Die Neugeburt der NATO - Von der Verteidigung der Weltordnung
Von Norman Paech
Nachfolgend dokumentieren wir ein Referat,[1] das der Norman Paech, emeritierter Professor für Öffentliches Recht in Hamburg, auf der Sommerakademie der ÖSFK im Juli 2004 auf Burg Schlaining (Burgenland/Österreich) gehalten hat. Der Beitrag wird zusammen mit den anderen Referaten in einem Sammelband erscheinen.*
I.
Betrachten wir die gegenwärtige Zeit durch die Brille eines englischen Historikers, Eric Hobsbawm, so haben wir mit dem Jahre 1990 nicht nur den Untergang der sozialistischen Welt erlebt, auch nicht nur das Ende des Kalten Krieges, sondern das Ende eines ganzen Jahrhunderts: einen Epochenwechsel, den Wechsel in eine neue Weltordnung. Die Frage ist: Was war die alte, was ist die neue Weltordnung?
Zur alten Weltordnung nur einige kurze Bemerkungen. [2] Die wesentlichen Ereignisse waren der Sieg über den Faschismus und der Versuch, eine neue, dauerhafte Friedensordnung im Rahmen der UNO aufzubauen. Roosevelt verfolgte damals die Vorstellung, sie in einer Militärkoalition zwischen den USA und Großbritannien zu sichern. Churchill hingegen wandte sich gegen die militärische Begründung einer Friedensordnung und schlug vor, das letztlich misslungene und schon 1934 zerfallene Modell des Völkerbundes neu zu beleben. Er wollte ein System kollektiver Sicherheit wieder beleben, das auf den Vorschlägen von Wilson, dem einstigen amerikanischen Präsidenten, basierte. Allen Handlungsweisen des vergangenen Jahrhunderts entgegen, verfolgte dieses Modell kein militärisches Gleichgewicht der Kräfte. Das System kollektiver Sicherheit sollte auf der juristischen Gleichheit aller Staaten aufbauen, der großen und der kleinen, der schwachen wie aber auch der starken Staaten. Und es sollte auf einem allgemeinen Gewaltverbot basieren.
Auch wenn diese völlig neue Vorstellung, die im Gefolge des Ersten Weltkrieges 1919 erstmalig institutionalisiert wurde, letztlich scheiterte, fasste man nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 erneut den Mut, dieses Ziel mit den Vereinten Nationen ein weiteres Mal zu wagen.
Allerdings lebte schon 1949, im Grunde schon mit dem Tode Roosevelts 1945 und mit der Präsidentschaft Truman's, der Kalte Krieg auf. Die Auseinandersetzungen zwischen dem West- und Ostblock verseuchten fortan alle internationalen Friedensbemühungen und -konstruktionen. Man konnte sich nicht mehr damit begnügen, lediglich auf das Prinzip der kollektiven Sicherheit zu vertrauen. Vielmehr musste man den offensichtlichen Widerspruch zwischen Ost und West, zwischen einer faktischen kapitalistischen und einer erhofften sozialistischen Ordnung in Rechnung stellen und organisieren - das war die Geburtsstunde der beiden Militärpakte NATO und Warschauer Pakt. Sie führten nicht nur in das Wettrüsten und in die atomare Abschreckung, in der viele Historiker den maßgeblichen Grund für 60 Jahre Frieden in Europa sahen. Sie führten die beteiligten Mächte auch dazu, sich doch wieder nach dem alten Modell des 19. Jahrhunderts zu organisieren, nämlich wiederum in einem Gleichgewicht der Kräfte. Art. 1 des NATO-Vertrages lautete damals noch verheißungsvoll und heißt es noch heute: "Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind." In enger Verklammerung mit den Zielen und Grundlagen der Vereinten Nationen begrenzte der NATO-Vertrag in Artikel 5 [3] die Aufgaben der Organisation ausschließlich auf Verteidigung.
Die politischen Ziele der NATO gingen allerdings über ein reines Verteidigungsbündnis hinaus. Mit ihrer Errichtung ging es im Grunde auch um die Integration und die Organisation des westlichen Lagers gegenüber dem Osten. Die NATO sollte mit der Verteidigung des Westens zugleich die Sicherung der Vorherrschaft der USA bewirken. Allerdings diente sie nicht nur den USA als Instrument zur Dominierung und zur Stärkung ihrer Hegemonie im westlichen Lager. Auch Großbritannien und Frankreich hatten ihre eigenen Ziele. Sie fügten sich in diese Vorherrschaft, weil sie darin die große Möglichkeit sahen, die Macht, die ökonomisch, wie politisch und militärisch als einzige ungeschoren aus dem Zweiten Weltkrieg herausgekommen war, an sich zu binden und auf den Dialog mit ihnen zu verpflichten. Hier herrschte ein wechselseitiges Bindungsbedürfnis - seitens der USA zur Gewährleistung ihrer Vorherrschaft unter gleichzeitiger Einbindung des westlichen Lagers, damit es nicht dem vermeintlichen Sirenengesang des sozialistischen Lagers erliegen würde, was Ende der 40er und 50er Jahre durchaus noch denkbar schien; und seitens Großbritanniens und Frankreichs, nach all den Einbußen aus dem Zweiten Weltkrieg und der nun beginnenden Systemauseinandersetzung, das Bedürfnis nach einem starken Partner in den überlegenen USA.
