Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Frieden durch Angriffskriege?

Das zivilisatorische Projekt (des Westens) steht am Scheideweg

Von Dieter S. Lutz*

"Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts." (1) Dieses oft zitierte Wort des Friedensnobelpreisträgers und vormaligen Bundeskanzlers Willy Brandt aus dem Jahre 1982 steht vorläufig am Schluss einer kulturhistorischen und politischen Entwicklung, die dem Begriff Frieden über Jahrhunderte hinweg sowohl stark unterschiedliche Inhalte als auch abweichende Wertschätzungen zuwies. Heute dagegen wird der Begriff "Frieden" als Ziel politischen Handelns weltweit von fast allen politischen Systemen und Gruppierungen ausschließlich positiv in Anspruch genommen.

Spätestens seit der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 kann Frieden sogar als das zivilisatorische Projekt des Westens, wenn nicht gar der Einen Welt überhaupt, bezeichnet werden. Was dies meint, gibt die Präambel und Art. 1 Ziff. 1 der UN-Charta wieder: "Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren . . . setzen (uns) folgende Ziele: . . . den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um . . . Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen."

Mit anderen Worten: Das zivilisatorische Projekt zielt auf die Abschaffung von Krieg als Institution und auf die Eliminierung von Gewalt als gesellschaftliche und zwischenstaatliche Verkehrsform. An die Stelle von Machtinteressen und des Rechts des Stärkeren soll Gerechtigkeit und die Stärke des Rechts treten.

Ob und in welchem Umfang das Projekt zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes überhaupt zu realisieren war, mag dahingestellt bleiben: Nach Ansicht vieler standen Abschreckungssystem und Kalter Krieg in den Jahrzehnten nach 1945 nicht nur der Abrüstung und der Bildung einer effektiven Sicherheitsordnung entgegen, sondern auch der Verwirklichung einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung.

Die Hoffnung der Menschen, ja das Versprechen der Politik zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes aber war es, Kriege, aber eben nicht nur Kriege, sondern auch die anderen großen existenziellen Probleme wie Hunger, Massenarmut oder Umweltverschmutzung und Klimaveränderung zu lösen, wenn nur erst einmal Abschreckungssystem und Nuklearkriegsgefahr beseitigt wären. Die Überwindung des Ost-West-Konfliktes war somit immer sowohl Teil des zivilisatorischen Projektes als auch die Voraussetzung seiner Vollendung.

Entsprechend euphorisch waren die Erwartungen, die das Ende des Ost-West-Konflikts nach 1989 begleiteten. In der "Charta von Paris", der Erklärung der Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten von 1990, heißt es zum Beispiel: "Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit . . . Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen."

Heute, zwölf Jahre nach der Pariser Charta, sind nicht nur Euphorie und Hoffnungen verflogen. Das große zivilisatorische Projekt selbst - so scheint es - gerät zunehmend in Vergessenheit. Mehr noch: Die machttrunkenen Sieger des Ost-West-Konfliktes beginnen sogar, das Projekt in sein Gegenteil umzukehren: "Eine Dekade nach dem Ende des großen weltumspannenden Ost-West-Konfliktes" - so Ernst-Otto Czempiel - "sieht es in der Politik unerwartet düster aus. . . . Die Gewalt, so scheint es, ist auf dem Weg, sich all jener Fesseln zu entledigen, die ihr bisher vom System westlich-liberaler Normen und Werte, von der historischen Vernunft und vom Blick auf das Verhältnis von Aufwand und Ertrag angelegt worden waren." (2)

Und auch das jüngste "Friedensgutachten 2002" der fünf führenden deutschen Friedensforschungsinstitute stellt unter der Überschrift "Zur gegenwärtigen Situation: Aktuelle Entwicklungen und Empfehlungen" warnend fest: "(Es) zeichnet sich ein Politikwechsel ab: Militärische Gewalt soll enttabuiert und in das Arsenal gewöhnlicher außenpolitischer Instrumente zurückgeholt werden. Der ordnungspolitische Kern der UN und ihre größte Errungenschaft, das Gewaltverbot der Staaten, wird ausgehebelt, wenn der stärkste Staat dazu übergeht, gefährliche Regime durch Krieg zu beseitigen." (3)

Mit dem Hinweis auf den "stärksten Staat" im Zitat des Friedensgutachtens ist insbesondere die einzige verbliebene "Supermacht" angesprochen, deutlicher: die "Hypermacht" USA. Sie, die Vereinigten Staaten von Amerika, sind es, die nach den revolutionären Umbrüchen von 1989/90 zunehmend mit dem Konsens der Vergangenheit brechen, immer öfter aus der Gemeinschaft der Staaten und Völker ausscheren und möglicherweise - wenn auch ungewollt - Gefahr laufen, zu einem weitaus größeren Risiko für den Weltfrieden zu verkommen als es Länder wie gegenwärtig etwa der als "Schurkenstaat" indizierte Irak je vermochten oder vermögen werden.

