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Das Nötige

In den Trümmern des großen Versuchs: Dem Politikwissenschaftler Gert Meyer zum 70.

Von Georg Fülberth *

Es wird ja wieder viel von intellektueller Elitenbildung geredet. Deren Förderung dient seit 1925 die »Studienstiftung des Deutschen Volkes«. In den 60er Jahren führte ein Vertrauensdozent Stipendiaten in die Kathedrale von Chartres, damit sie dort etwas über Baukunst und Geistigkeit erfahren konnten. Plötzlich begann einer der Zöglinge laut zu rechnen: Er wollte herausfinden, wie hoch wohl das Mehrprodukt gewesen sein müsse, das – den Bauern durch Abgaben und Frondienste abgepreßt – sich in der gotischen Pracht sichtbar machte. Dieser Materialismus wirkte irgendwie deplaziert.

Der Partyschreck hieß Gert Meyer und studierte in Frankfurt am Main u.a. Geschichte und Geographie. Bei Adorno und Horkheimer hörte er durchaus gern, aber er hatte einen starken Hang zum Historisch-Konkreten und ging deshalb nach Marburg. Sein Hauptfach dort war die Osteuropäische Geschichte mit dem Schwerpunkt Sowjetrußland in den 20er Jahren. Er übersetzte Dokumente des Proletkults und schrieb seine Dissertation über die Beziehungen zwischen Stadt und Land zu Beginn der Neuen Ökonomischen Politik 1921–1923: ein Trumm von 757 Seiten, aus dem gesamten zugänglichen sozialstatistischen Material herausgestemmt über ein Zentralproblem der politischen Ökonomie nach der Oktoberrevolution. Doktorvater war der Professor Peter Scheibert, eine große Nummer seines Fachs. Er war mächtig stolz auf seinen Meisterschüler. Dieser allerdings suchte ihn eines Tages auf und eröffnete ihm, daß er die Dissertation nicht bei ihm einreichen werde. Er hatte herausgefunden, daß der hoch verehrte Herr Professor als Untersturmführer der SS und Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes beim Kunst- und Aktenraub in der Sowjetunion und in Italien sehr aktiv gewesen war. Wolfgang Abendroth übernahm die Betreuung der Arbeit, Meyer wurde Dozent im Institut für wissenschaftliche Politik. Scheibert, in Panik, durchwühlte zum Abschied den Schreibtisch des Abtrünnigen auf der Suche nach einer Bombe.

Als Mitte der 70er Jahre viel über Stalinismus diskutiert wurde, legte Gert Meyer 1977 und 1978 drei Artikel »Industrialisierung, Arbeiterklasse, Stalinherrschaft in der UdSSR« in der Zeitschrift Das Argument vor, in denen – wieder auf Grund des sozialstatistischen Materials bis hinunter zu den Produktionsziffern von Sonnenblumenkernen und dem Vergleich des Zahlenverhältnisses von Gelernten und Ungelernten in US-amerikanischen und sowjetischen Fabriken – die stoffliche Grundlage des hier zu behandelnden Problems erörtert wurde. Wer sich diesem Thema allerdings nur im politischen Überbau nähern wollte, mochte mit dem Ergebnis nicht voll zufrieden sein. Es ging nicht um eine Zwangsläufigkeit, aber um die Beschreibung der Voraussetzungen, unter denen die Stalinherrschaft möglich, wenngleich nicht unvermeidlich war. Das Hessische Kultusministerium, an dessen Spitze damals ein sozialdemokratischer ehemaliger Polizeipräsident stand, fand wohl auch, so genau müsse man das alles nicht wissen. Professor sollte Meyer jedenfalls nicht werden. 1978 verlor er seine Stelle und schlug sich seitdem mit Lehraufträgen und wechselnden wissenschaftlichen Tätigkeiten durch, darunter ein paar Monate in China. Auch da konnte er das Forschen nicht lassen und kümmerte sich, was wohl nicht vorgesehen war, u.a. um lokale Oral History.

Über die Jahrzehnte blieb er bei seinem Thema: den ökonomischen und sozialstrukturellen Grundlagen der frühen sozialistischen Gesellschaften, unverändert mit dem Schwerpunkt in den 20er Jahren. Allgemeine Meinungsäußerungen hierzu hörte man von ihm nicht, es wurde dazu ja genug gequasselt. Statt dessen sollte die Sache selber zu Wort kommen, in Statistiken und dem Ergebnis von zeitgenössischer Enquête. Gert Meyer veröffentlichte die Ergebnisse einer Gewerkschaftsumfrage unter sowjetischen Metall-, Textil- und Bergarbeitern aus dem Jahr 1929, brachte einen Grundlagenband zum politischen und gesellschaftlichen System der Sowjetunion heraus und dokumentierte, die Anfänge waren halt schon lange vorbei, die Umbrüche der Gorbatschow-Zeit.

Ab 1991 hatte er wohl keine große Lust mehr, nach Rußland zu reisen, aber tat es sich dennoch an. Man kann sich vorstellen, wie er sich jetzt dort wie eine Katze in den Trümmern des großen Versuchs bewegte und mit angewidertem Erstaunen zur Kenntnis nahm, was daraus wurde. Als er genug gesehen und lange den Mund gehalten hatte, schlug er wieder zu, 2007. Unter der Adresse www.gertmeyer.ante-pro.de und der Überschrift »Rußland: Ergebnisse der gesellschaftlichen Transformation« legte er, in seiner üblichen Weise knapp kommentierend, 30 Tabellen vor, aus denen sich das Nötige ergibt: die Konturen einer Ungleichheits- und Rentenökonomie. Das Vorwort geht so: »Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen.«

So viel Sarkasmus hätte man diesem sanften Menschen gar nicht zugetraut. Heute wird er 70.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 25. Juni 2013


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