Auch mit der Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland 1956 in die NATO wurde das Ziel verfolgt, das westliche Lager gegenüber dem Osten zu stärken, zumal der einstige Feind, in zwei Teile gespalten, immer wieder mit dem Gedanken der Neutralität spielte und eine andere Lösung des Ost-West-Konfliktes einforderte, als es die Amerikaner und Engländer sich vorstellten. Es ging den westlichen Siegermächten um die Unterbindung jedes Sonderweges und um den Ausschluss von Neutralität und Wiedervereinigung. Zudem war es - was unsere österreichischen Nachbarn noch heute interessieren sollte - der Weg zur Remilitarisierung. Die NATO bedeutete Militarisierung einer Gesellschaft von Anfang an. Hierin deckte sie sich mit den Zielen jener, die schon in der frühen Ära Adenauer - gegen viele Warnungen und Widerstand - eine Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland geplant hatten. Nach ihrer Meinung war ein eigenes Militär die Voraussetzung von Souveränität und notwendig, um vom "Katzentisch" der Mächte an den großen Tisch zu kommen und zur Elite der Mächte hinzuzustoßen. Kurz gefasst: Diese Epoche der Nachkriegswelt war bestimmt durch eine Art Doppelherrschaft von UNO und NATO. Einerseits sollte mittels der UNO ein kollektives Sicherheitssystem, die Idee des 20. Jahrhunderts, durchgesetzt werden. Dabei hatte man aus dem Scheitern des Völkerbundes und der Realität des Kalten Krieges durchaus gelernt, dass das nicht ohne weitere Sicherungen zu schaffen war. Insofern musste die UNO mit einem weiteren System, nämlich dem NATO-Warschauer Pakt-System unterfüttert werden, mit einem System des 19. Jahrhunderts, dem System des Gleichgewichts der Kräfte. Man war also noch nicht in der Lage, den Epochenwechsel in eine neue Weltordnung eigenständig und vollständig neu zu bestimmen und sich zugleich aus dem Sumpf des alten Jahrhunderts herauszuziehen.
II.
1990, mit dem Untergang dieses Gleichgewichtssystems durch das Verschwinden von Sowjetunion und Warschauer Pakt, d.h. des sozialistischen Systems, und in dessen Folge auch mit dem Untergang des Antagonismus der Ost-West-Spaltung, wäre es nur konsequent gewesen, wenn das System kollektiver Sicherheit nun ohne Gleichgewicht der Kräfte zu neuer Blüte gekommen wäre. Das war auch noch die Botschaft, die Präsident George Bush am 11. September 1990, am Vorabend des Ersten Irakkrieges, der Welt als "neue Weltordnung" verheißen hatte: "In dieser schwierigen Zeit kann unser fünftes Ziel (eine neue Weltordnung) hervorgehen. Eine neue Ära, freier von Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und im Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. 100 Generationen haben nach diesem kaum auffindbaren Weg zum Frieden gesucht. Heute kämpft diese neue Welt, um geboren zu werden, eine Welt, die völlig verschieden ist von der, die wir kannten, eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt, eine Welt, in der der Starke die Rechte der Schwachen respektiert." - ein schönes Stück politischer Lyrik, eines US-Präsidenten in der Nachfolge Wilsons würdig.
