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Wertewandel beim Urheberrecht

Chatzimarkakis hat mich plagiiert!


Was denken die um ihr Zitat Gebrachten über die Praxis prominenter Politiker, ihre Doktortitel einst auf dem Kopierweg erworben zu haben? Ein betroffener Hochschullehrer packt aus.

Von Jörg Becker *

Nach langer Berufstätigkeit als Professor für Politikwissenschaft erfuhr meine sozialwissenschaftliche Arbeit eine bislang nicht erreichte Anerkennung: Mein Aufsatz „Internationale Medienpolitik“, 1998 in der Reihe „Schlaining Working Papers“ des Friedenszentrums Burg Schlaining in Österreich veröffentlicht, wurde in der von Georgios Chatzimarkakis - heute Europaabgeordneter der FDP – im Jahre 2000 an der Universität Bonn eingereichten Dissertation „Informationeller Globalismus“ geplündert. Mehr als hundert Zeilen - verstreut auf sechs Druckseiten - hat er ohne Anführungszeichen aus meinem Text übernommen, ohne Fundstelle, ohne Zitathinweis. Mit anderen Worten: Meine wissenschaftliche Qualität in einem sehr abseits veröffentlichten Aufsatz ist hoch genug, dass jemand anders mit Sätzen aus meiner Feder seine eigene wissenschaftliche Qualität begründen und seine Karriere darauf aufbauen kann. Super!

An dem Tag, als ich im Internet bei „vroniplag“ auf diesen Zusammenhang stieß, dachte ich: „Was für eine Anerkennung! Endlich begreift jemand objektiv, eben von außen kommend und in der großen Anonymität des Netzes, wie gut ich bin. Nicht länger meine Ehefrau, sondern endlich eine neutrale Instanz. Efcharisto, lieber Georgios Chatzimarkakis, für diese Anerkennung.“

Hierzu ein erster Gedanke: In der scheußlichen Bologna-Universitäts-Unwelt, in dem der dort verordnete Ungeist des „Publish or perish“ nur noch an quantitativen Indikatoren festgemacht wird, sollte bei der Ernennung zukünftiger Professoren deren Qualität daran gemessen werden, wie viele Sätze aus ihren Arbeiten in den Arbeiten anderer Wissenschaftler ohne Zitathinweis übernommen wurden. Welchen größeren Nachweis der eigenen wissenschaftlichen Qualität aber kann es geben als den, wie häufig man beklaut wurde?

Liebe VG Wort, beteilige mich!

Eine zweite Schlussfolgerung rufe ich der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) in München zu. Interessiert an einer für mich günstigen Honorarausschüttung, weiß ich, dass diese individuell sehr unterschiedlich hohen Tantiemen von der Zahl meiner Veröffentlichungen abhängen. Was aber ist mit meinen Veröffentlichungen, die nach außen nicht als meine Veröffentlichungen erkennbar sind? Also, VG Wort: Für das Jahr 2011 möchte ich zu einem noch mit Ihnen auszuhandelnden Prozentsatz an den Ausschüttungen für Georgios Chatzimarkakis beteiligt werden. Ich wäre für die Zukunft unter Umständen auch mit einer flatrate einverstanden, da davon auszugehen ist, dass die Kultur des Plagiats zunehmen wird.

A propos Finanzen. Ich selbst gehöre zur Gruppe der Sozialwissenschaftler in Deutschland, die als Privatdozenten oder Honorarprofessoren sehr gut ausgebildet, aber in das deutsche Universitätssystem dennoch mit keiner Festanstellung integriert wurden. Abgesehen von der volkswirtschaftlichen Vergeudung, hieß das für meine wissenschaftliche Biographie, dass ich einen Großteil meines Lebens als freier Unternehmer tätig war und bin. Mit dem Verkauf meines kritischen sozialwissenschaftlichen Denkens auf dem freien Markt verdiene ich weniger als Georgios Chatzimarkakis, der als Abgeordneter des Europäischen Parlaments rund 8000 Euro monatlich erhält.

