Wissenschaftler aus Passion und politischer Visionär
Erinnerung an Dieter Lutz
Er starb vor zehn Jahren, am 13. Januar 2003, auf einer Dienstreise in Berlin. Unter den Direktoren
des Instituts nimmt Dieter Lutz eine Sonderstellung ein.
Schon seinen beiden Vorgängern, Wolf Graf Baudissin und Egon Bahr, hatte er als Stellvertreter
zur Seite gestanden. So war ihm trotz seines frühen Todes mit 53 Jahren die Wirkungsdauer
eines Vierteljahrhunderts beschieden. In dieser Zeit hat Dieter Lutz das IFSH gestaltet
und mitgeprägt wie kein anderer. Er war der Motor des Instituts.
Viele Aktivitäten, die auch heute zum Institutsalltag gehören, gehen auf seine Initiative zurück:
das Zentrum für OSZE-Forschung, der postgraduale Masterstudiengang Peace and Security
Studies (M.P.S.), das Doktorandenprogramm, das Internationale Baudissin-Fellowship
für Offiziere und Forscher aus Osteuropa, die wissenschaftliche Buchreihe Demokratie, Sicherheit,
Frieden, die weiteren Reihen Hamburger Beiträge und Hamburger Informationen,
die Vierteljahresschrift Sicherheit und Frieden (S+F), die ausgedehnte Gutachter- und Beratertätigkeit.
Nicht zuletzt die Deutsche Stiftung Friedensforschung, die zahlreiche Arbeitsprojekte
des Instituts unterstützt, ist maßgeblich auf sein Betreiben entstanden.
Lutz war vieles in einem, Wissenschaftler aus Passion, Visionär und zupackender Organisator.
Das Thema, das ihn lebenslang nicht losließ, kreiste um die Frage nach dem adäquaten
Ordnungsrahmen der Sicherheit in Europa. Hier traf sich sein Erkenntnisinteresse mit den Intentionen
Egon Bahrs, der 1984 die Institutsleitung übernahm. Bahr kam nach Hamburg mit
einer noch fragmentarischen Ideensammlung zur rüstungskontrollpolitischen Konsolidierung
der europäischen Sicherheit, dem sogenannten Palme-Bericht über Common Security. Dessen
Lücken und Leerstellen kannte er am besten, denn er hatte ihn mit verfasst. Die aufarbeitende
Detailforschung band in den Folgejahren einen wesentlichen Teil der Zeitressourcen der Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen am Institut. Ab 1986 erschienen, herausgegeben von Bahr und
Lutz, im Jahresabstand die Arbeitsergebnisse in sechs Sammelbänden über Gemeinsame Sicherheit.
Diese Form der Projektarbeit illustriert am anschaulichsten, was Dieter Lutz von Friedensforschung
verlangte. Für ihn bemaß sich die Relevanz einer Untersuchungsfrage an der
Generalisierbarkeit der erwartbaren Ergebnisse. Was keinen konzeptionellen Lernertrag versprach,
durfte auf besondere Förderung nicht hoffen. Ebenso wenig fand er Geschmack an
Theorien des Theoretisierens wegen. Lutz sah Friedensforschung in einer Bringschuld gegenüber
der Politik, einer besseren, da leistungsstärkeren und friedensfähigeren Politik. Dass dieser
Aufgabe das analytische Handwerkszeug der Geistes- und Sozialwissenschaften allein
nicht gewachsen ist, hielt er für eine Selbstverständlichkeit. Erst eine auch hinreichend naturwissenschaftlich
fundierte Friedensforschung würde dem Anspruch genügen können.
Hatte Common Security im Grunde nicht viel mehr bedeutet als eine elaborierte Version der
Entspannungspolitik, so eröffnete der Epochenwechsel von 1989 Chancen für ein deutlich
ehrgeizigeres Konzept. Die logische Fortentwicklung gemeinsamer Sicherheit führt zu kollektiver
Sicherheit. Das Prinzip bezweckt, langfristig Krieg als Verkehrsform inter- und transnationaler
Beziehungen zu eliminieren. „Stärke des Rechts statt Recht des Stärkeren“ lautete die
gängige Pointierung. Nach dem Ende des west-östlichen Systemkonflikts, so die Prämisse,
war die Zeit reif für einen die Regelung aller Sicherheitsfragen in Europa präzisierenden Bauplan.
Noch einmal machte sich das Institut an ein gemeinsames Projekt. Die breit angelegte
Studie erschien unter dem Titel „Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert“ 1995 in deutscher
und 1996 in englischer Sprache. Die fachöffentliche Resonanz war ermutigend, doch die Politik
schlug das Diskussionsangebot aus, nicht unbedingt zu ihrem Vorteil.