Die Realität sah anders aus, denn es war keineswegs so, dass nun die Ära der UNO, des kollektiven Sicherheitssystems, anbrach, sondern wieder ging es um das Fortleben der Ära des alten, überwunden geglaubten Systems des Gleichgewichts der Kräfte. Denn die NATO, von der man eigentlich erwartete - insbesondere wir in Deutschland hofften -, dass sie als Friedensdividende nun beseitigt und die Rüstung drastisch heruntergefahren würde, suchte sofort nach einer neuen Begründung. Ihre raison d'ętre, ihr Existenzgrund war verloren gegangen. Ihr Gegner, der Feind war nicht mehr da, Deutschland war, wie man so schön sagte, umzingelt von Freunden - wozu brauchte man da noch ein solches System? Aber schon in den jährlichen NATO-Tagungen in Rom 1991, Oslo 1992, Athen 1993 und Brüssel 1994 verständigte man sich überaus zügig auf das Folgende: Der alte Verteidigungsauftrag reiche nicht mehr, um die NATO weiterhin zu begründen; neue Ziele wurden gebraucht und gefunden, sie lauteten Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Hierauf wiesen alsbald die Perspektivenerweiterungen der NATO. Eines der stärksten NATO-Mitglieder, Deutschland, fasste sie schon frühzeitig konkret und deutlich: In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 hieß es zur Zielsetzung der zukünftigen Entwicklung der Bundeswehr: "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung." [4] Man muss man sich den Paradigmenwechsel einer Armee der Verteidigung klar machen: die Bundeswehr von nun an als Instrument zur Herstellung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, zur Öffnung und Sicherung von Märkten. Dies blieb der Mehrheit der deutschen Bevölkerung vollkommen verborgen. Der damalige Staatssekretär Rühl im Bundesverteidigungsministerium meinte in unverstellter Offenheit zur Landesverteidigung als der nach Artikel 87a Grundgesetz bislang einzigen Aufgabe der Bundeswehr: "Landesverteidigung kann nicht länger das Kriterium der Streitkräfte sein, gleichgültig ob Wehrpflicht besteht oder nicht, kollektive Verteidigung kann nicht länger die Kernfunktion der NATO bleiben, Landstreitkräfte können nicht mehr den Schwerpunkt bilden. Die Hauptaufgabe der Alliierten ist die militärische Unterstützung der Krisenbeherrschung und Konfliktverhütung geworden". [5] Und der zuständige Verteidigungsminister Volker Rühe betonte: "Zentrale Bedingung für den Einsatz der Streitkräfte ist seine völkerrechtliche Legitimität, ein Mandat der Vereinten Nationen ist Voraussetzung." [6] Damals handelte es sich um eine CDU-Regierung, die den Auftrag zur Landesverteidigung erweiterte und in eine präventive Konfliktsicherung und Konfliktbeherrschung umzuwandeln beabsichtigte. Voraussetzung sollte allerdings ein Mandat der UNO sein, die Bindung der NATO wie auch der Bundeswehr an die UNO wurde nicht angetastet. Diese Bedingung sollte erst im Jahre 1999 die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer beseitigen. Allen Vorurteilen zum Trotz: Hier handelt es sich nicht um das Projekt einer konservativen, sondern einer sozialdemokratisch-grünen Regierung.
III.
1994 begann man sodann, das Bündnisterritorium zu erweitern, das heißt, die NATO nach Osten hin ausgreifen zu lassen - ein Projekt, dem die USA zu Anfang außerordentlich skeptisch und ablehnend gegenüber standen. Anders die Bundesregierung Deutschlands, sie sah hierin die logische Folge der Erweiterung des ökonomischen Einflusses der EU. D.h., man plante diesen Doppelschritt der Integration der östlichen Staaten - allerdings unter Ausschluss Russlands - sehr bewusst auf ökonomischer Ebene durch die EU, auf militärischem Gebiet durch die NATO. Man verfolgte eine hegemoniale Ausweitung, die nicht allein ökonomisch möglich schien, sondern auch militärisch abgesichert werden musste. Die Entwicklungen Ende der 90er Jahre bis in den Anfang des neuen Jahrtausends haben dies letztlich bestätigt. 1994 - zur Erinnerung -, hatte es noch in Bosnien-Herzegowina ein gemeinsames Eingreifen von USA, NATO und UNO gegeben. Das alles bündelte sich später, 1999, realitätsnäher und konkreter in der Frage: Soll man in Jugoslawien einmarschieren auch ohne Votum der UNO? D.h. die Krise auf dem Balkan wurde schließlich zum Knotenpunkt, in dem alle zum Teil noch unsicheren Perspektiven zusammengebunden wurden. Heute lässt sich sagen: Der Jugoslawien-Krieg ist das Modell der neuen Weltordnung. Und zwar ohne UNO, mit USA und NATO.