Zu Recht zwar sieht Europa die USA noch immer auch als Vorbild. Die USA haben erreicht, was für andere Kontinente - auch Europa - noch aussteht: ein föderatives System, eine Bundesverfassung, eine gemeinsame Sprache, einen einheitlichen Rechtsraum, eine einzige Währung, eine gemeinsame Armee, keinen Krieg (im Wortsinne) auf eigenem Boden!

Aber kann es Europa wirklich akzeptieren, wenn sein Vorbild Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag nicht beachtet, Schulden bei den Vereinten Nationen (in Höhe von Milliarden Euro) nicht oder nur zögerlich und spät bezahlt, nichtregenerierbare Rohstoffe rücksichtslos wie kein anderes Land verbraucht, die Umwelt wie niemand sonst verschmutzt? Kann Europa wirklich schweigen, wenn die USA anders als der "Rest" der zivilisierten Welt Verträge wie das Landminen-Abkommen, die Vereinbarung über die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes oder wie das Abkommen über das Verbot des Tests nuklearer Waffen nicht unterschreiben oder gar zu torpedieren versuchen?

Richtig bleibt, dass nirgendwo auf der Welt zwischen zwei Regionen eine solch freundschaftliche, von hohen Sympathiewerten und zugleich ökonomischer Effizienz geprägte Beziehung besteht wie zwischen Europa und insbesondere Deutschland einerseits und den Vereinigten Staaten von Amerika andererseits. Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass Europa und Amerika im zunehmenden Maße getrennte Wege gehen. "Es ist an der Zeit", so Robert Kagan von der Carnegie Endowment for International Peace in Washington, "mit der Illusion aufzuräumen, Europäer und Amerikaner lebten in ein und derselben Welt oder besäßen gar ein gemeinsames Weltbild." (4)

Insbesondere außenpolitisch scheiden sich mittlerweile immer wieder die Geister: Nationale Größe und "Second to None!" oder seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes noch unverblümter und unverbrämt: "America First!" sind Ziele und Werte, die sich auf Dauer nur ein Staat mit dem Willen zum Hegemon, ja zur imperialen Herrschaft zu Eigen macht - zuerst nur mitunter, dann immer häufiger und schließlich als Regel auch jenseits des Völkerrechts, in jedem Fall zu Lasten Dritter, gegebenenfalls auch der eigenen Verbündeten in Europa.

Globale Interventionsfähigkeit und "power-projection" sind ferner außen- und interessenpolitische Orientierungen, die das Wesen einer militärischen Supermacht ausmachen, die den meisten europäischen Staaten aber grundlegend fremd sind. Die Folgen reichten bereits in den vergangenen Jahren vom völkerrechtswidrigen Helms-Burton-Gesetz/Libertad-Act über gigantische Rüstungsausgaben bis hin zur nahezu absoluten Dominanz in einer Vielzahl internationaler Organisationen, darunter insbesondere die Nato.

Mit ziviler Vorsorge und präventiver Friedenspolitik jedenfalls, wie sie die europäischen Konfliktlagen dringend erfordern - sei es in Bosnien oder in Kosovo, sei es auf Zypern oder in Mazedonien, sei es im Kaukasus oder in Tschetschenien und anderen Krisen- und Kriegsgebieten mehr -, hat eine solche politische Orientierung wenig gemein.

Es sind also nicht erst (und ausschlaggebend) die grauenvollen Verbrechen vom 11. September des Jahres 2001, welche die USA vom gemeinsamen zivilisatorischen Projekt haben Abstand nehmen lassen. Europa wollte (und will) das Projekt vor dem Hintergrund seiner historischen Erfahrungen vor und nach den Zweiten Weltkrieg.

Die USA dagegen stützten es mit Blick auf Abschreckung und Nuklearkriegsgefahr vor allem aus der vermeintlichen Position relativer Schwäche, sprich: abschreckungsbedingter Verwundbarkeit. Oder in Worten Robert Kagans: "Als die USA schwach waren, verfolgten sie die Strategie der Schwachen; nun, da sie mächtig sind, benehmen sie sich auch wie ein mächtiger Staat . . . Die militärische Stärke der Vereinigten Staaten hat in den USA die Neigung wachsen lassen, diese Stärke auch auszuspielen." (5)

Aus der Sicht einer Reihe europäischer Staaten bot der historische Umbruch von 1989/90 die Jahrhundertchance, die Lehren und Einsichten aus der Vergangenheit konzeptionell mit den neuen Gefahren und Bedrohungen hoch entwickelter Staaten und Gesellschaften, darunter auch der weltweite Terrorismus, zu verbinden. Die dominante Macht des siegreichen "Westens" war an dieser Chance jedoch nicht interessiert, ließ sie im Gegenteil ungenutzt verstreichen.

