Von der "andauernden Freiheit" zum permanenten Krieg:
Konturen einer militärischen Globalisierung
Von Peter Strutynski
Vortrag auf der Sommerakademie des ÖSFK, Burg Schlaining, 8. Juli 2002
Der deutsche Soziologe Ulrich Beck hat einen Teil seiner Popularität sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass er in seiner sozialwissenschaftlichen Analyse in provokativer Form immer wieder gegen den marxistischen Stachel löckt. So wenn er beispielsweise in seinem grundlegenden Werk über die "Risikogesellschaft" den von Marx auf die Füße gestellten Hegel kurzerhand wieder auf den Kopf stellt, indem er formuliert: "In Klassen- und Schichtlagen bestimmt das Sein das Bewusstsein, während in Gefährdungslagen das Bewusstsein das Sein bestimmt." Und er sagt auch gleich, warum das so sein müsse: "Das Wissen gewinnt eine neue politische Bedeutung. Entsprechend muss das politische Potential der Risikogesellschaft in einer Soziologie und Theorie der Entstehung und Verbreitung des Wissens um Risiken entfaltet und analysiert werden." (Beck 1986, S. 31)
Nun wird sich niemand, und sei er ein noch so eingefleischter Materialist, gegen die Bedeutung des Wissens stellen - zumal in Zeiten der allgemeinen Pisa-Hysterie! Und das in diesem Zusammenhang einschlägige geflügelte Wort "Wissen ist Macht" stammt nicht zufällig aus den Reihen derer, die historisch eher auf die Wirkung der Klassenlage gesetzt haben und darauf, dass das Sein, die materiellen Verhältnisse, die realen Lebenslagen die Interessen verschiedener Teile der Gesellschaft nachhaltiger bestimmen würden als das reine Nachdenken darüber. Das Problem ist eben nur, dass es eine sozusagen systematische Lücke zwischen dem realen Sein und dem ebenso realen Schein gibt; dass die in der Regel vielfach gebrochenen Widerspiegelungen der Realität im Denken und Fühlen der Menschen der Realität kaum noch gerecht werden. Mehr noch: dass sie sich von der Realität in einer Weise emanzipieren, dass sie tatsächlich eine neue, eine andere Realität konstituieren, eine "Scheinwelt", in die man sich vorübergehend flüchten, in der man aber nicht aufgehoben sein kann.
Dass Ulrich Becks These, das Bewusstsein bestimme das Sein, eine derartige Karriere machen konnte, ist natürlich nur vor dem Hintergrund der schier übermächtig erscheinenden Bedeutung der Massenmedien zu verstehen. Was nicht in den Hauptnachrichtensendungen des Fernsehens oder in den großen überregionalen Boulevardzeitungen thematisiert wird, existiert für zwei Drittel der Menschen nicht. Damit ist aber der Gegenstand der Nicht-Meldung keineswegs aus der Welt geschafft. In vielen Kriegen und Bürgerkriegen Afrikas und Asiens, über die in den Medien nicht oder nicht mehr oder noch nicht berichtet wird, wird genauso getötet, verstümmelt, geraubt und vergewaltigt wie in den Kriegen, die es aus welchen Gründen auch immer zu einer gewissen Berühmtheit gebracht haben. Über Indien - um nur ein Beispiel zu nennen - werden ausschließlich die Kämpfe aus der indisch-pakistanischen Konfliktregion Kaschmir kommuniziert. Wer weiß dagegen, dass es im an Bevölkerung zweitgrößten Staat der Welt auch noch andere Kriege und andauernde bewaffnete Gewalt gibt - etwa im Unionsstaat Assam (hier finden in drei verschiedenen Regionen Kriege statt), in den Unionsstaaten Westbengalen, Bihar und Andhra Pradesh (hier kämpfen verschiedene Guerillabewegungen, die "Naxaliten" gegen staatliche Sicherheitskräfte und private Milizen), und im Bundesstaat Tripura, wo verschiedene tribale Minoritäten gegen eine bengalische Guerillabewegung kämpfen.
Der aufgeklärte Teil der Bevölkerung ist sich dieser systemischen Borniertheit der Mediengesellschaft natürlich bewusst. Für ihn existieren in dem Land, aus dem ich komme, eben nicht nur die Bild-Zeitung und die privaten Fernsehsender der in Auflösung befindlichen Kirch-Gruppe, sondern auch seriöse überregionale Zeitungen - die zwar auch nicht umfassend über das Weltgeschehen informieren, die aber wenigstens nicht so tun als ob. In Österreich ist das vermutlich nicht viel anders. Regierungen, deren Wahl zu einem guten Teil von ver"bild"eten Menschen abhängt, orientieren sich zunehmend an den Bildern, Werten und Begriffen, die von den spin doctors entworfen, von den Massenmedien kolportiert und den spin doctors zur allfälligen Neubearbeitung wieder vorgelegt werden. Aus diesem Zusammenspiel erwächst keineswegs eine neue Realität, vielmehr soll in den allermeisten Fällen nur das Bestehende zum Zweck seiner Legitimation neu interpretiert werden. Das Bewusstsein bestimmt also nicht das Sein, es bestätigt es höchstens.