Noam Chomsky hat treffend auf den Punkt gebracht, was ich meine. In einem Interview anlässlich der Verleihung des Ossietzky-Preises in Oldenburg im Mai dieses Jahres bestätigte er die Annahme des Interviewers Klaus Theweleit, "vielleicht gibt es auch zwischen den beiden Polen USA und Europa einen zentralen Konflikt darüber, wer die Ölreserven in Zentralasien kontrolliert." "Genau" - antwortete Chomsky und führte weiter aus: "Darum geht es. Das ist der Hintergrund für die Kontrolle des Mittleren Osteuropas. Lassen Sie mich das kurz ausführen. 1970, also etwa zur Zeit von Kissingers Rede, war es offensichtlich, dass die Welt ‚tripolar' war. Es gab im Wesentlichen drei Machtzentren, die ökonomisch in etwa miteinander vergleichbar waren: Nordamerika, Europa und die sich schnell entwickelnden asiatischen Länder - damals mit dem Zentrum Japan. Heute verfügt Nordostasien global gesehen über zwei der wichtigsten industriellen Volkswirtschaften: Südkorea und China, das gerade zu einer gigantischen Industrienation wird. Sibirien verfügt über ausgedehnte Ressourcen, auch Öl, und in Nordostasien ist das Bruttosozialprodukt viel größer als in Europa oder in den Vereinigten Staaten. Nordostasien spielt eine zunehmend wichtige Rolle im Handel und hat Aussichten, sich in eine selbständige Richtung zu entwickeln. Daher ist einer der Gründe, weshalb die USA so stark daran interessiert sind, die Ölreserven im Nahen Osten - vor allen im Persischen Golf aber auch in Zentralasien (also Kasachstan, Aserbeidschan u.s.w.) zu kontrollieren, die Rolle als Führer der Weltherrschaft zu behalten. Wen man über die Energiereserven der Welt herrscht, verfügt man über ein mächtiges Mittel, um die Bildung und eigenständige Entwicklung anderer Machtblöcke zu verhindern. Das ist einer der wichtigsten Gründe für die Intervention im Irak - und übrigens in Afghanistan ebenfalls. Es ist interessant, dass sie sagten - und das zu Recht -, die Europäer hätten die Invasion Afghanistans unterstützt. Warum? Welches Motiv hatten sie für eine Invasion in Afghanistan? Womit wurde das gerechtfertigt?" Der Interviewer Theweleit: "In Afghanistan hießen die Argumente: Taliban und die Rache für den 11. September 2001." Chomsky: "Wenn die europäischen Intellektuellen das geglaubt haben, dann nur deshalb, weil sie es ablehnen, sich mit Fakten zu befassen. Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Als die Bombardierung am 7. Oktober angekündigt wurde, sagte Präsident Bush ausdrücklich: Wenn sie uns nicht Osama Bin Laden und seine Verbündeten ausliefern, werden wir sie bombardieren. Das hat mit der Absetzung der Taliban nichts zu tun. Das war ein Gedanke, der erst später hinzukam. Die Bombardierung fand mit dem Ziel statt, die Taliban dazu zu zwingen, den Vereinigten Staaten Menschen auszuliefern, die die USA verdächtigte, die Terroranschläge verübt zu haben. Das war das Ziel. Acht Monate danach sagte der Chef des FBI im Kongress aus, dass sie noch immer nichts anderes als nur Vermutungen hätten. Wie können europäische Intellektuelle so etwas unterstützen? Es liegt daran, dass sie sich nicht die Mühe machen, nachzufragen." Theweleit: "Sie - die Intellektuellen - verhielten sich widersprüchlich, sie unterstützten die Bombardierung Serbiens. Sie unterstützten die Bombardierung Afghanistans, und sie lehnten es ab, die Bombardierung von Irak zu unterstützen. Ohne irgendwelche Argumente und zwar in keinem der Fälle." "Gut" - so Chomsky - "reden wir über Serbien. Das ist nämlich ein interessanter Fall, weil wir sehr umfangreich dokumentieren können, was im Kosovo vor der Bombardierung ablief. Es gibt zwei riesige Sammlungen von Dokumenten des Außenministeriums, NATO-Quellen, detaillierte OSZE-Untersuchungen, außerdem eine ausführliche parlamentarische Untersuchung Großbritanniens. Und was zeigen uns diese Unmengen von Indizien? Sie zeigen uns, dass sich weder der Journalismus noch die Wissenschaft dafür interessieren. Die Indizien beweisen, dass Kosovo bis zur Bombardierung ein sehr unangenehmer Flecken Erde war und dass dort ungefähr 2.000 Menschen ermordet wurden - der britischen Regierung zufolge das entscheidende Argument der Allianz -, von denen die meisten allerdings von Guerillas umgebracht wurden. Das NATO-Kommando ging ausdrücklich davon aus - und informierte Washington darüber -, dass im Falle einer Bombardierung die Serben am Boden reagieren würden und dass es zu Gräueltaten und Vertreibungen kommen würde. Zur Zeit der Bombardierung lagen zwei Verhandlungspositionen auf dem Tisch, eine serbische und eine der NATO. Nach 78 Tagen Bombardement wurde ein Vertrag geschlossen, der einen Kompromiss aus beiden Positionen beinhaltete. Was war geschehen? In einer Phase, als es sich in Kosovo um einen schrecklichen Ort handelte, mit einem gewissen Maß an Gräueltaten - gering im Vergleich mit internationalen Standards -, begann die NATO ihre Bombardierung und das in der Erwartung, dass sie zu Vertreibungen und Gräueltaten führen würde. Einen möglichen diplomatischen Weg lehnten sie ab. Und nach der Bombardierung einigten sie sich auf halbem Weg. Wie verhielten sich die europäischen Intellektuellen dazu? Zum Beispiel Vaclav Havel? Absolut empörend. Und Vaclav Havel sagt auch noch, das sei der erste Krieg in der Geschichte (und das ist eine Argumentation, die auch in Deutschland vorherrscht, N.P.), der für Prinzipien und Werte geführt wurde, ein zutiefst altruistischer Krieg. Da haben wir ein weitreichendes Zeichen für die Korruption des europäischen Geisteslebens und natürlich auch des amerikanischen und britischen. ... Es ist die normale Korruption der Intellektuellen." [7]
