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Reich gegen Empire

Die deutsch-britische Rivalität begann um die Wende zum 20. Jahrhundert. Diese zwischenimperialistische Konkurrenz war eine entscheidende Triebfeder bei der Entfesselung des Ersten Weltkriegs

Von Alexander Bahar *

Der Ausbruch des Krieges im August 1914 ist bei allen beteiligten Mächten, in Petersburg, London und Paris wie in Wien und Berlin als Lösung einer unerträglichen Spannung empfunden worden. Es war eine Spannung, die sich immer wieder in vordergründigen zwischenstaatlichen Konflikten entlud, aber ihre tieferen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen hatte.« Dieses Urteil des westdeutschen Historikers Karl Dietrich Erdmann kennzeichnet die innerimperialistische Konkurrenz, die sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg sukzessive zugespitzt hatte. Darin kam der Rivalität zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich eine besondere, wenn nicht entscheidende Bedeutung zu.

Mit der deutschen Reichsgründung von 1871 war ein Wirtschaftsraum von erheblicher Dynamik entstanden. Die Bevölkerung hatte sich – innerhalb dieser Grenzen von 24,8 Millionen im Jahre 1816 auf 66,9 Millionen im Jahre 1913 vergrößert. In Großbritannien und Irland vervierfachte sich die Einwohnerzahl im gleichen Zeitraum von rund 10 Millionen auf 40 Millionen.Insbesondere für Großbritannien und Deutschland entstand aus der demographischen Entwicklung die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Expansion, wobei das Bevölkerungswachstum und die Ausweitung von Industrie und Handel sich wechselseitig beeinflußten. Großbritannien hatte bei der industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert zunächst einen großen Vorsprung. Doch spätestens seit der Jahrhundertmitte holte Deutschland rapide auf. Von 1880 bis 1907 vervierfachte das Deutsche Reich seine Steinkohleförderung und schloß damit fast zu Großbritannien auf, um bis 1914 etwa gleichzuziehen. Die deutsche Stahl- und Eisenproduktion hatte bereits 1907 das Doppelte derjenigen Großbritanniens erreicht. Auf die gesamte Industrieproduktion bezogen, kletterte Deutschland zwischen 1880 und 1900 auf Platz drei hinter den USA und Großbritannien, um im Jahr 1913 das Inselreich vom zweiten Platz zu verdrängen. In den Jahren vor 1913 vervierfachte sich der deutsche Anteil an der weltweiten Industrieproduktion, während der britische um ein Drittel sank. Noch dramatischer entwickelte sich der Außenhandel des Deutschen Reiches. Im Jahr 1880 kontrollierte Großbritannien 22,4 Prozent des Welthandels, das Deutsche Reich folgte mit 10,3 Prozent und großem Abstand. Im Jahr 1913 hingegen hatte Deutschland mit 12,3 Prozent Großbritannien fast eingeholt, dessen Anteil auf 14,2 Prozent zurückgegangen war. Das Deutsche Reich war so zur zweiten Handelsmacht der Welt aufgestiegen, auch wenn London 1887 mit dem »Merchandise marks act« den Versuch unternommen hatte, deutsche Exporte mit dem Warnhinweis »Made in Germany« einzudämmen. Von einem Wirtschaftswunder zeugte auch der dramatische Anstieg des Energiebedarfs der deutschen Industrie, die im Jahr 1913 rund 20 Prozent mehr Strom produzierte und verbrauchte als Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen. Wie das Empire entwickelte auch Deutschland trotz negativer Handelsbilanz eine positive Zahlungsbilanz aufgrund seiner weltweiten Kapitalanlagen und Dienstleistungen, u.a. durch den Ertrag der Seeschiffahrt. Zwar blieb Großbritanniens Führungsrolle als Kreditgeber und Weltbankier nach wie vor unangefochten, dennoch löste die Entwicklung der deutschen Wirtschaft einen scharfen ökonomischen Konkurrenzkampf aus. Und der blieb nicht ohne Folgen auf die herrschende Meinung im Vereinigten Königreich, wenn sich auch spannungsmildernd auswirkte, daß Deutschland auf der Kundenliste der Briten an oberster Stelle rangierte und der Schwerpunkt des deutschen Handels in Europa, der des britischen Handels dagegen in Übersee lag. Das sensationelle Wirtschaftswachstum Deutschlands wurde in Großbritannien als Bedrohung empfunden, weil es die Grenzen der britischen Weltherrschaft aufzeigte.