Kommunikation und Propaganda
Die Abteilungsleiterin für öffentliche Diplomatie im US-Außenministerium, Charlotte Beers, hat vor vier Wochen in einer Rede vor dem auswärtigen Ausschuss des amerikanischen Senats ein Musterbeispiel für diese verkehrte Art der Wirklichkeitswahrnehmung abgegeben (Beers 2002). Sie setzt sich darin mit den Ergebnissen einer breit angelegten Gallup-Umfrage auseinander. Hier waren im Februar d.J. in neun vorwiegend muslimischen Staaten nahezu 10.000 Personen über ihre Haltung zu den Vereinigten Staaten befragt worden. Zwei Drittel der Befragten hatten eine negative Meinung von den USA. Dies kam sicher nicht überraschend in Ländern wie dem "Schurkenstaat" Iran. Dass aber in Kuwait, einem Land, das vor elf Jahren von den USA aus den Händen Saddam Husseins befreit worden war, auch nur 28 Prozent der befragten Einwohner den USA positiv gesonnen sind, musste zu denken geben. Als schockierend mussten auch die Ergebnisse aus Ländern wie Marokko und Saudi-Arabien empfunden werden. In Marokko, das traditionell über sehr gute Beziehungen zu den USA verfügt, konnten sich nur 22 Prozent der Bevölkerung zu einer positiven Meinung zu den USA durchringen; in Saudi-Arabien, immerhin der "stärkste Verbündete" der USA in der Region, waren es sogar nur 18 Prozent. Diese Zahlen decken sich übrigens mit anderen Ergebnissen externer und interner Meinungsumfragen ganz unterschiedlicher Institute in der Region. Charlotte Beers stellt sich in ihrer Rede diesem höchst unbefriedigendem Befund, indem sie darin eine "Herausforderung" sieht, "unsere Maßnahmen und Werte der Welt gegenüber effektiver zu vermitteln". In Weltregionen "wie den mehrheitlich von Muslimen bewohnten Gebieten im Nahen Osten und in Südasien", so erklärt sie dem auswärtigen Ausschuss, "ist es unerlässlich, dass wir auf die Bevölkerung zugehen, sie informieren, ausbilden und überzeugen, dass wir eine Gesellschaft sind, die auf bestimmten Werten gründet - Werten, die in der muslimischen Welt widerhallen, Werten wie Frieden, Akzeptanz, Glaube und Liebe für die Familie."
Auf die Idee, dass der Grund für die Kritik und Feindschaft in diesen Ländern auch etwas mit der realen Politik der Vereinigten Staaten zu tun haben könnte, mit ihrem arroganten Auftreten z.B., mit ihren militärischen Drohungen, auf diese Idee scheint Charlotte Beers überhaupt nicht zu kommen. Dabei sind die Probleme, die eklatanten Widersprüche zwischen den proklamierten amerikanischen Werten und den Taten der US-Administration mit den Händen zu greifen: Wie verträgt sich etwa die "Liebe zur Familie" mit der nicht zum ersten Mal vorgekommenen Auslöschung einer Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan? Oder wie verträgt sich der so hoch bewertete Begriff der "Akzeptanz" - er dürfte in der Sache dem von Immanuel Kant erhobenen Prinzip der "Hospitalität" sehr nahe kommen - wie verträgt sich dieser Begriff mit dem Präsidentenurteil: "Either you are with us, or you are with the terrorists"? Oder was ist von einem Bekenntnis zum Frieden zu halten, wenn gleichzeitig materielle Vorkehrungen zu einem permanenten Krieg in bis zu 60 Ländern der Erde getroffen werden? Solche Fragen stellt sich die Abteilungsleiterin für Diplomatie nicht. Stattdessen listet sie Aufgaben der Regierung auf, die alle darauf abzielen, die Kommunikation und Propaganda der US-Administration im Ausland zu verbessern.
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So erwähnt sie die Verbreitung der Broschüre "Das Netzwerk des Terrorismus", in der in dramatischer und anschaulicher Weise der Hergang und die Folgen der Anschläge vom 11. September dargestellt sind;
- sie zählt 21 Fernsehprogramme auf, die sich mit dem Feldzug gegen den Terrorismus befassen;
- sie erwähnt eine Ausstellung des Fotografen Joel Meyerowitz über die menschlichen und materiellen Dimensionen von Ground Zero - bis zum Ende dieses Jahres wird sie in 42 Ländern gezeigt worden sein und Hunderttausende von Menschen erreicht haben;
- sie preist die Websites ihrer Regierung über den Nahen Osten an, die nach ihrer Aussage seit dem 11.09. "konstant an der Spitze der Internetsuchmaschinen" stehen;
- sie verweist auf das Programm "Belohnung für Gerechtigkeit", das in mehrsprachigen Anzeigen die Bevölkerung auffordert, sachdienliche Hinweise zur Ergreifung mutmaßlicher Terroristen abzuliefern; angeblich sind auf diese Weise bisher "rund 30.000 Informationen" eingegangen;
- und schließlich habe sie eine Publikation mit dem Titel "This is Islam in America" herausgegeben, in der gezeigt wird, wie frei und ungehindert der islamische Glaube in den USA praktiziert werden könne; diese Broschüre ist z.B. an 500 Imame aus dem Nahen Osten verteilt worden.