Halten wir zumindest zwei Dinge daraus fest. Zunächst ist unverkennbar, dass die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan und Irak für die USA und die NATO ein ganzes strategisches Paket bilden. Sie sind nur zusammen zu sehen und sie sind nur zusammen zu analysieren. Sodann geht es bei allen drei Kriegen, auch wenn man es immer wieder auszublenden versucht, primär nicht etwa um die Sicherung der Menschenrechte, sondern um Ressourcensicherung, um imperialen Ordnungsanspruch. Wer daran immer noch zweifelt, der sollte sich die NATO-Strategie ansehen, die die Alliierten in Washington im April 1999, noch während der Bombardierung Jugoslawiens, verabschiedet haben. Auch diesen Fakten gegenüber haben die Intellektuellen und die Journalisten sich immer geweigert, sie wirklich zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Darin werden die Neuartigkeit der sicherheitspolitischen Voraussetzungen und zunehmenden Risiken beschworen, die für "europäischen Frieden und Stabilität" bestehen, einschließlich der Unterdrückung, ethnischer Konflikte, wirtschaftlicher Not, des Zusammenbruchs politischer Ordnungen sowie der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln." (Ziffer 3). [8] Die Menschenrechte spielen nur dann eine Rolle, wenn ihre Verletzung die europäische Stabilität gefährdet. Selbst "unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen (was auch immer das ist, N. P.), die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten ... können zu Krisen führen, die die euroatlantische Stabilität berühren." (Z. 20) Vier Ziffern weiter heißt es dann, "Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen, aber auch die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen." (Z. 24) Alles Szenarien des Weltelends, welche eine Intervention der NATO-Staaten rechtfertigen sollen. Eine Selbstermächtigung zu militärischen Eingriffen rund um die Welt, die mit dem ursprünglichen Artikel 5 NATO-Vertrag, der Bündnisverteidigung überhaupt nichts mehr zu tun hat. Das ist eine vollkommen neue NATO.
Hier stellte sich die Frage: War eigentlich damit die Bindung der NATO an die UNO unterbrochen oder war es nach wie vor so, dass der Verteidigungsauftrag des Art. 5 NATO-Vertrag an die Feststellung einer Verteidigungssituation nach Art. 51 der UNO-Charta gebunden blieb? Dass also nur im Fall der Verteidigung oder auf Grund eines Mandats der UNO nach Art. 42 UNO-Charta die neuen Kriseninterventionsmaßnahmen anwendbar und ein Eingreifen der NATO erlauben würden? Bewusst wurde dies im Unklaren gelassen, aber Bundeskanzler Schröder sagte damals in einer wenig beachteten Rede in Washington durchaus deutlich: "Wir waren uns einig, dass es auch in Zukunft nur dann Interventionen geben kann, wenn im Prinzip ein Sicherheitsratsbeschluss vorliegt - eng begrenzte Ausnahmen können zugelassen werden, dürfen aber nicht die Regel werden und können überhaupt nur in Frage kommen, wenn sich zeigt, dass der Sicherheitsrat nicht handlungsfähig ist." [9] Das ist die Legitimierung des Angriffs auf Jugoslawien ohne jegliches Mandat und ohne Verteidigungsauftrag. D.h. spätestens 1999 wurden die UNO und die UNO-Charta als Voraussetzung für Gewaltanwendung ad acta gelegt, und die NATO hatte sich aus den alten Fesseln der Verteidigung befreit und sich zu einem weltweit operierenden Kriseninterventions- und Ressourcensicherungsinstrumentarium emanzipiert.
IV.
Der Interviewer fragte Chomsky schließlich: "Ist das nicht alles irgendwie auch ein Zeichen, dass hier die NATO gespalten wird? Ist nicht eventuell, in Afghanistan z.B. und auch im Irak die NATO bedeutungslos?" Chomsky verneinte diese Frage nachdrücklich, ohne allerdings genauer auf die Organisation einzugehen, der wir uns noch kurz widmen müssen, die Europäische Union. [10] Wie agiert sie in diesem Feld, bringt nicht eventuell sie die Spaltung der NATO?
Es gibt eine gemeinsame Erklärung von 2003 über europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die nicht von allen Staaten der EU, sondern nur von Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien verfasst wurde. Dort wird ein paralleles Kriseninterventionsszenario für die ganze Welt aufgebaut, für das eine europäische schnelle Reaktionstruppe gefordert wird. 2002, auf dem Praggipfel der NATO, hatte man bereits eine sog. NATO-Response-Force mit 21.000 Soldaten gebildet, die 2006 einsatzfähig sein soll, und zwar binnen 5 Tagen in allen Krisengebiete der ganzen Welt einsetzbar. Die schnelle Reaktionstruppe der EU soll insgesamt 60.000 Soldaten umfassen, die innerhalb von 60 Tagen für ein Jahr selbständig einsetzbar sein sollen. Sie wird um eine zivile Komponente ergänzt. Um die Krisenregulierung nicht zu vernachlässigen, die im europäischen Verfassungsentwurf konzipiert ist, hat man 5.000 Polizisten bewilligt, 2.000 Personen für den Zivilschutz und 200 Experten für Rechtsstaatlichkeit - das sind diejenigen, die als letzte Truppe einrücken, um "Demokratie" im Protektorat einzurichten und durchzusetzen.