Das Flottenwettrüsten

Die gewachsene wirtschaftliche Bedeutung des Deutschen Reiches führte dazu, daß in seinen herrschenden Kreisen Forderungen nach einem entsprechenden politischen und militärischen Gewicht des Staates laut wurden. So wurden die Seestreitkräfte deutlich verstärkt, was das deutsch-englische Verhältnis in der Folge viel mehr belastete als die unmittelbare wirtschaftliche Konkurrenz. Die durch Anordnung Kaiser Wilhelms II. ab 1898 aufgebaute Flotte sollte über die bisherige Küstenverteidigung hinaus die deutschen Handels- und Überseeverbindungen bei internationalen Krisen oder im Kriegsfall vor Unterbrechungen schützen. So sollte Deutschland nicht nur befähigt werden, im Wettbewerb um Märkte und weltweiten Einfluß Schritt zu halten, es sollte auch gegenüber Großbritannien in eine neue Position der Stärke versetzt werde. Aus Berliner Sicht war der Flottenbau die notwendige Folge der Expansion von Handel und Industrie. Es wurde Stimmung dafür gemacht, so daß viele glaubten, für Deutschland sei es möglich, durch die bloße Existenz und das Gewicht der Flotte, ohne Krieg, wenn auch unter Einbeziehung des Kriegsrisikos, in den Kreis der Weltmächte aufzusteigen und einen »Platz an der Sonne« einzunehmen. Die enorme Vergrößerung der deutschen Seestreitkräfte veranlaßte die Engländer, insbesondere als Reaktion auf das dritte deutsche Flottenbaugesetz vom Jahr 1908, zu einem kostspieligen maritimen Wettrüsten. Dennoch sah sich Großbritannien in der Folge zur faktischen Preisgabe des »Zweimächtestandards« [1] gezwungen, auf dem seine Hegemonie beruht hatte. Den Verlust suchte es durch eine Flottenkonvention mit seinem französischen Ententepartner zu kompensieren. Dem Abkommen zufolge konzentrierte Frankreich seine Schlachtschiffe im Mittelmeer, wodurch Großbritannien einen Teil seiner Kräfte verschieben und damit die in den Heimathäfen stationierten Einheiten deutlich verstärken konnte. Im Gegenzug übernahm es die Verpflichtung, im Kriegsfall die französische Nordküste zu schützen. Obwohl keine förmliche Allianz, schränkte diese Konvention die Freiheit der Entscheidung der britischen Regierung zwischen den kontinentalen Rivalen Deutschland und Frankreich stark ein.

Das Kalkül des Großadmirals Alfred von Tirpitz, der als Begründer der deutschen Hochseeflotte gilt, bestand weniger darin, England mittels eines militärischen Angriffs aus seiner Stellung als Beherrscher der Meere zu verdrängen. Dazu wäre die deutsche Armada auch nach ihrem geplanten Ausbau zu schwach gewesen. Die Flotte sollte vielmehr so stark sein, daß ein Angriff auf sie ein Risiko darstellte, um London so zu einem Bündnis mit Berlin zu bewegen, zumindest aber, um es im Fall eines kontinentalen Zweifrontenkrieges gegen Frankreich und Rußland in einer neutralen Position zu halten. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Wie Großbritanniens Kriegseintritt und der Verlauf der gegen das Kaiserreich gerichteten britischen Hungerblockade später zeigten, war dieses Kalkül nicht nur militärisch unausgereift, sondern auch politisch verhängnisvoll. Schon vor der Entfesselung des Ersten Weltkrieges betrachtete Großbritanniens öffentliche Meinung den Flottenbau als Indikator für Deutschlands Weltmachtsstreben.