Recht hat sie allerdings, die FDP, wenn sie sagt, dass Gerechtigkeit ein windiger Begriff sei, den man nur schlecht definieren könne und den sie politisch deswegen nicht für sich in Anspruch nehmen könne. In diesem Kontext kann ich mich natürlich noch an den Vorstoß von Wolfgang Clement erinnern, der als damaliges Mitglied der Programmkommission seiner SPD den Vorschlag gemacht hatte, die SPD möge in Zukunft den Begriff der Gerechtigkeit gegen den der Leistung austauschen. Recht hat auch er. Und recht hat Guido Westerwelle, der 2010 sagte: „Ich bleibe dabei: Leistung muss sich wieder lohnen. Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.“ Ich arbeite. Georgios Chatzimarkakis hat nicht gearbeitet. Er hat plagiiert. Es geht also wirklich nicht um Gerechtigkeit, sondern um Leistung.

Und mithin geht es um Werte. Zunächst fällt hier auf, dass sich die Debatte um den sogenannten Wertewandel ausgerechnet am politisch konservativen Lager von CSU und FDP festmachen lässt. Den Plagiatoren aus dem politisch konservativen Lager möchte ich gerne Elisabeth Noelle-Neumanns Vorstellungen von den Gefahren des Wertewandels vorhalten. Denn sie, nun keinesfalls linksverdächtig, war es, die prognostizierte, dass das Vordringen von Selbstentfaltung (blasse und äußerliche Schönheit, Modebewusstheit, Star-Allüren und so weiter) auf Kosten traditioneller bürgerlicher Werte (Ehre, Würde, Anstand, Zurückhaltung, Fleiß, Ordnung, Ehrlichkeit) zur Auflösung von Gesellschaft führe. Denkt man an Guttenberg, an Koch-Mehrin (Plakatkampagne mit Babybauch) oder an Chatzimarkakis' Selbstvermarktung in irgendwelchen Polit-TV-Shows, werden dann solche liberal-konservativen Plagiatoren zu den Vorboten einer hedonistischen Revolution von Gesamtgesellschaft? Das wäre durchaus spannend, denn Noelle-Neumann hatte ihre Vorwürfe bekanntermaßen an die Linke gerichtet, nicht an Vertreter von CDU, CSU und FDP.

Die FDP und das Eigentum

Mein weiteres Nachdenken über das Urheberrecht konfrontiert meinen Lieblingsplagiator Chatzimarkakis und seine FDP-Kollegin Koch-Mehrin mit Stellungnahmen der FDP zum Urheberrecht. Dazu zunächst Hans-Joachim Otto, heute Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswissenschaftsministerium: „Eine Gesellschaft, in der geistige Eigentumsrechte nichts mehr zählen, Kulturschaffende enteignet werden und eine intransparente Mammutbürokratie à la GEZ - womöglich noch nach politischen Kriterien - Geld verteilt, wird intellektuell und kulturell versiegen. Das wäre der Einstieg in den Kultur-Sozialismus.“

Dann Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): „Das Urheberrecht hat nicht nur eine materielle Seite, es hat auch einen ideellen Aspekt, es geht auch um die Persönlichkeit und die Anerkennung desjenigen, der ein Werk schafft . . . Wo die Zuordnung zwischen Werk und Urheber preisgegeben wird, droht die Gerechtigkeit auf der Strecke zu bleiben.“ Und nochmals Leutheusser-Schnarrenberger (immer noch FDP): „Eine Kulturflatrate - die stellen sich einige offenbar so vor, wie eine Internet-GEZ. Jeder Anschlussinhaber ist verpflichtet, einen Pauschalbetrag zu bezahlen, und kann dann sämtliche urheberrechtlich geschützten Netzinhalte nutzen. Aber was wäre die Konsequenz davon? Dies wäre eine Zwangskollektivierung der Rechte, die einen gewaltigen Verteilungskampf der Urheber um die Einnahmen zur Folge hätte.