In wenigen Worten zusammengefasst: NATO und Europäische Union stechen sich nicht gegenseitig aus, sondern sie sind komplementär. [11] Sie sollen sich ergänzen. In den Vorstellungen der Führungsstäbe soll die EU dann, wenn die NATO, so wie in Bosnien oder Mazedonien, ihren militärischen Part abgeben will, einrücken, und zwar nicht nur zivil - was kann man mit 5.000 Polizisten und 200 Rechtsberatern in dieser Welt schon machen - sondern selbstverständlich auch mit ihren 60.000 Soldaten. D.h. es wird nicht etwa eine Konkurrenz aufgebaut, vielmehr geht es um wechselseitige Ergänzung, worauf die USA gedrungen haben. Denn auf die EU-Krisenreaktionskräfte haben sie faktisch keinen Einfluss, was wiederum einer der ersten Ansatzpunkte für die Franzosen, aber auch die Deutschen war, um dieses Projekt schon seit Mitte der 90er Jahre voranzutreiben. Man wünschte sich eine militärische Organisation unabhängig von den USA, in die sie nicht hineinreden können, eine Organisation, die vollkommen eigenständig ist, in der die eigene Souveränität ein eigenes militärisches Potential auffahren kann - und zwar weltweit. Wer die 350 Artikel des europäischen Verfassungsentwurfes sorgfältig gelesen hat, weiß, dass der weltweite Einsatz dieser Kräfte verfassungsrechtlich abgesichert werden soll.
V.
Schließlich ein letzter Aspekt. Er betrifft nicht nur eine regionale oder bundesrepublikanische Besonderheit, sondern kann auch für Österreich Bedeutung erlangen. Denn es stellt sich die Frage, wie man im Rahmen dieser Entwicklung mit der eigenen Gesetzlichkeit umgeht, nicht nur mit der UNO-Charta, dem NATO-Vertrag, den es nun so gar nicht mehr gibt, sondern auch mit der eigenen Verfassung. Da sind jene Beispiele besonders lehrreich, die zeigen, wie das in Deutschland gehalten wird.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Alles, was gegenwärtig geplant ist, um deutsche Truppen weltweit einzusetzen, ist mit der deutschen Verfas-sung völlig unvereinbar. Wie oben erinnert, erhielt Deutschland erst 1956 eine Armee, damals weil Deutschland in die NATO integriert werden sollte. Zu diesem Zwecke wurden im Grundgesetz einige Artikel nachgetragen, die alle an einem kleinen, nachgesetzten Buchstaben "a" kenntlich sind: Art. 87 a, 115 a Grundgesetz. Sie machten unzweideutig klar, dass ein Einsatz der Bundeswehr nur im Rahmen der Landesverteidigung zulässig sein kann. Die späteren Notstandsgesetzte erweiterten ihr Einsatzfeld auf Konflikte im Inneren und auf Notwendigkeiten bei Naturkatastrophen usw. - nach außen aber blieb es bei der Landesverteidigung. Die herrschende Interpretation gestand allerdings zu, dass die Bundeswehr im Rahmen der NATO auch die NATO-Partner an ihren Grenzen verteidigen müssten. Dabei stützte sich die Argumentation auf jenen Art. 24, der es erlaubte, sich in ein System gegenseitiger Sicherheit zu integrieren und hierbei auf eigene Souveränitätsrechte zu verzichten.
Brisanz gewann die Frage erst, als die Bundeswehr über die Grenzen hinausgeschickt werden sollte. Jugoslawien gehörte nicht zur NATO, Bosnien-Herzegowina und Somalia schon gar nicht. Was haben die Schiffe, die vor der Küste Somalias auch heute noch dümpeln, für eine Funktion? Wie sind diese Bundeswehreinsätze mit der Landes- oder der NATO-Verteidigung zu vereinen? Dieses war ein verfassungsrechtlich "wunder" Punkt, den die SPD seinerzeit politisch nicht ungenutzt lassen wollte. Sie rief das Bundesverfassungsgericht an und begründete ihre Klage damit, dass außerhalb des NATO-Einsatzraumes keineswegs erlaubt sein dürfe - sog. Out-of-Area-Einsätze -, was innerhalb des NATO-Bündnisses als akzeptiert gelte. Die Konsequenzen wurden schon damals deutlich formuliert. Wer jetzt Somalia sagt, kann später auch die Straße von Taiwan oder Mindanao meinen, was ist der Unterschied? Oder kann die Bundeswehr auch ohne Einwilligung des Parlaments am Kap der Guten Hoffnung eingesetzt werden? Was geschieht dann mit der Verfassung, was mit dem NATO-Vertrag?
