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Historischer Tag für Katalonien

1,8 Millionen Menschen demonstrieren in Barcelona für Unabhängigkeit von Spanien

Von Mela Theurer, Barcelona *

Die Guàrdia Urbana, die Stadtpolizei von Barcelona, schätzte die Teilnehmerzahl auf 1,8 Millionen Menschen, während die Delegación del Gobierno, die Vertretung der spanischen Zentralregierung, nur 520000 gezählt haben wollte. Am Donnerstag hatten die Kulturorganisation Òmnium Cultural und die Katalanische Nationalversammlung (ANC) das dritte Jahr in Folge aus Anlaß des katalanischen Nationalfeiertags zu einer Großdemonstration für die Unabhängigkeit aufgerufen. Nach der 400 Kilometer langen Menschenkette 2013 sollten die Menschen in diesem Jahr auf den zwei zentralen Verkehrsachsen Barcelonas, der Avinguda Diagonal und der Gran Via, ein gigantisches »V« in den Farben der Senyera, der katalanischen Nationalflagge, bilden. Der Buchstabe stand dabei für »Voluntat« (Wille), »Votar« (Abstimmen), »Via« (Weg) und »Victoria« (Sieg). Über das Internet sollten sich die Teilnehmer für bestimmte Abschnitte der Strecke anmelden. Zunächst liefen diese Einschreibungen zwar nur langsam an, letztlich überschritt die Zahl der Anmeldungen aber die 500000. Die tatsächliche Beteiligung am Donnerstag übertraf dann aber alle Erwartungen. Viele Schätzungen lagen noch höher als die offiziellen Angaben der Polizei und gingen von zwei Millionen Demonstranten aus. Von der »größten Demonstration in der Geschichte Europas« sprachen die Veranstalter.

Schon im Vorfeld war absehbar gewesen, daß die diesjährige »Diada Nacional« ein besonderer Nationalfeiertag werden würde. Zum einen jährte sich sein Anlaß, die Niederlage Kataloniens gegen die spanischen und französischen Truppen im Erbfolgekrieg 1714 zum 300. Mal. Zum anderen soll am 9. November eine Volksabstimmung über eine Loslösung Kataloniens von Spanien durchgeführt werden. Während nach Umfragen mehr als 80 Prozent der Katalanen dieses Referendum befürworten, verweigert die spanische Zentralregierung die Durchführung. Die diversen Aktionen an diesem Tag waren deshalb Demonstrationen, die zum einen gegen die Haltung Madrids protestierten, zum anderen aber auch Druck auf die katalanische Regierung ausüben sollten, nicht nachzugeben.

Offiziell begonnen hatte die diesjährige Diada bereits am Vorabend mit einer historischen Geste der katalanischen Regierung. Zum ersten Mal legten mit Ministerpräsident Artur Mas, Parlamentspräsidentin Nuria de Gispert und Bürgermeister Xavier Trias Vertreter der Generalitat einen Kranz am »Fossar de les moreres« nieder. Diese mitten in der Altstadt liegende Grabstätte der Verteidiger Barcelonas gegen die Bourbonen 1714 ist seit Jahrzenten ein Symbol der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Offizielle Ehrungen finden ansonsten nur am Denkmal für Rafael Casanovas statt, damals der militärische Befehlshaber der Stadt. Regierungssprecher Francesc Homs erklärte dazu, ungewöhnliche Momente erforderten ungewöhnliche Taten.

Der Feiertag selbst begann neben mehreren offiziellen Festakten um 10.30 Uhr mit einer Gedenkveranstaltung für Gustau Muñoz. Der 16jährige Jungkommunist war am 11. September 1978 von der Polizei erschossen worden. Pilar, eine ehemalige Genossin des Ermordeten, erinnerte auch an die zahlreichen weiteren Opfer, die es seither im »demokratischen« Spanien gegeben hat, und an die über 400 politischen Gefangenen, für deren Situation sie eine Lösung forderte. Sie solidarisierte sich zugleich mit den unterdrückten Völkern der Westsahara und Palästinas und rief zum Widerstand gegen die rassistische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik des spanischen Staates auf. Verlesen wurde ein Brief von Lola López, einer inhaftierten ETA-Aktivistin. Zeitgleich fand im mulitkulturell und proletarisch geprägten Stadtteil Raval ein Stadtteilfest statt, mit dem gegen eine von der Stadtverwaltung genehmigte Zusammenrottung der neofaschistischen »Alianza Nacional« protestiert wurde. Diese hatte eine Kundgebung gegen den »Separatismus« angekündigt. Letztlich fanden sich, abgeschirmt von einem starken Polizeiaufgebot, lediglich rund 50 Faschisten ein. Bei einer weiteren Aktion in Madrid versammelten sich etwa 20 Neonazis in der Nähe der katalanischen Vertretung.

Insgesamt prägte aber eine euphorische und feierliche Stimmung die Ereignisse. Unter den Menschen, die seit dem frühen Morgen die Straßen Barcelonas füllten, waren viele, die aus anderen Teilen des spanischen Staates gekommen waren, um diesen historischen Tag mitzuerleben. So wollten zwei ehemalige politische Gefangene aus dem Baskenland die »Diada« möglichst intensiv miterleben und waren vom frühen Morgen bis zum Abschlußkonzert um Mitternacht auf den Beinen. »Ein historisches Ereignis, das vor fünf Jahren niemand für möglich gehalten hätte«, kommentierten sie ihre Erlebnisse. Allerdings zeigten sie sich skeptisch gegenüber der zu erwartenden Haltung der spanischen Regierung: »Sie wird mit allen Mitteln versuchen, diesen Prozeß zu torpedieren. Schmutziger Krieg und Repression werden auch im Kampf für die Unabhängigkeit Kataloniens nicht ausbleiben.« Ein Mitglied der für ihre spektakulären Aktionen bekannten »Andalusischen Arbeitergewerkschaft« SAT zeigt sich optimistischer: »Dieser Prozeß ist einzigartig. Getragen von einer breiten Volksbewegung ist er nicht mehr aufzuhalten.«

Nach Abschluß dieser Großkundgebung auf der Avinguda Diagonal und der Gran Via organisierte die radikale Linke wie schon in den vergangenen Jahren eine weitere Demonstration mit konkreteren Forderungen: »Unabhängigkeit – damit wir alles ändern können!« Die Teilnehmerzahl lag auch hier bei Zehntausenden.

* Aus: junge Welt, Samstag 13. September 2014


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