Vorbild Preußen

Der Wunsch herrschender deutscher Kreise, die Weltpolitik zu bestimmen, fand seinen ideologischen Ausdruck vor allem in der Historiographie jener Zeit. Nach Auffassung von Leopold Ranke und seiner Schule schien es in der Logik der Geschichte zu liegen, daß Deutschland nach seiner nationalen Einigung und seinem Aufstieg zur europäischen Kontinentalmacht nun den Briten die Vorherrschaft zur See streitig machte. Im Gegensatz zu den Weltmächten Großbritannien und Rußland mußte Deutschland durch Aufrüstung der Marine ausgleichen, was ihm an natürlichem Gewicht fehlte. Dazu wurde das Vorbild Preußens beschworen. Die alte Hohenzollern-Monarchie habe sich im 18. Jahrhundert durch Wille, Disziplin und militärische Kraftanstrengung vom Status eines unbedeutenden Kleinstaates zu einer respektablen europäischen Macht emporgearbeitet. Der Soziologe Max Weber brachte in seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1895 die Weltsicht des bürgerlich-liberalen Imperialismus auf den Punkt: »Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands nur ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.« Lebhaften Widerhall fanden diese Worte u.a. bei dem konservativen Historiker und Politiker Hans Delbrück, der im August 1912 in den für die politische Gesinnung des nationalen Bürgertums repräsentativen Preußischen Jahrbüchern schrieb: »Es ist die Wahrheit von gestern, daß unsere Flotte geschaffen worden ist, um unseren Handel zu schützen; heute sind wir so weit, uns ein höheres Ziel setzen zu dürfen: Unsere Flotte soll nicht bloß unseren überseeischen Handel schützen, sondern uns auch den gebührenden Anteil an jener Weltherrschaft verschaffen, die das Wesen der Menschheit und ihre höhere Bestimmung den Kulturvölkern zuweist.«

Auch wenn Tirpitz die Kriegsmarine ursprünglich nicht als Angriffsinstrument geschaffen hatte und die bürgerlichen Ideologen den Krieg gegen das Vereinigte Königreich nicht unbedingt wünschten, gewann in deutschen Führungskreisen in wachsendem Maß die Überzeugung Raum, daß der »friedliche« Aufstieg zur Weltmacht allein durch die bloße Existenz der Flotte kaum gelingen werde, da England niemals kampflos seine Hegemonie über die Weltmeere aufgeben würde. War doch deren Behauptung unabdingbare Voraussetzung für Großbritanniens Stellung als Weltmacht neben den immer stärker werdenden USA und Rußland. Seine Vorherrschaft zu Wasser aber konnte London nur behaupten, wenn das europäische Gleichgewicht erhalten blieb. Deutschlands Bestreben, sich neben Großbritannien zu positionieren, erschien aus Londons Sicht als eine Bedrohung seiner eigenen dominierenden Stellung. Sollte es die durch Deutschlands Aufstieg verlieren, so drohte das Empire zu einer bloßen europäischen Macht herabzusinken. Damit wuchs auch in den dortigen herrschenden Kreisen Großbritanniens die Überzeugung, daß ein militärischer Zusammenstoß mit dem Deutschen Reich nicht zu vermeiden sein werde. Immer martialischere Äußerungen des Kaisers und der deutschen Regierung nährten den Argwohn, Berlin strebe danach, ganz Europa zu beherrschen. Dessen Wirtschaftsaufstieg und seine Großmachtambitionen wurden im Inselstaat daher zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. In der Folge bemühten sich die britischen Regierungen seit 1904, das Deutsche Reich außenpolitisch zu isolieren.

»German Peril«

Im April 1904 hatten Großbritannien und Frankreich eine »Entente cordiale« geschlossen, mit der sie zunächst nur ihre kolonialen Interessen koordinierten. Doch schon 1906 vereinbarten die Kriegs- und Außenminister beider Staaten, ihre Militäraktionen zukünftig aufeinander abzustimmen. Londons klare Positionierung an der Seite von Paris – und damit gegen Deutschland – zeigte sich u.a. in den zwei Marokkokrisen 1904–1906 und 1911. Mit dem Maghreb-Land versuchte Frankreich einen bis dahin souveränen Staat in sein Kolonialreich einzugliedern, was die deutschen Handelskonzessionen und Bergbaurechte in Marokko gefährdete. Auf die Entsendung eines Kanonenboots des Kaiserreichs nach Agadir antwortete England mit der Drohung, notfalls mit Frankreich gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen. 1911 sagte der britische Generalstabschef seinem französischen Kollegen sechs Heeresdivisionen für den Fall eines Krieges mit Deutschland zu. Schon im August 1907 hatte Großbritannien einen Vertrag mit Rußland geschlossen, in dem beide Staaten ihre »Einflußzonen« in Afghanistan und Persien absteckten. Im November 1907 war der Oberbefehlshaber des britischen Heeres nach Sankt Petersburg gereist. In Gesprächen mit russischen Generälen und Ministern legte er Rußland nahe, seine Truppen an der Westgrenze zu verstärken.

