wird. Und ebenfalls in diesen Monaten macht sich Oswald Spengler daran, sein Buch »Der Untergang des Abendlandes« zu schreiben. Band 1 wird 1918 zum Kriegsende erscheinen, vielleicht unter dem Eindruck des Sinkens der »Titanic« im Dezember 1912.

Auf dem Gebiet der Malerei und der Literatur ist das Jahr vor dem Krieg besonders ertragreich. In Paris veröffentlicht Marcel Proust den ersten Band seines Werks »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (»In Swanns Welt«), das von Anatol France einen vernichtenden Verriß erfährt: »Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang.« Der italienische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio landet auf der Flucht vor seinen Gläubigern in Frankreich und sucht dort eine Zeitlang Asyl.

Er versäumt aber nicht das mondäne Leben, und so finden wir ihn in Paris bei der Premiere des Balletts von Vaslav Nijinsky, mit der Musik von Igor Strawinsky und der Choreographie von Sergej Djagilew. Es ist der Moment von »Le sacre du printemps«.

Auch auf vielen anderen Gebieten kommt es zu denkwürdigen Erscheinungen, wie der Veröffentlichung von Walter Gropius’ Schrift »Die Entwicklung moderner Industriebaukunst« und Edmund Husserls »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« sowie des ersten Bandes eines Buches, das die Perzep­tion der lateinischen Literatur in Deutschland verändern wird: der »Geschichte der römischen Literatur« von Friedrich Leo.

Unterdessen verkauft Albert Schweitzer sein ganzes Hab und Gut und begibt sich nach Afrika: Irgendein unbegabter Publizist wollte schon in dieser philanthropischen Entscheidung für die Arbeit vor Ort »Das Schluchzen des weißen Mannes« entdecken (um den Titel eines mittelmäßigen Pamphlets des »Halbrassisten« Pascal Bruckner zu benutzen, das 1984 erschien und in der neo­reaganistischen Rechten Europas Furore machte). Im November 1913 erhält Albert Einstein den Physiklehrstuhl an der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Im Juni hatte Werner Jaeger sich an der Berliner Philosophischen Fakultät habilitiert.

Dem französischen Physiker Louis-César-Victor-Maurice de Broglie gelingt es, das Absorp­tionsspektrum der Röntgenstrahlen zu erhalten. Rosa Luxemburg publiziert »Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus«. Giovanni Gentile veröffentlicht »Die Reform der Hegelschen Dialektik«, Karl Jaspers die »Allgemeine Psychopathologie«, Niels Bohr eine grundlegende Schrift über das Atommodell anhand des Wasserstoff­atoms.

Auch auf der politischen Ebene fehlt es nicht an herausragenden Ereignissen. In Frankreich wird Raymond Poincaré Präsident der Republik. Im August verlängert die französische Regierung die Wehrpflicht von zwei auf drei Jahre.

Belgien wird im April durch einen Generalstreik lahmgelegt, der die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts bezweckt: Brüssel ist genötigt, eine Wahlreform zu versprechen (wird praktisch erst nach Kriegsende darüber verhandelt). In Italien, in Turin, zwingt der Streik der Metallarbeiter die Unternehmer, Betriebsräte zuzulassen. Schließlich finden in Italien erstmals Wahlen mit einer stark vergrößerten Wählerschaft statt. Das berühmte »fast allgemeine« (nur männliche) Wahlrecht wird von Giovanni Giolitti ungeachtet der Fassungslosigkeit von »aufgeklärten« Philosophen wie Benedetto Croce zugestanden. Analphabetismus ist jetzt kein Grund mehr, das Wahlrecht zu verweigern; zur Wahl nicht zugelassen werden allerdings Männer zwischen 21 und 30 Jahren, die ihrer Wehrpflicht nicht nachgekommen sind. Die Sozialisten erzielen ein gutes Ergebnis, doch dank des Pakts zwischen Liberalen und Katholiken (»Patto Gentiloni«) gewinnt Giolitti erneut die Wahlen. Es wird sein letzter politischer Erfolg bleiben. Es ist typisch für das mangelhafte »Social Engineering« des vereinten Italiens (das erst 52 Jahre zuvor eine Nation geworden war), daß man, anstatt den Analphabetismus auszurotten, den Analphabeten in der Hoffnung, sie manipulieren zu können, das Wahlrecht verleiht.

