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"Friedensprojekt Europa"

Gutachten 2014 vorgestellt: Gefahr einer neuen Blockbildung, gemeinsame Flüchtlingspolitik der EU überfällig, Bundesregierung soll militärische Zurückhaltung beibehalten

Von Claudia Wrobel *

Europas Rolle sowohl in internationalen Konflikten als auch an den eigenen Außengrenzen ist der Schwerpunkt des diesjährigen Friedensgutachtens, das fünf deutsche Friedensforschungsinstitute am Dienstag in Berlin vorstellten. Dabei forderten die beteiligten Wissenschaftler, das »Friedensprojekt Europa« zu stärken. Ines Werkner von der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft begründete diesen Schwerpunkt damit, daß die Strahlkraft der Europäischen Union von außen betrachtet ungebrochen sei, »wie der Euro-Maidan in der Ukraine gezeigt hat«. Die faschistischen Kräfte, die sich auch auf den Plätzen in Kiew tummelten und von dieser EU angezogen wurden, erwähnte sie allerdings nicht. Gleichzeitig warnte sie vor einer neuen »Blockbildung« in Europa. Die Friedensforscher loben in einer Stellungnahme, die dem Gutachten vorangestellt ist, den eingeschlagenen Weg der »Runden Tische« in der Ukraine und fordern darüber hinaus die Einrichtung einer Kontaktgruppe, bestehend aus den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates plus Ukraine, Polen und Deutschland. Dies könne den notwendigen Dialog mit Rußland sichern.

Mit Blick auf die europäischen Außengrenzen begrüßen die Forscher, daß die europäische »Grenzschutzagentur« Frontex seit April 2014 zur Seenotrettung von Flüchtlingen verpflichtet sei. Sie betonen, daß dies »eigentlich eine Selbstverständlichkeit und fester Bestandteil des Seerechts« ist. Darüber hinaus plädieren sie dafür, die sogenannte Dublin-III-Verordnung abzuschaffen, wonach das EU-Land, das ein Flüchtling zuerst betritt, für das Asylverfahren zuständig ist. Sie stellen heraus, daß Deutschland eine Reform dieser Praxis blockiert. Janet Kursawe vom Institut für Entwicklung und Frieden schlug statt dessen vor, Anlaufstellen der EU in Regionen einzurichten, in denen es viele Flüchtlinge gebe. Außerdem bekräftigte sie eine Forderung des Gutachtens, demzufolge die Bundesregierung mindestens 200000 Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen solle. Margret Johannsen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik ergänzte, daß die Aufnahme von Flüchtlingen durch die EU auch eine sicherheitspolitische Maßnahme sei, da Flüchtlinge aus Krisenregionen in deren Nachbarstaaten destabilisierend wirken würden.

In der Sicherheitspolitik warnen die Wissenschaftler davor, die bisherige militärische Zurückhaltung aufzugeben. In diesem Kontext kritisieren sie unter anderem Bundespräsident Joachim Gauck für seine Feststellung, »daß die Schuld Deutschlands an den Weltkriegen kein Hindernis für mehr Engagement in der Welt sein dürfe«. Marc von Boemcken vom Bonner International Center for Conversion erläuterte, daß Friedens- und Entwicklungsforschung sich von dieser Sicherheitsforschung unterscheide, die Gauck fordert. Dessen Rede, nannte er genau wie die von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD) schwammig. »Die Bundesregierung sollte genau darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen Auslandseinsätze der Bundeswehr gerechtfertigt sind«, mahnte er. Auch bei Rüstungsexporten forderte er ein Umdenken. Bis jetzt liefen die Verhandlungen darüber hinter verschlossenen Türen. Statt dessen sprach er sich für eine öffentliche Begründung jeder einzelnen Ausfuhr durch die Bundesregierung aus. Diese solle mindestens sicherheits- und außenpolitischen Aspekten genügen, wenn möglich auch friedenspolitischen. »Nur wirtschaftliche Gründe dürfen nicht ausreichen«, betonte Boemcken.

Ines Werkner, Janet Kursawe u.a. (Hrsg.): Friedensgutachten 2014, Münster, LIT Verlag, 336 Seiten, 12,90 Euro

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. Juni 2014


Intelligente Diplomatie hilft gegen Krisen

Wissenschaftler lehnen in ihrem Friedensgutachten 2014 interventionistische Konfliktlösungen ab

Von Thomas Klatt **


Bereits zum 27. Mal legten fünf führende Forschungsinstitute aus Deutschland am Dienstag ihr Friedensgutachten vor. Krisenprävention ist ihr vorrangiges Anliegen des 2014er Berichts.

Für die Empfehlungen für eine nachhaltigere Krisenpräventionspolitik haben die Autoren der mehr als 350 Seiten starken Studie kaum eine Konfliktregion dieser Welt ausgelassen. Trotzdem richten sie sich in erster Linie an die Politik der Bundesregierung wie der EU. Ines-Jacqueline Werkner von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST in Heidelberg plädiert für eine strikte Einbindung Russlands in den Ukraine- Konflikt. Dass die NATO bereits 2008 Georgien wie auch der Ukraine einen Beitritt in Aussicht stellte, habe das Verhältnis zu Russland ebenso beschädigt wie das Angebot eines EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine.

Der Ukraine-Konflikt könne nur durch intelligente Diplomatie gelöst werden, indem alle Akteure eingebunden werden. Die Friedensforscher empfehlen, eine Kontaktgruppe aus den fünf Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates plus Ukraine, Polen und Deutschland einzusetzen. »Allen voran appellieren wir an die Kirchen sowie an die Konferenz Europäischer Kirchen in Brüssel, ihren Einfluss für einen Gewaltverzicht und Verhandlungslösungen geltend zu machen«, so Werkner.

Allerdings bedeute dies nicht, Russland nun zu einem neuen Partner vor allem in Rüstungsfragen zu machen. Denn der zweitgrößte Rüstungsexporteur der Welt wird selbst mit Waffen und Know-how aus dem Westen versorgt. So bezog Russland zwischen 2008 und 2012 Militärgüter aus der EU im Wert von 925 Millionen Euro, vornehmlich aus Frankreich, Deutschland und Italien. »Rüstungsexporte in Spannungsgebiete und Lieferung von Waffen und Überwachungstechnologien an autokratisch regierte Staaten sind ein Skandal. Wir fordern ein umfassendes Waffenembargo der EU gegen Russland«, sagt Werkner.

Im Syrien-Konflikt allerdings komme die internationale Diplomatie an ihre Grenzen. Im Moment könne man daher kaum mehr tun als menschliche Hilfe zu leisten. Doch dem komme Deutschland noch zu wenig nach. »Wir halten eine Luftbrücke, wie sie Rupert Neudeck vorgeschlagen hat, für sinnvoll. Geradezu skandalös sind die europäische und die deutsche Aufnahmepolitik. Wir appellieren an die Bundesregierung, mindestens 200 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen«, fordert Werkner.

Das Friedensgutachten lehnt die Bildung einer dauerhaften europäischen Interventionsarmee ab, denn militärische Lösungen seien keine Perspektiven für einer dauerhafte Friedenspolitik. Vielmehr müsse die Rolle der OSZE wie auch des Europäischen Auslandsdienstes gestärkt werden. Nötig sei eine intelligentere Auslands- und Sicherheitspolitik.

Waffen, Material und Ausbilder in Entwicklungsund Krisengebiete zu schicken, um so die Exekutive zu ertüchtigen, wie es die deutsche Kanzlerin formulierte, wird im Friedensgutachten 2014 deutlich kritisiert.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Juni 2014


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