Überhaupt die Politik. Was fängt sie an mit einem Institut wie unserem? Wie reagiert sie,
wenn es Vorschläge macht, die ihr missfallen? Fest steht: Sich öffentlich zu Wort zu melden,
Stellung zu beziehen, wo es um seine ureigensten Themen geht, ist ein dem IFSH per Satzungsauftrag
zuerkanntes Recht. Auf einem anderen Blatt steht, wie man es handhabt. Eine
umstrittene Aktion trug Dieter Lutz im Frühjahr 2001 die bitterste Niederlage seines Direktorats
ein. Oder war es am Ende doch eher ein Erfolg? Zunächst ging es nur um Fragen wie diese:
Darf die Bundesrepublik an einer bewaffneten Intervention mitwirken, wenn dies bedeutet,
gleichzeitig dem Grundgesetz, der UN-Charta und dem Nordatlantikvertrag zuwiderzuhandeln?
Begründen eklatante Verletzungen von Menschenrechten eine Art außergesetzlichen
Notstand? Kann die Fortentwicklung des internationalen Rechts solchen Ausnahmesituationen
begegnen?
Zunehmend dringlich warf im Herbst 1998 die Zuspitzung der Kosovo-Krise solche Fragen
auf. Viele Stimmen im Land zeigten sich enttäuscht von der neuen Bundesregierung, die eben
noch ihren Koalitionsvertrag unter das Motto „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“ gestellt
hatte, als sie schon auf den Kurs der Befürworter eines bewaffneten Vorgehens auf dem
Balkan einschwenkte. Zu den Enttäuschten zählte Dieter Lutz. Er wollte aber nicht nur einer
abweichenden Meinung Gehör verschaffen. Er drängte auf eine öffentliche Debatte über die
Lehren des Kosovo-Konflikts für die künftige sicherheitspolitische Orientierung der Bundesrepublik
und den Auftrag der Bundeswehr. Denn dazu hatte es positive Signale aus den Reihen
der beiden Regierungsparteien gegeben.
Erst als Monat für Monat verstrich, ohne dass sich die avisierte Gesprächsbereitschaft konkretisierte,
während rund um das Kosovo erneut der Gewaltpegel anschwoll, reifte der Entschluss,
den Diskussionsanstoß selbst zu geben. Die Form eines Offenen Briefes an die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages war Dieters Vorschlag. Verfasst und unterzeichnet haben
wir ihn zu zweit, deutlich in der Sache, aber respektvoll in Stil und Sprache, wie es sich
gehört, wenn der Bürger an seinen Souverän herantritt. Am zweiten Jahrestag des Kosovo-
Kriegs wurde der acht Seiten lange Brief unter dem Titel „Mehr Probleme als Lösungen, mehr
Fragen als Antworten“ veröffentlicht. Die Berliner Reaktionen kamen postwendend. Sie als
harsche Abfuhren zu bezeichnen, wäre noch eine milde Umschreibung.
Hatten wir wirklich alle Auswirkungen der Initiative bedacht? Das Institut drohte in raues
Fahrwasser zu geraten, wären neben den Kritikern des Offenen Briefs nicht auch zahlreiche
namhafte Unterstützer auf den Plan getreten. Altbundeskanzler Helmut Schmidt z.B. machte
in seiner Stellungnahme darauf aufmerksam, bei den erwähnten Rechtsbrüchen sei uns wohl
ein Zählfehler unterlaufen: Wir hätten den Zwei-plus-Vier-Vertrag zur staatlichen Einheit
Deutschlands übersehen, der vorschreibt, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen
werde.
Heute ist es die Bundesregierung, die dazu aufruft, die Grundlagen deutscher Sicherheitspolitik
zu debattieren. Damals scheiterte der Versuch, am konkreten Fall öffentliche Diskussionsund
Streitkultur zu erproben. Lutz hat die Enttäuschung über die schroffe Reaktion der Fraktionsspitzen
in Berlin nicht verhohlen. Aber keinen Augenblick ließ er sich beirren, seine Einsichten
weiterhin zu vermitteln – hier auf dem offenen Markt, dort mit diplomatischer Diskretion.
Auf taube Ohren stieß er nicht mehr. Die Terroranschläge des 11. September 2001 mit
der Invasion Iraks zu beantworten, lehnte er entschieden ab – diesmal nicht im Dissens, sondern
im Einklang mit der Bundesregierung. Anlässlich seines Todes titelte eine Tageszeitung:
„Der Wissenschaftler hinter Schröders Irak-Kurs“.
Dieter Lutz, was hat ihn ausgemacht als Lehrer und Chef, als Kollege und Freund? In meinen
Augen liefert den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit ein geradezu unerschöpflicher Vorrat
kreativer Energie. Was das Institut ist, was es leistet, leisten kann und deshalb morgen leisten
sollte, dazu verfügte er stets über einen Katalog zusätzlicher Ideen. Zielbewusst suchte er die
Wirklichkeit dem Vorsatz anzunähern. Erschien ein neues Buch in der blauen Reihe, war mit
Gewissheit das nächste schon in Arbeit und die folgenden zumindest geplant. Kein Wunder,
dass manch kritischem Geist das Tempo am Falkenstein bisweilen den Atem verschlug. Ihnen
allen hat Lutz viel abverlangt. Aber niemandem mehr als sich selbst.
Reinhard Mutz
Diese Erinnerung erschien am 13. Januar 2013 auf der Website des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH); siehe: www.ifsh.de
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