Erschreckend an der Rede der Leiterin der Abteilung für öffentliche Diplomatie ist nun nicht, dass sie sich um eine Verbesserung der Kommunikation kümmert. Public-relations-Arbeit, Sympathiewerbung also, gehört schließlich zu den grundlegenden Aufgaben des diplomatischen Dienstes im Ausland. Erschreckend ist vielmehr, dass sich die Diplomatie offenbar nur noch mit dem Retuschieren von Bildern, nicht aber mit der Verbesserung der abgebildeten Realität befasst. Beers findet es "nicht länger tragbar, andere die Vereinigten Staaten, ihre Überzeugungen, Dogmen und Werte definieren zu lassen". "Es liegt in unserem kollektiven nationalen Sicherheitsinteresse, uns selbst gegenüber der Welt besser zu definieren." Eine solche Haltung lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Vereinigten Staaten ein exklusives Recht darauf haben, ihre Werte und ihre Interessen als die letztlich weltweit überlegenen und gültigen gegenüber dem Rest der Welt durchzusetzen. In einem Artikel, der sich mit den "geistigen Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik" befasst, hat der US-amerikanische Kolumnist William Pfaff vor kurzem diese Haltung beschrieben "als die unausgesprochene und unbeabsichtigte, nichtsdestoweniger sträfliche Leugnung der Möglichkeit, dass irgend ein souveränes Interesse über den Interessen Amerikas stehen könnte." (Pfaff 2002, S. 706)
Militarisierung der Weltpolitik: Trends und Beispiele
Wohin eine solche Haltung in der Weltpolitik führt, haben wir gerade in der Behandlung des Internationalen Strafgerichtshofs durch die US-Administration erlebt. Die vollkommen irrationale Ablehnung des ICC rührt von einer geradezu krankhaften Angst davor, Souveränitätsrechte an eine internationale Organisation auf Dauer abzutreten. Dabei hätten die US-Bürger selbst im Falle einer Anzeige von einem Weltstrafgericht tatsächlich nichts zu befürchten. Das Römische Statut, also der "Kodex" des ICC, das vor wenigen Tagen in Kraft trat, hat nämlich eine Reihe von Vorkehrungen getroffen, die eine Anklage vor dem ICC so gut wie ausschließen. Der ICC kann nur subsidiär tätig werden, d.h. wenn ein Staat nicht fähig oder nicht Willens ist, Fälle von vermuteten Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord zu verfolgen. Demokratische Rechtsstaaten, wozu die USA zweifelsfrei gehören, haben demnach immer die Möglichkeit, bei Anklagen gegen Landsleute sich selbst für zuständig zu erklären. Das Internationale Strafgericht muss in so einem Fall seine Befugnisse an die nationale Gerichtsbarkeit abtreten.
Viel Lärm um nichts also? Hinter dem irrational anmutenden Streit um die Immunität von US-Soldaten und die Zuständigkeit des ICC verbergen sich tiefer gehende Widersprüche zwischen den europäischen Staaten und den USA einerseits, zwischen den reichen Ländern der industrialisierten Welt und den armen Ländern der sog. Dritten Welt andererseits. Diese Widersprüche haben allesamt nichts mit dem 11. September und dessen Folgen zu tun. Die politische Rhetorik allerdings suggeriert eine direkte Kausalität zwischen den Terroranschlägen auf die New Yorker Zwillingstürme und den militärischen Reaktionen darauf. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass diese Reaktionen eingebettet sind in einen schon vor dem 11.09. sichtbaren längerfristigen Trend der Militarisierung der Außenpolitik
Dies lässt sich an zahlreichen Beispielen der europäischen und US-amerikanischen Politik zeigen. Ich nenne nur fünf Entwicklungen.
(1) Der Trend zur Militarisierung äußert sich etwa an der zunehmenden Beteiligung der NATO bzw. einzelner NATO-Staaten an Militäreinsätzen, seien sie UN-mandatiert wie der Einsatz der Internationalen Sicherungstruppe für die afghanische Hauptstadt (Isaf), seien sie völkerrechtlich umstritten wie der Krieg "Enduring Freedom" in und um Afghanistan, oder seien sie ohne jede völkerrechtliche Legitimierung wie der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999.
(2) Ein anderes Beispiel ist der Ausbau der Europäischen Union, die ursprünglich als reine Wirtschaftsgemeinschaft begonnen hatte, zu einem politischen und das heißt in erster Linie militärischen Staatenbündnis. Die entscheidenden Schritte wurden während der deutschen Präsidentschaft 1999 getan. Im Januar 1999 kündigte Außenminister Fischer vor dem Straßburger Europaparlament an, die EU müsse "die Fähigkeit zu einem eigenen militärischen Krisenmanagement entwickeln, wann immer aus Sicht der EU ein Handlungsbedarf besteht". (Zit. n. Pflüger 2000, S. 173.) Und nach einigen bi- und trilateralen Treffen mit Frankreich und Großbritannien wurde auf dem Gipfel in Köln Anfang Juni 1999, also nach nur fünf Monaten, die europäische Einsatztruppe endgültig beschlossen: Es sollte eine 60.000 Soldaten umfassende Interventionsstreitmacht installiert werden, die entweder im Rahmen der NATO oder eigenständig aktiv werden könne. Die weiteren Stationen im - gemessen an sonstigen Entscheidungsprozessen der EU - atemberaubenden Militarisierungsprozess können hier übersprungen werden. Am Ende trafen sich im November 2000 die 15 EU-Außen- und Verteidigungsminister in Brüssel zu einer "Truppengeberkonferenz", um - wie der Name schon sagt - endgültig abzustimmen, wie viele Truppen die einzelnen Staaten der EU-Militärmacht jeweils zur Verfügung stellen möchten. Einssatzfähig soll die Truppe im Jahr 2003 sein.