Nach einer kurzen ersten Periode zu Beginn der 90er Jahre, in der sich Euphorie und Larmoyanz mischten, wurde begonnen, Fehler auf Fehler zu setzen, ja das zivilisatorische Rad selbst wieder zurückzudrehen: Die Nato, im Selbstverständnis die "mächtigste Militärallianz aller Zeiten", fing an, gesteuert von ihrer Vormacht USA, nach und nach ihre zivile Konkurrenz, die OSZE, "wegzubeißen" und (mit etwas Verzögerung) auch die Vereinten Nationen zurückzudrängen.

Kriegsverhütung als Doktrin wurde aufgegeben, und die Verteidigungskräfte wurden bzw. werden zu Einsatzarmeen umgebaut.

An Stelle von Interessenausgleich wird seither Interessendurchsetzung, die Erweiterung des Interessenspektrums und die Ausdehnung des militärischen Interessen- und Einsatzgebietes propagiert. Die Stärke des Rechts, Kernelement des zivilisatorischen Projektes, wurde spätestens 1999 im Kosovo-Krieg durch das Recht des vermeintlich Stärkeren in ihr Gegenteil verdreht - ein erster, aber entscheidender Schritt auf dem Weg zum Strategiewechsel, weg von der Abschreckung hin zum Präventivkrieg, wie er nunmehr nachdrücklich in der aktuellen "National Security Strategy of the United States of America" vom 17. September 2002 legitimiert wird: "Wir dürfen unsere Feinde nicht zuerst zuschlagen lassen."

Zwischenschritte auf diesem Weg finden sich in einer Reihe von Regierungsdokumenten und Reden des US-Präsidenten oder anderen Vertretern der Administration, darunter der "Transformation Study Report. Prepared for the Secretary of Defense" vom 27. April 2001 oder der "Annual Report to the President and the Congress, Washington D.C., 2002" durch den Verteidigungsminister (Secretary of Defense), in denen die Transformationsziele des Pentagons beschrieben werden.

Zu den Zwischenschritten gehören aber schon heute reale politische Maßnahmen und Entscheidungen mit weitreichender strategischer Natur wie einerseits die Entwertung der Rüstungskontrolle, darunter die Kündigung des ABM-Vertrages zum 14. Juni 2002 oder die Ablehnung des Verifikationsprotokolls zur Stärkung des B-Waffen-Übereinkommens und andererseits der Beschluss immer neuer Rüstungsprogramme, darunter insbesondere die Beschaffung von Raketenabwehrsystemen und die umfassende Modernisierung der Nuklearstreitkräfte. Nicht zu vergessen auch die gewaltigen Steigerungsraten im Verteidigungshaushalt des Pentagon: Im Haushaltsjahr 2003 werden sich die Ausgaben auf zirka 396 Milliarden US-Dollar belaufen - der nominell höchste Militäretat aller Zeiten und etwa die Hälfte aller Weltmilitärausgaben von über 190 Staaten insgesamt.

Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, wenn US-Präsident George W. Bush in seinen Reden droht: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" oder US-Verteidigungsminister Donald H. Rumsfield die Herausforderung des neuen Jahrhunderts darin erblickt, die Nation zu verteidigen, und zwar "gegen das Unbekannte, das Ungewisse, das Unsichtbare und das Unerwartete". (6)

Wer so denkt, spricht und handelt, provoziert, was er zu verhüten vorgibt: ein sich ständig drehendes Rüstungskarussell und nimmer enden wollende Serien von Kriegen.

Europa und insbesondere Deutschland sollten sich an beidem nachdrücklich nicht beteiligen.

Europa und insbesondere Deutschland sollten im Gegenteil unbeirrt am zivilisatorischen Projekt festhalten, stets und beharrlich nach neuen Bündnispartner suchen und im Übrigen keinesfalls nachlassen im Bemühen, die USA von ihrem katastrophalen Irrweg abzubringen.

Fußnoten:
  1. Willy Brandt, Friedenssehnsucht und Friedenspolitik. In: 100 Jahre Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 1881 bis 1981, Bonn 1982, S. 13-23, hier S. 20
  2. Ernst-Otto Czempiel, Kehrt der Krieg zurück? Anamnese einer Amnesie. In: Merkur 635/2002, S. 197-209, hier S. 197f
  3. Friedensgutachten 2002, S. 3
  4. Robert Kagan, Die Wege Europas und der USA trennen sich. In: Frankfurter Rundschau vom 16. Oktober 2002, S. 14
  5. Ebenda
  6. Donald Rumsfield, Transforming the Military. In: Foreign Affairs May/June 2002, S. 23
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Stellungnahme, die Prof. Dr. Dieter S. Lutz, der Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) im Oktober 2002 für die Gustav-Heinemann-Initiative verfasst hat. Wir haben den Text lediglich um ein paar Fußnoten "erleichtert". Die Stellungnahme (mit allen Nachweisen) ist sowohl auf der Homepage des Instituts (www.ifsh.de) als auch der Gustav-Heinemann-Initiative (www.gustav-heinemann-initiative.de) verfügbar.


Zur Seite "Friedenswissenschaft"

Zurück zur Homepage