Das Bundesverfassungsgericht hat eine ebenso berühmte wie bedenkliche Entscheidung getroffen, mit einem 4:4-Stimmenverhältnis: [12] Vier der acht Richter vertraten die Auffassung, die auswärtige Einsatzverwendung liege in der dynamischen Erweiterung des NATO-Vertrages, die ohne wietere parlamentarische Beteiligung zulässig sei. Die anderen vier Richter hingegen erkannten auf eine Veränderung des NATO-Vertrages, die allerdings, da der NATO-Vertrag nur mit der Ratifizierung durch das Parlament in Kraft getreten sei, einer weiteren Ratifizierung durch die Parlamente bedürfe. Man könne einen Vertrag nicht schleichend in etwas ganz anderes umwandeln. Diese Patt-Entscheidung entpuppte sich nach dem Verfassungsgerichts-Gesetz als Sieg derjenigen, die den Out-of-Area-Einsatz ohne Parlamentsbeteiligung legitimierten. Allerdings hatten diese vier siegreichen Richter doch ein schlechtes Verfassungsgewissen. So erzielten sie mit den übrigen vier Einstimmigkeit darüber, dass jeder konkrete Einsatz in einem Gebiet Out-of-Area durch einen Bundestagsbeschluss gebilligt sein muss. Wer so unsicher judiziert, der kann sicher sein, dass er den nächsten schwierigen Rechtsstreit selbst zeugt.
Er kam mit dem Beschluss der NATO-Strategie im April 1999. Denn die NATO-Strategie hatte bereits mit dem Krieg gegen Jugoslawien ihren ersten Anwendungsfall. Zwar verzichteten die Staats- und Regierungschefs nicht auf die Verteidigung (die man faktisch nicht mehr brauchte), aber jetzt rückten Rohstoffsicherung, ethnische und religiöse Rivalitäten, das Chaos sog. Failed-States, Somalia usw. in den Vordergrund militärischer Interventionen - und das war wirklich eine Änderung des NATO-Vertrages.
Das sah das Parlament, das damit gar nicht befasst war, kaum anders. Aber zu 95 % schien es keine verfassungsrechtlichen Bedenken zu haben. Nur eine Fraktion blieb noch, die sich hieran stieß, die Fraktion der PDS. Die SPD, die noch 1994 die Ausweitung verfassungsrechtlich gerügt hatte, war nunmehr ex officio einverstanden, weil sie jetzt die Regierung stellte. Auch die mitregierenden Bündnis 90/Die Grünen waren auf ihrer Seite, die CDU/CSU war seit jeher dieser Ansicht, und auch die FDP fügte sich, obwohl sie 1994 noch gegen den Out-of-area-Einsatz mit geklagt hatte. Nun stand nur die PDS dagegen und rief ihrerseits das Bundesverfassungsgericht an. Sie begründete ihre Klage mit der faktischen Veränderung des NATO-Vertrages und mit dem Erfordernis eines Parlamentsbeschlusses gem. Art. 59 Abs. 2 GG.
Interessant war der Auftritt des Sprechers des Bundestages, der vor das Bundesverfassungsgericht geladen worden war, um eine Stellungnahme des Präsidiums abzugeben. Niemand hatte sich hierzu bereit gefunden, weder Präsident Thierse (SPD) noch seine Vertreterin Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen), niemand aus dem Präsidium des Bundestages wollte begründen, weswegen der Bundestag gar nicht an einer solchen Entscheidung beteiligt werden will. Schließlich wurde der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses gebeten, Rupert Scholz, Mitglied der CDU. Er bestritt die Kompetenz der Abgeordneten, eine solche Frage der Außenpolitik entscheiden zu können. Dieses müsse der Regierung vorbehalten bleiben, die Abgeordneten seien gar nicht in der Lage, darüber zu entscheiden. Damit hatte sich das Parlament in dieser Frage selbst aufgegeben. Hiernach hatte das Bundesverfassungsgericht politisch leichtes Spiel und entschied: Eine Veränderung des NATO-Vertrages muss in der Tat durch das Parlament beschlossen werden, aber nicht seine Erweiterung. Da es sich bei der neuen NATO-Strategie allerdings lediglich um eine Erweiterung handele - denn die Verteidigungskompetenz der NATO solle unangetastet bestehen bleiben -, sei eine weitere Beteiligung des Parlaments nicht nötig. [13]
Vor dem Hintergrund der beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1994 und 2001 zeigt die Entwicklung in der Bundesrepublik, dass sich in einem schleichenden Prozess die Dynamik der NATO-Entwicklung, die Dynamik der Militarisierung der EU, ja die Dynamik der Militarisierung der Verhältnisse selbst gegen fest gefügte verfassungsrechtliche Schranken durchzusetzen vermag.
VI.
Das lässt nichts Gutes für die Zukunft ahnen. Daher richtet sich meine Schlussfrage an die Friedensbewegung und ihr Verhältnis zur NATO. Gibt es noch einen optimistischen Ausblick?
Die zentrale Forderung der Friedensbewegung war immer: Weg mit der NATO, wir brauchen sie nicht. Spätestens mit dem Jahre 1999 hatten sich die Voraussetzungen für eine solche Forderung definitiv und realistisch ergeben, denn da gab es keine Feinde mehr. Der Missbrauch des Völkerrechts durch die USA und die NATO zeigt allerdings, dass die Normen der UNO, eines kollektiven Sicherheitssystems, offensichtlich nicht für sich alleine funktionieren, sondern dass der Rückgriff auf ein Prinzip des 19. Jahrhunderts, das Gleichgewicht der Kräfte, immer noch erforderlich ist. Es genügt leider nicht, die Welt einer Hegemonialmacht zu überlassen, einer dominanten Macht, wie es zahlreiche europäische und US-amerikanische Intellektuelle bevorzugen. Das ist bei weitem die schlechtere Alternative zu dem, was im Augenblick vielleicht die NATO an Einbindung der USA noch bewirken kann.