Der griechische König Georg I. wird am 18. März ermordet. Kreta wird wenige Wochen danach, im Mai, mit dem Londoner Vertrag von Griechenland annektiert. In der Türkei zwingt die Bewegung der Jungtürken dem Sultan eine neue Regierung unter Enver Bey auf. In Japan kommt Admiral Gonnohyoe Yamamoto als Ministerpräsident an die Macht. Der Kaiser ist eine ziemlich schwache Figur: Die Militärkreise, die Yamamoto unterstützen, setzen eine beschleunigte Aufrüstung durch.

In China verbietet der Präsident der frischgebackenen Republik die Kuomintang. Das Parlament wird aufgelöst. – Henry Ford setzt in seiner Fabrik das erste Fließband in Betrieb.

Clarks »Schlafwandler«

Wie vorhersehbar haben sich im jetzt zu Ende gehenden Jahr 2013 die Untersuchungen und Erinnerungen zum Jahr 1913, dem Vorabend des »Entscheidungsjahrs« 1914, vervielfacht. Oft sind es sehr spezielle oder auf, gewiß interessante, Äußerlichkeiten konzentrierte Arbeiten. Die Autoren lassen die große Masse der nach dem Krieg und als Begleiterscheinung der Friedenskonferenz von Versailles (1919) veröffentlichten Dokumente – die die diplomatischen Geschehnisse, offene wie geheime, von 1913 erhellen (als ein Krieg noch in weiter Ferne zu liegen schien) – oft unberücksichtigt.

Im Zusammenhang mit der Friedenskonferenz begnügte sich die dokumentarische Forschung zur Vorgeschichte des soeben beendeten Krieges nicht mit der bloßen historischen Materialsammlung. Sie wollte vielmehr, mit entgegengesetzten Intentionen seitens der ehemals kriegführenden Länder, die hauptsächliche Verantwortung für den Kriegsausbruch feststellen. Den Siegern ging es darum zu zeigen, daß die Hauptverantwortung bei den beiden mitteleuropäischen Reichen Österreich und Deutschland gelegen habe, und sie hatten vor, vor allem gegen Deutschland mit besonders harter Hand vorzugehen. So wurden im Ergebnis dieser Untersuchung Deutschland die härtesten Friedensbedingungen auferlegt, die in der Neuzeit je über ein besiegtes Land verhängt worden sind.

Betrachten wir einige der jüngsten Werke, beispielsweise Christopher Clarks »Die Schlafwandler« mit dem Untertitel »Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog« (siehe jW-Thema vom 9.10.2013). Clark erinnert an eine sehr symptomatische Episode: Im März 1913 veröffentlichte ein bekannter französischer Akademiker im Figaro eine Reportage über seinen Besuch in Lazaretten Griechenlands und Serbiens. Er schrieb über die verheerenden Wirkungen der »von Frankreich an die Balkanstaaten verkauften Kanonen« (Gewebeverletzungen, eingedrückte Brustkörbe, zertrümmerte Schädel): Kanonen, die größtenteils in den endlosen Balkankriegen eingesetzt wurden, die dem Attentat von Sarajevo und dem Ausbruch des Weltkrieges vorangingen.

Nach dieser Reportage schlug ein Experte für Militärchirurgie, der Belgier Antoine Depage, angesichts der zerstörerischen und inhumanen Wirkung dieser Art von Waffen deren internationale Ächtung vor. Die Antwort war einhellig negativ. Ebenfalls im Figaro erschien ein Leitartikel, in dem zu lesen war: »Wir haben zwar Verständnis für die Großherzigkeit dieses Vorschlags, doch sollten wir eines Tages auf dem Schlachtfeld zahlenmäßig unterlegen sein, ist es gut, wenn unsere Feinde wissen, daß wir über solch schreckliche Waffen verfügen, um uns zu verteidigen.« Auch Stimmen dieser Art blieben übrigens isoliert angesichts der allgemeinen Überzeugung, daß der Krieg eine ferne Hypothese sei. Clark hat durchaus recht, metaphorisch von Schlafwandlern zu sprechen, doch seine Definition trifft eher auf die öffentliche Meinung zu, nicht auf die Regierungen.

