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"Die Institute lehnen militärische Mittel nicht grundsätzlich ab"

Das Friedensgutachten 2007 in der Kritik - Rezension


Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler, Markus Weingardt, Reinhard Mutz, (Hrsg.): Friedensgutachten 2007, Lit Verlag, Münster 2007, 344 S. ISBN: 978-3-8258-0429-9

In ihrem gemeinsames Friedensgutachten 2007 treffen die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute eine beunruhigende Einschätzung. Die Autoren des Bonner Internationalen Konversionszentrum (BICC), der Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Instituts für Entwicklung und Frieden(INEF), des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) teilen die Auffassung prominenter US-amerikanischer Politiker und Wissenschaftler, die Welt stehe "vor einem neuen Nuklearzeitalter, gefährlicher und kostspieliger als der Kalte Krieg".

Das Gutachten umfasst in diesem Jahr Einzelanalysen von rund 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu aktuellen sicherheitspolitischen Themen. Es richtet sich an politische Entscheidungsträger wie an friedenspolitisch interessierte Bürger und wird seit einigen Jahren auch im Präsidium des Bundestags vorgestellt. Thematischer Schwerpunkt ist diesmal die Bundeswehr und ihr Wandel von einer reinen Verteidigungsarmee zu einer „Armee im Einsatz“. Die Beiträge des Friedensgutachten analysieren die steigende Zahl an Einsätzen (Balkan, Afghanistan, Kongo, Libanon) und bilanzieren sie kritisch. Was können sie erreichen? Was haben sie erreicht? Nach welchen Kriterien wird entschieden? Was ist von ziviler Krisenprävention als Alternative zu halten? Neben dem Schwerpunktthema widmet sich das Friedensgutachten brisanten Konfliktkonstellationen im Mittleren Osten sowie in Afrika und es erörtert die dramatische Machtverschiebung vom atlantischen in den pazifischen Raum. Der Friedensforscher kritisierte, dass der USA-Militäretat unter Präsident George W. Bush im Schnitt jährlich um 14 Prozent gewachsen sei. Weltweit werden für Streitkräfte und Rüstungen inzwischen nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) 1,204 Billion Dollar ausgegeben. Fast die Hälfte davon entfallen auf die USA, mehr als 70 Prozent auf die NATO insgesamt.

Auch im Nahostkonflikt fordern die Wissenschaftler ein größeres Engagement der EU. Angesichts der Probleme der USA in Irak gebe es dafür einen gewissen Handlungsspielraum. Man müsse auf die israelische wie die palästinensische Seite Druck ausüben. Die EU wäre gut beraten, mit Hamas Gespräche wieder aufzunehmen, um deren Pragmatiker zu stärken und die durch den Boykott abgebrochene Unterstützung der Palästinensischen Autonomiebehörde fortzusetzen. Israel fehle es derzeit an Mut und politischem Willen, die international seit langem anerkannten Ecksteine für eine Friedenslösung umzusetzen: Rückzug aus den 1967 eroberten Gebieten, Abbau der Siedlungen, wechselseitige Anerkennung beider Staaten und ihrer Sicherheitsbedürfnisse. Im Konflikt um das iranische Atomprogramm empfehlen die Friedensforscher Gespräche mit Teheran über Sicherheitsgarantien, Schritte zu einer nuklearwaffenfreien Zone und eine Multilateralisierung seiner Urananreicherung. Das Beharren auf der bisherigen Position und eine weitere Isolation des Landes werde die atomare Aufrüstung Irans eher befördern als verhindern. Dagegen sehen sie in Irak kaum mehr Erfolgschancen für externe Konfliktlösungen. Weder eine Verstärkung der USA-Truppen noch deren Abzug würde die Gewalt beenden.

Die Institute lehnen militärische Mittel nicht grundsätzlich ab. Doch fordern sie eine gründliche Evaluierung der Missionen und klare Kriterien für die Auslandseinsätze, denn die Bundeswehr dürfe "kein abrufbereites Dienstleistungsunternehmen für weltweite Krisenbewältigung werden". Seit 1994 hat der Bundestag laut Gutachten über 50 mal Auslandseinsätze der Bundeswehr beschlossen oder verlängert, längst nutze die Bundesregierung "Streitkräfte als Instrument außenpolitischer Interessenvertretung". Die Armee müsse jedoch das staatliche Instrument für den Notfall bleiben, nicht eines für den politischen Alltagsgebrauch. Gefordert werden "klare Kriterien für die Zulässigkeit und Ziele künftiger Bundeswehreinsätze". In einem Sechs-Punkte-Katalog formulieren die Sicherheitsexperten die aus ihrer Sicht unabdingbaren Mindestkriterien. Vorrang müssten immer zivile Alternativen besitzen, macht-, einfluss- und bündnispolitische Ziele dürften nicht den Ausschlag geben. Die Missionen sollten stets völkerrechtskonform und mit der UN-Charta vereinbar sowie in ein politisches Gesamtkonzept eingebettet sein.

Die Diagnose der Weltrüstungsordnung fällt insgesamt illusionslos aus: "Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung liegen in einer präzedenzlosen Agonie." Die Verantwortung für die "Hinrichtung der Rüstungskontrolle" wird bei der Koalition von Neokonservativen und militärgläubigen Nationalisten in den USA gesehen. Demgegenüber sei es dem Widerstand anderer westlicher Staaten wie Kanadas, Schwedens oder Deutschlands zu verdanken, dass von dem Gebäude einer Weltrüstungsordnung aus den neunziger Jahren "wenigstens noch einige Ruinen in brauchbarer Bausubstanz" erhalten blieben. Die Friedensforscher vermissen andererseits das Engagement der Bundesregierung, die zu wenig gegen die Renuklearisierung der internationalen Beziehungen tue. Zwar fehle es Deutschland an politischem Gewicht, einen umfassenden Abrüstungsfahrplan zu initiieren. Jedoch: "Der Abzug der rund 150 noch in Deutschland lagernden taktischen (US-)Kernwaffen wäre ein deutliches Signal", stellen die Experten fest. Auch die militärische Nutzung des Weltraums tangiere Europa, das besonders stark auf Kommunikationstechnologien im All angewiesen sei. Doch notwendige Verhandlungen über ein Verbot von Anti-Satellitenwaffen sind noch nicht einmal in Sicht. Das von Russland kritisierte Raketenabwehrprojekt der USA sollte nach Ansicht der Experten im Rahmen der NATO und der EU behandelt werden und dürfe kein bilaterales Thema zwischen Washington, Prag und Warschau bleiben.

Wolfgang Kötter, Universität Potsdam


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