Bereits am 30. Oktober 1906 hatte Sir Charles Hardinge, Unterstaatssekretär im Foreign Office, in einer Denkschrift festgehalten: »Man muß ganz allgemein zur Kenntnis nehmen, daß Deutschland infolge seiner ehrgeizigen Pläne für eine Weltpolitik, eine maritime Vorherrschaft und eine militärische Vorherrschaft in Europa der einzige Störfaktor ist.« Und zwei Monate später, am 1. Januar 1907, verfaßte Sir Eyre ­Crowe, seinerzeit Leiter der westlichen Abteilungen im Außenministerium, ein Memorandum, das die Einschätzung der »German Peril« (der deutschen Gefahr) durch führende politische Kreise im Vereinigten Königreich widerspiegelte. Das ultimative Ziel der Reichsleitung sei eine »deutsche Hegemonie, zunächst in Europa und später auf der ganzen Welt«. Die Äußerungen des Kaisers und der alldeutschen Presse bewiesen, daß eine deutsche Hegemonie einer »politischen Diktatur« gleichkomme, die der »Ruin der Freiheiten Europas« sei. Deutschland, so Crowe, sei nun und in Zukunft der einzige potente Gegner Englands. Die Deutschen strebten konsequent nach der Vorherrschaft in Europa und würden schließlich Großbritannien zerbrechen, um seinen Platz einzunehmen.

Auch auf deutscher Seite war man mehr und mehr von der Unausweichlichkeit eines Krieges überzeugt. Generalstabschef Hellmuth von Moltke, der auf eine erhebliche Vergrößerung des Heeres drängte, erklärte gegenüber Reichskanzler von Bethmann Hollweg unverblümt: »Alle Seiten bereiten sich auf einen Krieg in Europa vor, mit dem alle früher oder später rechnen.«

Erkennbar wird die deutsch-britische Entfremdung auch an dem Wandel des Bildes, das die Historiker in England von der Geschichte ihres Kontinentalrivalen, insbesondere derjenigen Preußens zeichneten. Ab etwa 1910 verkehrte sich die Meinung über Preußen. Es wurde nun als ein Hort der Unfreiheit, der Obrigkeitshörigkeit, des Militarismus und der Gewalt dargestellt. Dieses Preußen wurde von etlichen Historikern nun pars pro toto mit ganz Deutschland gleichgesetzt.

Die Bagdadbahn

Auch im Nahen Osten trat Deutschland in Konkurrenz zu Großbritannien. Ab 1888 bemühten sich deutsche Unternehmer, das Osmanische Reich und insbesondere Kleinasien als Wirtschaftsraum zu erschließen. Ein Jahr später erhielt eine Gruppe von Industriellen und Bankiers unter Leitung der Deutschen Bank die Konzession zum Bau einer Eisenbahnstrecke von der Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul) nach Ankara, der sogenannten Anatolischen Eisenbahn. 1890 schlossen die deutsche und die osmanische Regierung einen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag. Der führte drei Jahre später dazu, daß Sultan Abdul Hamid II. der Deutschen Bank den Bau einer weiteren Strecke von Eskisehir nach Konya anbot, die 1896 fertiggestellt wurde. 1898 wurde der Vertrag erweitert. Abdul Hamid II. stimmte der Errichtung der Trasse von Konya nach Bagdad zu und bot Kaiser Wilhelm II. zudem an, deutsche Firmen könnten die Bahn bis Basra und an den Persischen Golf ausbauen. Mit dem großangelegten Projekt, das als »Bagdadbahn« bekannt wurde, war Deutschland im Begriff, auch den (damals noch zum Osmanischen Reich gehörenden) Irak ökonomisch zu durchdringen und den Nahen Osten an Europa anzubinden.