Braudels Überraschtheit

Wer eine eindrucksvolle, doch gewiß oberflächliche Beschreibung der Befindlichkeiten in den wichtigsten europäischen Hauptstädten im letzten Vorkriegsjahr entdecken möchte, findet dafür breite und außergewöhnliche Belege in Florian Illies’ »1913: Der Sommer des Jahrhunderts« (siehe jW-Thema vom 6.8.2013).

Ein großer französischer Historiker, Fernand Braudel, hat in seinem berühmten Überblicks­essay »Le monde actuel« (Paris 1963) die Überraschung eindrucksvoll beschrieben, die Mitte 1914 der rasende Lauf in den Krieg bei ungeheuer vielen ausgelöst hat. Er meint: »Wenn man die Stärke der Zweiten Internationale seit 1901 berücksichtigt, kann man durchaus behaupten, daß der Westen sich 1914, wenn schon am Rande des Krieges, sich auch am Rande des Sozialismus befand. Dieser stand kurz davor, die Macht zu ergreifen und ein Europa zu erbauen, das ebenso modern, und wahrscheinlich moderner als das heutige, gewesen wäre. In wenigen Tagen, in wenigen Stunden ließ der Krieg alle Hoffnung zusammenbrechen.« Und Braudel fährt fort: »Der europäische Sozialismus dieser Epoche tat ungeheuer Unrecht daran, es nicht verstanden zu haben, diesen Krieg zu verhindern. Auch Historiker, die sehr für den Sozialismus sind, betonen dies, wenn sie der Frage nach der Verantwortung für einen derartigen Frontwechsel in der Politik der Arbeiterbewegung nachgehen.«

Die Diagnose Braudels legt den Akzent auf eine gravierende und sicher dramatische Erscheinung, nämlich das Versagen der Zweiten Internationale angesichts des Heranreifens und des Ausbruchs des Konflikts. Man bewegt sich aber auf dünnem Eis, solange man sich nicht fragt, warum dieser Krieg nicht zu verhindern war, auch nicht durch mächtige politische und Gewerkschaftsorganisationen, die alles Interesse hatten, ihn abzubiegen. Es ist in der Tat kein Geheimnis, daß das historische Versagen der Zweiten Internationale im Kriegsfall der Grund war für die weltweite Entstehung einer radikaleren politischen Bewegung, der Kommunistischen Internationale. Sie hatte ihren Ursprung in der Minderheit der sozialistischen Kriegsgegner und erlebte einen unverhofften Erfolg in der Machterkämpfung der Bolschewiki in Sankt Petersburg im November 1917 und im darauf folgenden Ausscheren Rußlands aus dem Krieg.

Lenins Analyse

Eine wesentlich realistischere Analyse der Ursachen, die den Konflikt zwischen den gegensätzlichen Mächten (England, Frankreich, Deutschland, Österreich und Rußland) unvermeidlich machten, wurde mit bemerkenswerter Klarheit von Lenin in seiner Schrift »Sozialismus und Krieg« geliefert. In diesem historisch-politischen Werk plazierte er eine Tabelle »Aufteilung der Welt unter die ›großen‹ Sklavenhaltermächte«. Zu diesen zählte er auch Japan sowie die USA. Und er belegte mit Zahlen, welche Teile der Welt jedes dieser Länder sich schon am Vorabend des Krieges als eigenes Herrschaftsgebiet gesichert hatte, und daß die bei der Aufteilung der Welt (der Verteilung von »Sklaven« nach dem von Lenin verwendeten wirklichkeitsnahen Ausdruck) am meisten benachteiligten Kräfte Deutschland und Japan waren. Er sah deshalb im Konflikt zwischen den Mächten um eine andere Aufteilung der Welt die wahre Ursache des Krieges. Eine Diagnose, die die falsche Problemstellung der sogenannten »überwiegenden Verantwortlichkeit« überwand.