(3) Auf dem Weg zu einer "kohärenteren gemeinsamen Außenpolitik und Verteidigungspolitik", wie es in der Erklärung von Laeken (2001) heißt, muss die EU allerdings noch Hemmnisse in Form der neutralen Mitgliedstaaten beseitigen. Dabei handelt es sich nicht nur um juristische oder verwaltungstechnische Anpassungen, die von den einzelnen Staaten vorgenommen werden müssten; es geht um mehr. In Ihrem Land z.B. um nicht weniger als um die Annullierung des Verfassungsgesetzes aus dem Jahr 1955, mit dem sich Österreich zur "immerwährenden Neutralität" verpflichtete (vgl. Geistlinger 2002). In allen betroffenen Ländern (außer Österreich haben in der EU noch Irland, Finnland und Schweden einen neutralen Status) beobachten wir eine sich öffnende Schere zwischen dem Willen der Regierungen, die Neutralität als "unzeitgemäß" abzutun und zumindest neu zu interpretieren (der österreichische Bundeskanzler Schüssel sprach anlässlich der Verabschiedung eines neuen Sicherheitskonzepts von der "Weiterentwicklung" der Neutralität, Süddeutsche Zeitung, 24.01.2001) und dem Beharren großer Teile der Bevölkerung dieser Länder auf ihrer Neutralität bzw. Allianzfreiheit. Die Widerständigkeit der Bevölkerung gegen die eigene Regierung hat sich zuletzt im Aufbegehren der Iren gezeigt, die sich vor 13 Monaten mehrheitlich in einem Referendum gegen die Nizza-Verträge und damit auch gegen die weitere Militarisierung der EU ausgesprochen haben.
(4) Ein recht zuverlässiger Indikator für die Tendenz zur Militarisierung ist die Steigerung der Rüstungs- und Militärausgaben. Die neuesten Jahrbücher des renommierten Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI und des Bonner Konversionszentrums BICC kommen übereinstimmend zum Ergebnis, dass die wenigen Jahre der weltweiten Abrüstung von Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Episode bleiben. Der Conversion Survey 2002 des BICC belegt beispielsweise, dass die Militärausgaben weltweit im Jahr 1999 um zwei Prozent anstiegen, im Jahr 2000 um drei Prozent und im Jahr 2001 schätzungsweise um drei bis vier Prozent (BICC 2000). Geht man von den für 2002 angekündigten Erhöhungen aus, kann für dieses Jahr ein Wachstum um weitere vier bis fünf Prozent erwartet werden. Die globalen Militärausgaben werden, in laufenden Preisen, dann wieder bei ca. 900 Milliarden Dollar liegen. Der Bericht des Bonner Instituts weist ebenfalls nach, dass die Hauptimpulse für die neuerliche Aufrüstung von den USA ausgehen und schon vor dem 11. September 2001 eingeläutet worden waren. Noch als Präsidentschaftskandidat argumentierte George Bush im Herbst 2000, der US-amerikanische Verteidigungshaushalt sei zu niedrig, die Streitkräfte nicht ausreichend ausgestattet. Als Präsident konnte er seine Versprechen wahrmachen: Insgesamt wurde der Verteidigungshaushalt von 310 Milliarden Dollar im Haushaltsjahr 2001 auf 343 Milliarden Dollar für das Haushaltsjahr 2002 erhöht. Der US-amerikanische Verteidigungshaushalt soll im Haushaltsjahr 2003 auf 396 Milliarden Dollar gesteigert werden. In der gleichzeitig beschlossenen mittelfristigen Fünfjahresplanung 2003 bis 2007 sollen die Militärausgaben kontinuierlich angehoben werden bis zum geplanten Endwert von 469 Milliarden Dollar im Jahr 2007. SIPRI betont in seinem Jahresbericht, dass unter dem neuerlichen Rüstungswettlauf vor allem die ökonomisch schwachen Länder zu leiden hätten: In Eritrea fließt mehr als ein Fünftel der gesamten Produktion in den Militärbereich. Auch Burundi, Äthiopien und Ruanda sowie Bosnien, Kroatien und Serbien brauchen unverhältnismäßig viel für die Rüstung. "Ein Sechstel der Weltbevölkerung und jeder Vierte in den Entwicklungsländern leben von weniger als einem Dollar pro Tag. Unter diesen Umständen sind die weltweiten Rüstungsausgaben eine Zweckentfremdung von Mitteln, die man für die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse dringend benötigen würde", stellen die Stockholmer Friedensforscher bei der Präsentation ihres Jahresberichts fest. (Frankfurter Rundschau, 13.06.2002) Die großen Zentren der Aufrüstung aber sind neben den USA vor allem Russland, wo die nach dem Zerfall der Sowjetunion zusammengebrochene Militärindustrie wieder auf Touren kommt, der Nahe Osten und Südostasien. China war 2001 der größte Einkäufer von Kriegsgerät. Auch Saudi-Arabien, Taiwan und die Türkei rüsteten kräftig auf.