Frei nach Otto und Leutheusser-Schnarrenberger ist Chatzimarkakis also ein Kultur-Sozialist und Zwangskollektivierer. Doch selbst das alte linksliberale Freiburger FDP-Programm von 1971 hätte einen solch gemeingefährlichen Linksradikalismus nicht abgedeckt. Und deswegen schlage ich den Parteiausschluss von Chatzimarkakis und Koch-Mehrin aus der FDP wegen grundsatzwidrigen Verhaltens vor.

Multilaterale Regeln für die Freiheit der Schwächeren

Ein dritter Punkt in der Urheberrechtsdebatte ging unter, weil auch versierten Urheberrechtsspezialisten oft nicht bekannt ist, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrem gesamten Text nur eine einzige Berufsgruppe explizit erwähnt und deren Ausübung unter den Schutz der Menschenrechte stellt. Und das ist ausschließlich der in Artikel 27 (2) erwähnte „Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst“. Mit anderen Worten: Chatzimarkakis hat nicht nur das Straf- und Zivilrecht verletzt, sondern hat außerdem ein Menschenrechtsvergehen begangen.

Das einzige Moment, das mich jenseits der offen bekannten Freude über das Klauen meiner Gedanken ärgert, ist schließlich die Qualität dieser Dissertation von Chatzimarkakis. Der Untertitel seiner Arbeit „Kooperationsmodell globaler Ordnungspolitik am Beispiel des elektronischen Geschäftsverkehrs“ verrät dem Leser mehr als ihr leicht ominöser und pompöser Haupttitel „Informationeller Globalismus“. Um was also geht es? Chatzimarkakis fragt nach Regeln für einen zunehmend globalisierten Handel über das Internet. Für eine Dissertation aus dem Jahre 2000 ist diese Frage durchaus neu. Doch auch für 2000 fehlt bei Chatzimarkakis die damals wichtigste internationale Fachliteratur, und damals wie heute ist es politisch ungeheuerlich naiv, nach irgendwelchen Gleichgewichtsmodellen zu suchen, die das Netz marktwirtschaftlich und quasi automatisch regeln. Nonsens.

In meinen Arbeiten über das Internet und die Globalisierung habe ich auf Abhängigkeiten, ungleiche Diffusionszeiträume, ungleiche geographisch-regionale Ballungen und Leerstellen, ungleich stark ausgestattete Akteure, ungleich starke Ressourcen der Nutzer im Vergleich zu den Ressourcen internationaler Industriekonglomerate aufmerksam gemacht. In der politikwissenschaftlichen Theorie der internationalen Beziehungen kann man mit Ernst-Otto Czempiel davon ausgehen, dass Asymmetrien den Normalfall, Symmetrien dagegen die Ausnahme darstellen. Darum suche ich in meiner Forschung stets nach multilateralen Regeln für die Freiheit der Schwächeren. Insofern ärgert es mich, dass Chatzimarkakis in seiner oberflächlichen Arbeit Sätze von mir klaut, die sich auf die neokoloniale Abhängigkeit Afrikas beziehen, die er dann aber nach seinen eigenen Marktmodellen und im Gegensatz zu meinem Erkenntnisinteresse in irgendein ominöses Gleichgewichtsmodell einbaut. Er hat mich also „gegen den Strich“ beklaut.

* Jörg Becker ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an den Universitäten Marburg und Bozen.

Der Beitrag von Jörg Becker erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Juni 2011. Wir dokumentieren den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Autors.


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Tag der Pressefreiheit am 3. Mai und Reporter ohne Grenzen. Von Jörg Becker (2. Mai 2011)
Medienfreiheit nicht nur für Ungarn
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"Hysterische Glaubenstiere"
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