Eine Bestätigung der substantiellen Begründetheit dieser Analyse läßt sich in der wichtigen Untersuchung finden von Luigi Albertini, bis zur Mussolini-Diktatur Direktor des Corriere della Sera: »Le origini della guerra del 1914. Le relazioni europee dal congresso di Berlino all’attentato di Sarajevo« (Mailand 1942; Die Ursachen des Krieges von 1914. Die europäischen Beziehungen vom Berliner Kongreß bis zum Attentat von Sarajevo). Am Schluß dieses ersten Bandes seines stattlichen Werks hat Albertini den vollständigen Wortlaut des Vertrags des Dreibunds (1882, 1887, 1891) zwischen dem Königreich Italien, dem deutschen Kaiserreich und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie veröffentlicht. Was an diesem Vertrag besonders auffällt, ist der Platz, der der kolonialen Frage und den Garantien für den Schutz der Kolonien der jeweiligen vertragsschließenden Partei eingeräumt wird. Albertini macht darauf aufmerksam, daß es am 5. Dezember 1912 notwendig wurde, mit einem Zusatzprotokoll einen neuen Artikel hinzuzufügen, durch den in dem Vertrag Italien die Herrschaft über die nordafrikanische Küste und insbesondere über Tripolitanien und die Cyrenaika garantiert wurde; parallel dazu sicherte man Österreich-Ungarn die Kontrolle über Albanien und vor allem den Sandschak zu. Die koloniale Frage stand also im Mittelpunkt der Interessen der drei Mächte.

Paul Hopkirk: Imperiales Spiel

In der Zwischenzeit geschah auf der Weltbühne aber etwas, das von den Mittelmächten ebenso wenig wie vom italienischen Königreich vorausgesehen worden war: die Annäherung zwischen dem russischen Zarenreich und dem britischen Empire, trotz ihrer traditionellen Gegnerschaft in den wiederholten Afghanistan-Kriegen, von denen jüngst in einem hervorragenden Buch des englischen Essayisten Paul Hopkirk (»The Great Game«) die Rede ist. Wieso diese Annäherung? Nach dem russisch-japanischen Krieg 1904, der mit einem Desaster für das russische Heer endete, verschob sich die politische Achse im Denken des Zaren erneut vom fernen Orient zu den Dardanellen: eine Reprise des alten Gegensatzes mit dem Osmanischen Reich, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Krimkrieg gipfelte.

Das Osmanische Reich hatte weder die Kraft noch das internationale Prestige, um sich dem Streben des Zaren nach Zugang zum Mittelmeer zu widersetzen. Doch es hatte seinen traditionellen Verteidiger in England. Das britische Kalkül war daher, der russischen Regierung im Austausch für eine gegen Deutschland gerichtete Annäherung an England die Möglichkeit des Erfolgs ihrer Mittelmeerbestrebungen in Aussicht zu stellen. Dieses Kalkül läßt sich nur unter dem Gesichtspunkt eines mehr oder weniger drohenden Krieges gegen Deutschland erklären. Wie sehr auch Wilhelm II. die internationale Position des Deutschen Reichs verschlechtert haben mag, indem er die Politik Otto Bismarcks (sich Frankreich und Rußland nicht gleichzeitig zum Feind zu machen) aufgab, so ist doch zuzugeben, daß der britische Schritt, Interesse für die russischen Ausdehnungsbestrebungen in Richtung Mittelmeer zu heucheln, nicht vorhersehbar war.

Rußland seinerseits – das bei Kriegsausbruch der Verbündete der Entente im Osten wird – war seit langem bemüht, die öffentliche Meinung im Westen und besonders in Frankreich zugunsten seiner Vorhaben zu beeinflussen. Die Leser der Tageszeitungen der damaligen Zeit, vor allem von 1913 und den ersten Monaten von 1914, konnten wahrscheinlich eine merkwürdige Veränderung im Ton der großen, vor allem französischen Presse gegenüber dem russischen Reich wahrnehmen. Nach dem Krieg und nach dem Ende der Zarenherrschaft wurden die Archive der Schlüsselministerien geöffnet. Es kamen Dokumente zum Vorschein, aus denen hervorging, daß die russische Regierung über geeignete Mittelsleute die wichtigsten französischen Zeitungen und deren namhafteste Journalisten systematisch geschmiert hatte. All dieses ziemlich bestürzende Material wurde in den frühen 1920er Jahren, herausgegeben von der Tageszeitung L’Humanité, in einem Band unter dem Titel »L’abominable vénalité de la presse« (Die abscheuliche Käuflichkeit der Presse) veröffentlicht.