(5) Zu einem großen Teil gehen die neuerlichen Steigerungsraten bei den Rüstungsausgaben auf die Restrukturierung der Streitkräfte zurück, die sich zum Teil ganz neue Fähigkeiten zulegen wollen. Im wesentlichen haben wir es mit zwei Trends zu tun, die in fast allen Streitkräften der Industriestaaten wirksam werden: Einmal geht es um "die Umstrukturierung der Streitkräfte auf verstärkte Einsätze außerhalb der Kerngebiete des Kalten Kriegs in Europa", zum anderen um "die technologische Erneuerung der Ausrüstung der Streitkräfte" (Brzoska 2002, S. 169). Teuer kommt vor allem die mit dem Stichwort "RMA" (Revolution in Military Affairs) verbundene technologische Modernisierung der Armeen - eine Entwicklung übrigens, die bereits im Golfkrieg 1991 ihren Anfang nahm. Dabei dreht sich alles um das Ineinandergreifen von neuen strategischen Konzepten der Militärintervention und Erstschlagsfähigkeit ("Präventivkrieg" genannt) und der Fortschritte auf dem Gebiet der Computertechnologie. Ich nenne nur stichwortartig (vgl. hierzu ebd. S. 169 f):
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"intelligente" Munition, die präzise in ein (auch unterirdisches) Ziel gelenkt werden kann; hierzu müssen auch die im Frühjahr d.J. ins Gerede gekommenen sog. Mini-Nukes gerechnet werden;
- Flugzeug-, Schiffs- oder Panzerplattformen, die aus sicherer Entfernung Präzisionswaffen abfeuern und steuern können;
- Sensoren und deren unbemannte Trägersysteme (Drohnen), die in Echtzeit ein klares Bild der Kampfgebiete liefern;
- Technologie zur Ausschaltung der Kommunikation und der Aufklärungsmittel des Gegners;
- Defensivsysteme zum wirksamen Schutz der eigenen Truppen und des eigenen Territoriums (unter gewissen Umständen können solche Defensivsysteme die Grundlage bilden zur Erlangung einer Angriffsfähigkeit und vielleicht sogar einer Angriffsbereitschaft, siehe das US-Programm einer Nationalen Raketenabwehr NMD);
- Schließlich müssen diese neuen Technologien und Systeme mit den nach wie vor gebräuchlichen alten Kampfmitteln wie Kampfflugzeuge und Infanteriesoldaten "intelligent", d.h. wiederum mithilfe von neuesten Informations- und Kommunikationstechnologien vernetzt werden.
Dies alles zu realisieren, kostet doppelt Geld: Einmal wegen der erforderlichen Neuinvestitionen, zum anderen aber auch wegen der langen Nachlaufphasen alter Rüstungsprojekte. Beispielsweise ist der Eurofighter der Bundeswehr noch zu Zeiten des Kalten Kriegs beschlossen worden (damals unter dem Namen "Jäger 90"). Dieses hochentwickelte Kampfflugzeug war gedacht zum Einsatz gegen ähnlich hochgezüchtete Flugzeuge des damaligen Warschauer Pakts (ebd. S. 175). Heute verfügen nur noch mit Deutschland verbündete oder befreundete Staaten über solche Flugzeuge, der Eurofighter wird also schlicht nicht gebraucht. Dennoch wird er weiter gebaut und verschlingt in den nächsten Jahren Zig-Milliarden EURO.
Alle von mir genannten Beispiele zunehmender Militarisierung haben ihren Ursprung in der Zeit vor dem 11.09. Die Terroranschläge haben diese Trends nicht umgekehrt, sondern allenfalls beschleunigt. Und sie haben das, was dann sehr schnell der "Krieg gegen den Terror" genannt wurde, zum Teil auf neue Felder ausgedehnt. So wurden z.B. innerhalb kürzester Zeit in fast allen Industriestaaten Freiheitsrechte eingeschränkt und zahlreiche Maßnahmen zur effektiveren Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung, gezielt auch der Ausländer ergriffen. Die drei Menschenrechtsorganisationen "Reporter ohne Grenzen", Internationale Liga für Menschenrechte und Human Rights Watch legten Ende Januar eine Studie vor, in der gezeigt wurde, dass unter den 15 Staaten, in denen die häufigsten und nachhaltigsten sicherheitspolitischen Ausschweifungen und ein Abgehen von der Normalität zu beobachten sind, sich eine ganze Reihe führender westlicher Demokratien befinden (Reporter ohne Grenzen 2002). An der Spitze der "Hitliste" der freiheitsbeschränkenden Staaten stehen danach die USA, Großbritannien, Kanada, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland. Erst dahinter folgt auf dem sechsten Rang die Volksrepublik China.