Schauen wir auf die Realitäten, so müssen wir erkennen, dass die NATO nicht beseitigt werden wird, sie findet immer neue Legitimationen, sie findet immer neue Ziele und immer neue Perspektiven. Sie wird nicht nur bestehen bleiben, sie wird ergänzt werden durch eine militarisierte EU. Unser Problem mündet daher in den an uns selbst gerichteten Aufruf zur Zivilisierung dieser Instrumente, selbst wenn wir das Ziel ihrer Beseitigung nicht aufgeben. Das ist unsere Aufgabe.
Um dennoch einen optimistischen Schlusspunkt in einer aktuellen Beobachtung zu finden, sei daran erinnert, dass ohne die Friedensbewegung der deutsche Bundeskanzler Schröder zweifelsohne nicht den Weg gegen den Irakkrieg gefunden hätte. Was damals als lediglich wahltaktisches Manöver eines in die Enge getriebenen Politikers abgetan wurde, war die realistische Erkenntnis, dass diese Wahl eben nur gewonnen werden konnte, wenn er auf das Volk hörte, welches keinen Krieg wollte. Das mag einerseits mit unserer Weltkriegs-Vergangenheit zusammenhängen, nach der sich der Pazifismus vielleicht doch etwas stärker durchgesetzt hat, als wir gerne beklagen. Zum anderen hängt es mit der Entschiedenheit zusammen, mit der die Friedensbewegung immer wieder versucht hat, klar zu machen, dass es ein System von juristischen Regeln des Friedens gibt, das eingehalten werden muss. Schröder hat das erkannt, aus eigenem Antrieb, oder ob er zu dieser Erkenntnis gedrängt wurde, ist gleichgültig. Er hat damals die richtige Entscheidung getroffen. Hieraus beziehe ich meinen eigenen Optimismus, zu sagen: Selbst wenn wir in die NATO nicht hineinregieren, sie nicht zwingen können, so können wir doch viel bewirken - über das gesprochene und geschriebene Wort, durch Demonstrationen und Protest, durch Warnung und Vorschläge.
Fußnoten
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Transkript Ralph Luger; Anm. des Herausgebers: Der Beitrag beruht auf freier Rede, das hiervon gefertigte Transkript wurde in enger Abstimmung mit dem Autoren in weitgehendem Verzicht auf die persönliche mündliche Vortragsweise überarbeitet. Vgl. auch N. Paech, Neue NATO-Strategie - Neues Völkerrecht? In: Joachim Hösler, Norman Paech, Gerhard Stuby, Der gerechte Krieg? Neue NATO-Strategie, Völkerrecht und Westeuropäisierung des Balkans, Bremen 2002, S. 48-107.
- Eingehend hierzu siehe die Ausführungen von Hans-Joachim Heintze in diesem Band.
- Art. 5 Abs. 1 Nordatlantikvertrag v. 4. April 1949: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten."
- Bundesminister der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Bonn 26.11.1992.
- Lothar Rühl, Noch fehlen Europa die Armeen des 21. Jahrhunderts, Die Welt, 4.6.1996.
- Volker Rühe, Europa und Amerika - neue Partnerschaft für die Zukunft. Rede anlässlich der 32. Konferenz für Sicherheitspolitik am 4. Februar 1995 in München, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 9/1995, S. 73 ff.
- Frankfurter Rundschau Nr. 122, 27.5.2004, S. 28 f.
- Presse und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 24/S221, Bonn 3.Mai 1999: 50 Jahre NATO, Gipfelkonferenz in Washington, Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs in Washington,Das strategische Konzept des Bündnisses.
- Gerhard Schröder, Pressekonferenz am 25. April 1999, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Informationen zur Sicherheitspolitik, April 1999.
- Eingehend hierzu die Beiträge von Werner Ruf und Corinna Hauswedell in diesem Band. Vgl. auch N. Paech, Eine europäische Verfassung - für wen? In: Paech, N. / Rinken, A. / Schefold, D. / Wesslau, E. (Hrsg.), Völkerrecht statt Machtpolitik, Hamburg 2004.
- Siehe im Einzelnen die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestag von Oberstleutnant Burmeister, Das Verhältnis zwischen NATO und EU, Reg. Nr. WF II - 047/04.
- Vgl. BverfGE 90, 286 ff.
- Vgl. N. Paech, Die neue NATO-Strategie vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2002, S. 34 ff.
* Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.),
Projektleitung: Thomas Roithner: "Die Wiedergeburt Europas". Von den
Geburtswehen eines emanzipierten Europas und seinen Beziehungen zur
"einsamen Supermacht", Agenda Verlag, Münster 2004.
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