Warum hatte die russische Regierung zu diesem Mittel gegriffen? Um sich für den Kriegsfall im Westen des Deutschen Reichs einen Partner zu sichern, um die Einkreisung zustande zu bringen, die Bismarck so klug zu vermeiden versucht hatte. Auch die russische Regierung agierte also in der Überzeugung, daß ein Krieg unmittelbar bevorstehe. Am Ende dieser kurzen Auflistung diplomatischer Ränke am Vorabend des Konflikts wird deshalb sehr deutlich, daß Braudels Überraschung angesichts des Ausbruchs des Krieges »in wenigen Tagen, wenigen Stunden« keinen Hintergrund hatte.

Die »Fischer-Kontroverse«

Da ich über diese Fragen in einer deutschen Zeitung schreibe, die sich an bewußte Leser wendet, komme ich nicht umhin, auf den sogenannten »Fischer-Kontroverse« einzugehen, der durch Fritz Fischers bedeutendes Werk »Griff nach der Weltmacht« (1961) ausgelöst wurde. Fischers unumstrittenes Verdienst war, den der gemäßigten deutschen Geschichtsschreibung so teuren Mythos von der wesentlichen Korrektheit der diplomatischen und militärischen Entscheidungen des Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg zu entzaubern. Gerhard Ritter und andere wollten darin ja eine Antithese zu der annexionistischen Orientierung der beiden militärischen und zu Kriegsende auch politischen Führer des Reichs, Paul Hindenburg und Erich Ludendorff, sehen.

Die archivalischen und publizistischen Ausgrabungen Fischers führten zu bedeutsamen Ergebnissen, die von seinen Verleumdern nicht widerlegt werden konnten. Insbesondere hob Fischer das ständige Streben der tongebenden politischen Kreise des Reichs hervor, eine große von Deutschland kontrollierte geopolitische Zone zu schaffen, die mit dem vagen und suggestiven Begriff »Mitteleuropa« bezeichnet wurde. Man mußte gar nicht auf das Erscheinen von Friedrich Naumanns berühmtem Essay »Mitteleuropa« im Jahre 1916 warten, um Kenntnis von diesem Schlüsselwort der deutschen imperialen Ambitionen zu haben. Schon die von der Regierung und der deutschen Großindustrie gewollte Bahnlinie, die Deutschland mit Bagdad verbinden sollte, die Bagdadbahn, war ein ganz offenkundiges Zeichen für die geographische Ausdehnung des Gebiets, das mit der Mitteleuropakonzeption, und zwar schon lange vor dem Krieg, gemeint war (siehe jW-Thema vom 18.8 und 20.8.2007). (Noch am Vorabend der US-amerikanischen Aggression gegen den Irak war die bedeutendste kulturelle Einrichtung in Bagdad das Deutsche Archäologische Institut. Über Jahrzehnte und stürmische Ereignisse hinweg war es also bei dieser Ausdehnung des deutschen Einflusses in Richtung Mesopotamien geblieben.)

Der Schwachpunkt von Fischers Position, im Verlauf des äußerst heftigen, durch sein Buch ausgelösten Disputs noch verschärft, war die in Wirklichkeit unbegründete und parteiische These von der »überwiegenden deutschen Verantwortung«. Jahre später haben neue italienische Studien, die vor allem Gian Enrico Rusconi zu verdanken sind und durch die Öffnung der diplomatischen Archive der Italienischen Republik ermöglicht wurden, den Zynismus ans Licht gebracht, mit dem die Regierung des Königs von Italien verhandelte. Sie tat dies, kaum daß der Dreibund am 5. Dezember 1912 erneuert war, gleichzeitig mit der Entente einerseits sowie Deutschland und Österreich-Ungarn andrerseits. Ziel war es, das Maximum an territorialen Gewinnen bei einem Kriegseintritt auf der einen oder der anderen Seite rauszuholen. Angesichts dessen darf man die kernigen Phrasen, mit denen nationale Geschichtsschreibungen die »guten Gründe« bemänteln, mit denen die jeweiligen Rivalen sich an dem tödlichen Konflikt beteiligten, definitiv vergessen.

Zuletzt erschienen von Luciano Canfora:
»Zeitenwende 1956. Endstalinisierung, Suez-Krise, Ungarn-Aufstand«, Köln 2012, 126 Seiten, 9,90 Euro.
»August 1914. Oder: Krieg wegen eines Attentas?« Köln 2010, 120 Seiten, 9,90 Euro.

[Übersetzung aus dem Italienischen von Hermann Kopp]

* Aus: junge Welt, Dienstag, 31. Januar 2013


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