11.09.2001: Kein Paradigmenwechsel
Der 11.09. hat auch nicht, wie damals in ersten hilflosen Reaktionen auf das Unfassbare häufig behauptet worden war, die Welt grundlegend verändert. Mittlerweile ist meist auch wieder Nüchternheit in der Beurteilung der Lage eingetreten. Je mehr die Ereignisse vom 11.09. in unserer Erinnerung verblassen und dem Alltag weichen müssen, desto mehr verlieren sie ihre epochale Bedeutung. Damals ging das geflügelte Wort, dass nun nichts mehr so sei, wie es war. Inzwischen wissen wir, dass schon vor dem 11.09. vieles war, was heute immer noch Bestand hat. Ich habe mir die Dokumentation der letztjährigen Sommerakademie des Österreichischen Studienzentrums für Friedens- und Konfliktlösung angesehen, sie fand vor dem 11.09. statt, und ich muss sagen, dass in vielen Beiträgen die weltpolitische Entwicklung mit großer Sorge betrachtet wurde, weil diese eher in Richtung einer globalen Militarisierung zu deuten schien als auf eine - wie es im Untertitel des Buches heißt - "Friedenspolitik an der Schwelle eines neuen Jahrtausends" (ÖSFK 2002). Lediglich der Fokus war noch ein anderer: Es ging vornehmlich um eine kritische Aufarbeitung des NATO-Krieges gegen Jugoslawien im Frühjar 1999 und seiner Implikationen für die Gestaltung der internationalen Beziehungen. Die zentralen Begriffe, die hierbei diskutiert wurden, waren die "humanitäre Intervention", das Verhältnis von Moral und Politik, das Verhältnis von Völkerrecht und Menschenrechten sowie die Zukunft der Vereinten Nationen. Der wesentliche Befund war kaum skeptischer als er heute sein könnte. Gerald Mader, der Begründer dieses Instituts, drückte dies in seinem Eröffnungsbeitrag wie folgt aus: "Sowohl die NATO als auch die EU scheuen eine öffentliche Diskussion ihrer offensiven Militärkonzepte... Die menschliche Solidarität zerbricht an der neoliberalen Gesellschaft und sie kann nicht durch den Ruf nach militärischer Solidarität ersetzt werden." (Mader 2002, S. 10.) Carola Bielfeldt befürchtete - aus heutiger Sicht völlig zu Recht - dass "die militärische Durchsetzung außenpolitischer Ziele für die Staaten, deren Überlegenheit eine maximale Zerstörung mit einer minimalen Zahl eigener Verluste erlaubt, wieder zu einer realistischen Option wird" (Bielfeldt 2002, S. 40). Und Werner Ruf warnte in seinem Beitrag vor einem "programmierten Rück-Weg in die Anarchie", der mit der "Errichtung einer einseitigen hegemonialen 'Ordnung'", geplastert sei, "die nur noch das Recht des Stärkeren zu kennen scheint" (Ruf 2002, S. 55).
Nicht viel Neues brachte auch die Diskussion um die angeblich so "neuen" Kriege im Schatten des Terrorismus. Vor allem die Medienöffentlichkeit griff nach dem 11.09. gern nach Erklärungsmustern, die die Terrortaten einerseits negativ mystifizierten und jeglicher diesseitigen "Rationalität" entkleideten, andererseits aber jenem "neuen" Kriegstyp zurechneten, der sich durch seine Innerstaatlichkeit, ethno-politische oder religiöse Motivierung, Privatisierung, besondere Grausamkeit und Ökonomisierung auszeichne. All dies wird in der Zunft der Friedens- und Konfliktforschung aber schon seit Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts diskutiert. Die Bürgerkriegsgrausamkeiten im ehemaligen Jugoslawien boten dafür genauso Anschauungsunterricht wie die Staatszerfallskriege in Somalia, die Privatkriege in Sierra-Leone und im Kongo oder der Völkermordexzess in Ruanda. Klaus Jürgen Gantzel von der Arbeitsgruppe Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg hat im jüngsten Friedensgutachten darauf hingewiesen, dass sich die "neuen" Kriege mit all den genannten Attributen sogar noch weiter zurückverfolgen lassen (Gantzel 2002). In der Tat belegen die empirischen Befunde der Kriegsursachenforschung(siehe zuletzt AKUF 2001), dass die Kriegshäufigkeit in den vergangenen Jahrzehnten fast kontinuierlich zugenommen hat, dass von den rund 220 Kriegen, die weltweit nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben, 85 Prozent innerstaatliche Gewaltkonflikte waren, dass sie sich fast ausschließlich an der Peripherie, insbesondere in Afrika, Lateinamerika und Asien abgespielt haben (bevor sie in den 90er Jahren wieder nach Europa zurückkehrten), dass sie mit zunehmender Grausamkeit ausgetragen werden und dass schließlich - aber dies ist sogar ein säkularer Trend - die Zahl der zivilen Kriegsopfer die der getöteten Soldaten heute um ein Mehrfaches übersteigt.
Solche Fakten sollen nicht etwa beruhigen, sie sollen aber die Relationen wieder zurechtrücken. Klaus Jürgen Gantzel warnt vor den möglichen Folgen einer unzulässigen Dramatisierung des Gewaltgeschehens und fragt, ob die "Neuentdecker" der scheinbar neuen Kriege nicht einer "tieferen Strömung zu Diensten sind. Ihre generalisierenden Darstellungen einer unmenschlichen Kriegswelt wecken diffuse Bedrohungegefühle, die geeignet sind, einer sich bis in Privatzonen hineinfressenden Sicherheitspolitik den Weg zu ebnen, die letztlich zerstört, was zu schützen sie vorgibt: eine starke demokratische Gesellschaft. Solche Bedrohungsgefühle können aber auch dazu genutzt werden, einem bloßen Draufhauen Vorschub zu leisten, etwa auf eine erfundene 'Achse des Bösen'." (Gantzel 2002, S. 88f)
Ein großer Teil der politischen Probleme in den internationalen Beziehungen heutzutage besteht darin, dass die ökonomisch und militärisch potenten Staaten der Ersten Welt auf mehr oder weniger diffuse Risiken mit einer massiven militärischen Aufrüstung im globalen Maßstab antworten und dabei jene Ressourcen vergeuden, die zu einer nachhaltigen Entwicklungspolitik zur Beseitigung von Hunger, Armut, Umweltzerstörung und Perspektivlosigkeit dringend benötigt würden.
