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Machen Anthropologen Kriege weniger blutig?

James Der Derian über seinen Film "Human Terrain" *


James Der Derian ist Professor am Watson-Institute für Internationale Beziehungen der Brown-Universität in Providence (USA). Er schreibt regelmäßig Artikel für Fachzeitschriften und Zeitungen wie die »New York Times«. Der Derian ist Autor und Regisseur des Dokumentarfilms »Human Terrain« über die Aufstandsbekämpfung in Irak und Afghanistan, der am Dienstag in Berlin Premiere feierte. Martin Lejeune befragte James Der Derian für das "Neue Deutschland" (ND).

ND: Sie sind US-Amerikaner. Sind die aufwendigen und teuren Kriege Ihres Landes in Afghanistan und Irak gerechte Kriege?

Der Derian: Ich zitiere in meinem Film Wissenschaftler, die in E-Mails auf Rekrutierungsversuche des Militärs antworten: »Ich gehe nicht nach Irak oder Afghanistan, weil das keine gerechten Kriege sind.« Dieser Ansicht schließe ich mich an.

Die US-Armee wirbt Geistes- und Sozialwissenschaftler an, um ihre Strategie zur Bekämpfung von Aufständen zu verbessern. Was zieht einen Akademiker in den Krieg – Geld, Ruhm, Ehre?

Es gibt nicht den einen Grund. Dafür sind es zu viele und zu unterschiedliche Wissenschaftler mit verschiedenen Beweggründen und Absichten. Die meisten von ihnen jedoch wollen ihre Ideen und Kenntnisse in die Praxis umsetzen. Und sie glauben, dass die Kenntnisse, die Anthropologen über fremde Kulturen besitzen, dazu führen können, dass Kriege weniger blutig geführt werden. So empfehlen beispielsweise Anthropologen den Soldaten in Irak, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, um durch dieses äußere Erscheinungsbild mehr Sympathiepunkte unter der Bevölkerung sammeln zu können.

Ihr Film handelt von dem einflussreichen »Handbuch Aufstandsniederschlagung« von David Petraeus. Wer ist dieser General und warum ist sein Lehrbuch so einflussreich?

Petraeus übernahm nach der Zerschlagung des Regimes von Saddam Hussein zuerst die Aufgabe, die neuen irakischen Sicherheitskräfte aufzubauen und auszubilden, und er hatte das Kommando über ein sogenanntes multinationales Sicherheitszentrum in Irak. Bald stieg er zum Befehlshaber des übergeordneten US-Zentralkommandos auf. Seit Juli 2010 befehligt er die US- und die ISAF-Truppen in Afghanistan.

Nachdem sich die äußerst brutale Operation »Schrecken und Ehrfurcht« als Strohfeuer entpuppt hatte, legte das Pentagon angesichts der langen und erfolglosen Feldzüge in Irak und Afghanistan eine neue Strategie zur Aufstandsbekämpfung vor. Die wurde zuerst von Petraeus formuliert und sie verschob den Schwerpunkt von der Tötung des Feindes und der Eroberung von Gebieten zur Absicht, Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen. Von Petraeus stammt der Satz: »Das entscheidende Terrain ist das menschliche Terrain.«

Dieser Satz inspirierte Sie zu Ihrem Filmtitel »Human Terrain«.

Und der Titel bezieht sich auf das Human Terrain System (HTS), eine seit 2006 pro Jahr 40 Millionen Dollar teure Strategie, für die das US-Kommando Geisteswissenschaftler einspannt, um mit Hilfe soziokulturellen Fachwissens die Zahl der Opfer zu reduzieren. Die Wissenschaftler werden den US-Truppen im Kampfgebiet zugeteilt.

Sie erhielten bei Ihren Dreharbeiten die seltene Gelegenheit, einen Blick in das HTS-Hauptquartier der US-Armee in Kansas zu werfen. Was passiert hinter den Mauern eines Militärstützpunktes mit akademischem Anschluss?

Der Stützpunkt sieht wirklich nicht aus wie eine normale militärische Basis mit ihren großen Kasernen, Schießständen und Übungsgeländen. Sie gleicht vielmehr einem kompakten und familiären Universitätscampus, wie sie bei uns in den Vereinigten Staaten typisch sind. Es herrscht eine studentische und kreative Atmosphäre. Ich würde sogar sagen, die Wissenschaftler gehen dort mit der gleichen Inbrunst ihrer Arbeit nach wie zuvor in ihrem akademischen Elfenbeinturm an der Uni. Nur mit dem Unterschied, dass dieser Campus militärisches Sperrgebiet ist.

Wehrt sich eigentlich die Geisteswissenschaft inzwischen gegen die Instrumentalisierung ihrer Erkenntnisse durch das Pentagon?

Ja, allen voran die einst als »Dienstmädchen des Kolonialismus« bekannt gewordene anthropologische Wissenschaft. Sie ist äußerst entschlossen, ihre geliebte Unabhängigkeit zu bewahren, sich nicht einspannen zu lassen und zu verhindern, dass Kultur zunehmend zur Waffe gemacht wird. Auch um diesen Widerstand innerhalb der Wissenschaft zu zeigen, habe ich diesen Film gedreht.

Tatsächlich gibt es auch erste Wissenschaftler, die sich auf die Zusammenarbeit mit dem Militär eingelassen haben und nun an ihrer Entscheidung zweifeln, weil sie dadurch gleichermaßen zum Fremdkörper in der Armee und in der wissenschaftlichen Gemeinschaft geworden sind.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2011


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