Die deutsche Reichsregierung erkannte bereits früh, daß das Bagdadbahn-Projekt ohne die Billigung der Regierungen in London und Paris zu Schwierigkeiten führen würde. Außerdem war es ohne britische und französische Kapitalbeteiligung kaum zu finanzieren. Trotz entsprechender Bemühungen Wilhelms II. blieb die finanzielle Unterstützung aus London und Paris gering. Statt dessen startete die britische Presse 1903 eine heftige Kampagne gegen das deutsch-osmanische Projekt. Geologen hatten zwischen Mosul und Bagdad Öl entdeckt. Der geplante Verlauf der letzten Bahntrasse sollte mitten durch ein Gebiet führen, in dem riesige Vorkommen vermutet wurden. Großbritannien – damals noch ohne eigene Erdölressourcen – bemühte sich, im Irak und in Persien Fuß zu fassen und sich die neu entdeckten Lagerstätten zu sichern. Bis zur Jahrhundertwende hatten nur die USA, Mexiko und Rußland in größeren Mengen Erdöl gefördert. Der neue Energieträger revolutionierte rasch die Technik. Ab 1870 fuhren die ersten Schiffe mit Öl- statt mit Kohlefeuerung, wodurch sich ihr Aktionsradius vervierfachte. Spätestens mit der Erfindung des Benzinmotors (1883) und des Dieselantriebs (1893) erlangte der Besitz von Erdölquellen wirtschafts- und gegebenenfalls auch kriegsentscheidende Bedeutung.

Als der Bau der Bagdadbahn 1903 begann, befanden sich britische Militärs und Ölexperten bereits seit zwei Jahren in Kuwait (damals ebenfalls noch Teil des Osmanischen Reiches), nur 100 Kilometer südlich von Basra, wohin die Bahn nach Fertigstellung führen sollte. 1899 hatten die Briten mit dem Emir von Kuwait einen Vertrag geschlossen. Darin sagte dieser zu, weder er noch seine Erben würden jemals Verträge über die Niederlassung dritter Mächte in Kuwait unterzeichnen. 1901 zwang London die osmanische Regierung mit der Entsendung von Kriegsschiffen nach Kuwait, ein britisches »Protektorat« über das Emirat zu akzeptieren. Zwölf Jahre später ließen sich die Briten vom Emir von Kuwait die Erdölförderkonzessionen in dem Fürstentum übertragen. Im selben Jahr erwarb die Londoner Regierung die Aktienmehrheit an der persischen Erdölgesellschaft. In der Folge betrachtete Großbritannien die Golfregion als seine wesentliche Einfluß- und Interessensphäre. Bereits im Jahr zuvor hatte die osmanische Regierung der Deutschen Bank die Konzessionen für alle Erdöl- und Mineralvorkommen 20 Kilometer beiderseits der Bahntrasse bis Mosul als Kompensation für ihre Kosten beim Bau der Eisenbahn überschrieben. Mit der Bagdadbahn eröffnete sich für die deutsche Wirtschaft folglich nicht nur ein neuer Markt, sondern auch die Aussicht auf reichhaltige Erdölressourcen zur eigenen Nutzung. Allerdings geriet das Deutsche Reich damit auch zunehmend in Konflikt mit den britischen Ambitionen auf die Erdölfelder in Persien, Irak und Kuwait. Nicht als isolierter Faktor, jedoch im Zusammenhang mit dem rasanten deutschen Wirtschaftswachstum, der deutschen Handelskonkurrenz auf dem Festland sowie in Übersee, der massiven deutschen Flottenrüstung und Deutschlands zunehmend martialischem Auftreten auf der Weltbühne bedeutete das Projekt Bagdadbahn somit eine gefährliche Verschärfung der deutsch-britischen Rivalität.

Zwischen 1908 und 1913 stiegen die Militärausgaben der sechs größten europäischen Staaten insgesamt um 50 Prozent. Fast alle Großmächte gaben nun zwischen fünf und sechs Prozent des Volkseinkommens für ihre Streitkräfte aus. Doch »trotz des beschleunigten Wettrüstens in den vergangenen fünf oder sechs Jahren erschienen die ersten sechs Monate des Jahres 1914 wie ein ungewöhnliches Zwischenspiel der Ruhe und des Friedens, das von keiner internationalen Streitigkeit gestört wurde. … Die europäischen Großmächte schienen glänzend miteinander auszukommen …«, schreibt Adam Hochschild in seinem lesenswerten Buch »Der Große Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg«. Der Schein trog, wie wir wissen.

Anmerkung
[1] Two-Power-Standard: Maxime der britischen Flottenrüstung von 1889 bis 1914, der zufolge die britische stets mindestens so stark sein sollte wie die beiden nächstgrößeren Flotten zusammen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. Juni 2014


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