Neue, alte und ganz alte globale Konfliktkonstellationen
Dabei steht die Welt schon seit dem Ende des Ost-West-Konflikts vor dieser Wegscheide, ohne bisher Anstalten gemacht zu haben, die neuen Herausforderungen wirklich anzunehmen. Eine Ursache dafür könnte darin liegen, dass sich der politischen Klasse die Brisanz der komplexen Weltlage noch nicht voll erschlossen hat. Nachdem man 40 Jahre gewohnt war, in den Schemata des Kalten Kriegs zu denken, war mit dessen Beendigung 1991 ein Zeitalter abrupt zu Ende gegangen. Statt Bipolarität, statt Systemauseinandersetzung konnte nun etwas ganz Neues entstehen, eine multipolare Welt, oder wenn es nach den USA ging, eine unipolare Welt unter der Hegemonie der USA. Ich halte dieser schematischen Denkweise entgegen, dass wir uns heute in einer Übergangszeit befinden, in der drei verschiedene Konstellationen nebeneinander existieren und möglicherweise eine brisante Mischung ergeben. Erstens hat der Kalte Krieg nicht wirklich aufgehört (1), zweitens stehen wir an der Schwelle eines neuen Kalten Kriegs (2) und drittens befinden wir uns auf der Rückkehr in die Zeit vor dem Kalten Krieg (3).
(1) Meine erste These - ich habe sie bei der STOP-Konferenz dieses Instituts im Februar d.J. schon einmal vorgetragen (Strutynski 2002) - lautet: Der Kalte Krieg, der in den 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der ganzen Welt seinen Stempel aufgedrückt hatte, ist nur aus einer eurozentrierten Perspektive beendet worden. In Ostasien und im pazifischen Raum hat der Kalte Krieg in Wirklichkeit nie zu existieren aufgehört. Dies hat damit zu tun, dass in Asien der große Antipode der USA, die Volksrepublik China, von der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts nicht betroffen war und nicht in den Strudel des Zerfalls des Realsozialismus geriet. Unabhängig davon, wie sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in China entwickeln werden, stellt das Land für die Supermacht USA eine große Herausforderung dar - auch wenn sich Peking zur Zeit selbst weniger als Supermacht, sondern allenfalls als Regionalmacht begreift. Dennoch ist sie in eine Reihe von Konflikten involviert, die über die Region hinaus weisen und die pazifische Hegemonialmacht USA auf den Plan rufen: der Streit um Inseln im Chinesischen Meer etwa oder - vor allem - Pekings Anspruch auf Taiwan. Dass der politische Wind im Fernen Osten rauer wird, hat der Flugzeugzwischenfall Anfang April 2001 schlagartig deutlich gemacht. Die Kollision eines US-Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Abwehrjäger über dem Südchinesischen Meer erinnerte fatal an ähnliche hochdramatische Vorkommnisse aus der Blütezeit des sowjetisch-amerikanischen Kalten Kriegs. Ähnlich provokativ für die chinesische Seite verläuft auch die mit gesteigerter Energie fortgesetzte Aufrüstungshilfe für Taiwan. Gleichzeitig verstärken die USA ihre strategische Militärkooperation mit Japan, das immer noch den größten "Flugzeugträger" für die USA, die Insel Okinawa zur Verfügung stellt. Schließlich erneuerten die USA und Australien Ende Juli 2001 - weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit - den 50 Jahre alten ANZUS-Pakt (Australien-Neuseeland-USA) und erwägen, ihn mit der Allianz USA-Japan-Südkorea zu verbinden. Auch die koreanische Halbinsel spielt eine herausragende Rolle in der Kontinuität des "Kalten Kriegs". Die "Sonnenscheinpolitik" des Jahres 2000, für die der südkoreanische Präsident Kim Dae Jung sogar den Friedensnobelpreis erhielt, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Beziehungen zwischen den beiden koreanischen Staaten und somit auch zwischen Nordkorea und der südkoreanischen "Schutzmacht" USA sozusagen strukturell schlecht sind. Das Seegefecht zwischen nord- und südkoreanischen Kriegsschiffen im Gelben Meer am 29. Juni d.J., bei dem vier südkoreanische Seeleute und möglicherweise auch eine Anzahl Nordkoreaner getötet wurden, hat die uralten Spannungen wiederbelebt. Und wenn Nordkorea die USA verdächtigen, den Zwischenfall "organisiert" zu haben (Frankfurter Rundschau, 03.07.2002), dann mag man das zwar unter der Rubrik "Propaganda" verbuchen, verständlich ist es aber allemal, nachdem US-Präsident Bush in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002 Nordkorea explizit seiner "Achse des Bösen" zugeordnet hat. Kalter Krieg also wie gehabt!
(2) Bestehen einerseits noch überkommene Strukturen des Kalten Kriegs fort mit der Tendenz sich wieder zu verfestigen, so ziehen gleichzeitig neue Strukturen eines "Kalten Kriegs" am Horizont auf. Diese sind zweifacher Natur. Einmal geht es um die hochgradig ideologisch ausgetragene Konfrontation zwischen der "zivilisierten" und der "nicht zivilisierten", der christlich-abendländisch-modernen Welt und der islamisch-mittelalterlichen Welt. Der unvermeidbare Zusammenstoß der Kulturen, den Samuel Huntington schon Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts kommen sah, scheint mit den Angriffen auf die Twin Towers eingeläutet worden zu sein. Die Kriegsrhetorik des US-Präsidenten in den vielen Reden, die er seither gehalten hat, beschwört einen solchen neuen Kalten Krieg geradezu herauf. Was die Situation heute von dem alten Kalten Krieg unterscheidet und so gefährlich macht, ist die Tatsache, dass die USA aufgrund ihrer militärischen Stärke diesen Kalten Krieg nach Belieben auch heiß führen können. Die zweite Variante des neuen Kalten Kriegs taucht in Asien auf. Hier ist die Schanghai-Kooperations-Gruppe zu nennen, die 1996 von China und Russland sowie den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan ins Leben gerufen wurde. Damit war nicht nur der Versuch verbunden, zu einer Verbesserung der regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu kommen, sondern auch die Absicht, der zunehmend als Bedrohung empfundenen Unipolarität des USA entgegenzutreten und den Anspruch auf eine "multipolare" Welt zu unterstreichen. Hinzu kam die gemeinsame Furcht vor dem Anwachsen islamistischer Bewegungen, die sich z.B. auch in Form einer uigurischen Unabhängigkeitsbewegung in der westlichen Provinz Chinas breit zu machen begann. Als sich im Juni 2001 Usbekistan der Gruppe hinzugesellte, benannte man sich in "Organisation für die Zusammenarbeit von Schanghai" (OCS) um. Ziel der nunmehr sechs Staaten ist es, die islamistische Bedrohung auch mittels militärischer Absprachen und Hilfen in Schach zu halten. Unverkennbar war aber auch die chinesisch-russische Stoßrichtung gegenüber den USA, denen man vorwarf, mit ihrem Engagement in Zentralasien Öl ins Feuer zu gießen (Sala 2002). Die Gegnerschaft gegen einen US-amerikanischen Unilateralismus dürfte auch in anderen Weltregionen zahlreiche unbotmäßige Staaten auf den Plan rufen.
(3) Die dritte Konstellation wird von den westlichen Industriestaaten (einschließlich Japans) selbst gebildet. Die Risse, die periodisch immer wieder zwischen den USA und den EU-Staaten virulent werden (ich habe den neuerlichen Streit um den ICC schon erwähnt und könnte zahlreiche Beispiele aus der Umwelt- und Handelspolitik heranziehen), deuten auf langfristige strategische Widersprüche hin, die über den Weg des politischen Kompromisses nicht endlos zu kitten sein werden. Die Hauptakteure sind wahrscheinlich dieselben, die schon vor hundert Jahren den Kampf um die Vorherrschaft ausgetragen haben. Nach dem bekannten Sozialwissenschaftler und Philosoph Immanuel Wallerstein (2002) waren dies seit 1873 Deutschland und die Vereinigten Staaten. Sie repräsentierten bis 1913 die erfolgreichsten Ökonomien und lieferten sich von 1914 bis 1945 einen "dreißigjährigen Krieg", der - in der Zwischenkriegszeit - nur von einem Waffenstillstand unterbrochen war. Deutschland hat nun im Rahmen der EU Verstärkung erhalten - die USA sind weiter auf sich gestellt und im Moment dabei, trotz weltweiten Engagements politisch in die Isolation zu geraten. Wallerstein gibt den USA nur noch zehn Jahre für den unabwendbaren Abstieg als einer entscheidenden Macht in der Weltpolitik. Schon heute sei es so, dass die USA lediglich auf militärischem Gebiet eine Weltmacht darstellen, ökonomisch seien sie es längst nicht mehr. Für Wallerstein stellt sich deshalb in dem ungemein anregenden Aufsatz, den er soeben in der Zeitschrift Foreign Policy veröffentlichte, nicht mehr die Frage, "ob die US-Hegemonie schwindet, sondern ob die Vereinigten Staaten einen Weg finden in Würde abzudanken, mit einem Minimum an Schaden für die Welt und für sie selbst." (Ebd., eig. Übersetzung)
Wenn dieser Befund von dem explosiven Gemisch dreier sich überlagernde Konfliktkonstellationen auch nur annähernd die komplexe Realität trifft, dann bleibt mir eigentlich nur die Empfehlung, dieses Pulverfass so schnell wie möglich politisch zu entschärfen. Und die Instrumente dafür liegen auf jeden Fall jenseits der gängigen machtpolitischen und militärischen Antworten. Zunächst aber - und damit kehre ich zum Anfang zurück - sollten wir in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft das Bewusstsein dafür schärfen, dass die internationalen Beziehungen nicht einem einzigen Muster gehorchen, sondern vielgestaltiger sind.
Literatur
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Gerald Mader (2002): Globe 2000 - Eröffnungsrede der Sommerakademie 2001. In: ÖSFK 2002, S. 9-12
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Immanuel Wallerstein (2002): The Eagle Has Crash Landed. In: Foreign Policy, Juli/August 2002 (http://www.foreignpolicy.com/issue_julyaug_2002/wallerstein.html)
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