Katalonien für Unabhängigkeit
80 Prozent votieren für eigenen Staat. Klares Zeichen an Madrid
Von Mela Theurer; Barcelona *
Mehr als 2,25 Millionen Menschen haben am Sonntag in Katalonien über die Zukunft der Region abgestimmt. Auch wenn aus Madrid die Botschaft kam, dass dieser Mitbestimmungsprozess keine verbindliche Relevanz habe, wird der Tag die politische Landschaft Spaniens verändern. Der Urnengang war hart umkämpft, zweimal hatte das spanische Verfassungsgericht die Wahlen verboten.
Nach Auszählung von 97 Prozent der Stimmen wurde mit 80 Prozent eine klare Entscheidung für Katalonien als eigenen und unabhängigen Staat getroffen. Nur zehn Prozent können sich ein föderatives Modell vorstellen. Mit Nein votierte knapp ein Prozent der Wähler. An der Befragung beteiligten sich rund 42 Prozent der Stimmberechtigten.
Am 19. September hatte sich eine große Mehrheit der Parteien im katalanischen Parlament für ein Referendum über die Unabhängigkeit ausgesprochen. Als Wahltag wurde der 9. November festgelegt. Die Entscheidung wurde jedoch am 3. Oktober vom spanischen Verfassungsgericht gekippt. Daraufhin zerbrach der Bündnis der Pro-Referendum-Parteien in Barcelona.
Artur Mas, Präsident der Generalitat, kündigte am 14. Oktober im Alleingang eine alternative Befragung in Form eines Mitbestimmungsprozesses an. Die Unabhängigkeitsbewegung, getragen von der »Katalanischen Nationalversammlung« ANC und dem Kulturverein Òmnium Cultural, riefen alle Parteien zur Einheit auf. Ihnen gelang es, eine breite Unterstützung für die abgewandelte Volksbefragung zu schaffen. Am 31. Oktober setzte das Verfassungsgericht aber auch diesen Mitbestimmungsprozess wieder außer Kraft.
Doch über 40.000 freiwillige Wahlhelfer konnten gewonnen werden. 1.317 Wahllokale wurden von Gemeinden und Rathäusern gestellt. Lediglich bei Tarragona waren einige Wahllokale mit Silikon verklebt worden; in Girona drangen fünf Faschisten in ein Wahllokal ein und beschädigten eine Urne.
Die ANC hatte zu einer Massenmobilisierung aufgerufen. Die Regierung übernahm letztlich die volle Verantwortung für die Abstimmung. Ihr schlug eine Gegenkampagne entgegen. Doch weder diese noch die zaghaften Proteste, die von der rechten Volkspartei PP, der prospanischen Vereinigung »Ciutadans« und der rechten Gruppierung »Wir haben noch Zeit« organisiert wurden, konnten die Bewegung stoppen.
Inzwischen haben die rechten Parteien »Union des Fortschritts und der Demokratie« (UPyD) sowie die »Plattform für Katalonien« (PxC) eine neue Klage gegen Mas und weitere Politiker vorgelegt. Außerdem haben sie die Armee zum sofortigen Eingreifen und zur Schließung der Wahllokale aufgerufen. Sie fordern zudem die juristische Verfolgung der freiwilligen Helfer. Drei Richter, die am Sonntag im Einsatz waren, lehnten die Eingabe ab.
Die ANC traf sich am Sonntag abend, um den Abschluss der Kampagne zu feiern. Mas schickte seine Botschaft an die Zentralregierung in Madrid: »Katalonien hat seine Meinung für die Unabhängigkeit ausgedrückt. Die Abstimmung war ein voller Erfolg und ein gigantischer Schritt, um über unsere Zukunft zu entscheiden.« Mit dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy möchte er nun über ein bindendes Referendum verhandeln. Am heutigen Dienstag will Mas die kommenden Schritte bekanntgeben.
* Aus: junge Welt, Dienstag, 11. November 2014
Signal mit Wenn und Aber
Katalonien hat abgestimmt
Von André Scheer **
Mehr als zwei Millionen Katalanen haben am Sonntag ihre Meinung gesagt – und aus Madrid verlautet nur, das sei »illegal« und »ohne Bedeutung«. »9-N«, der so lange umstrittene und erwartete 9. November, hat den Konflikt zwischen der spanischen Zentralmacht und den katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen wie erwartet nicht entschärfen können. Nun ist die Zeit der Interpretationen gekommen.
Von rund fünf Millionen Wahlberechtigten gingen nach Angaben der Generalitat, der katalanischen Regionalregierung, 2,25 Millionen zur Abstimmung. Eine Beteiligung von rund 45 Prozent bei einem zweimal verbotenen und nicht bindenden Referendum ist beachtlich und ein großer Erfolg der Initiatoren – zumal sie in etwa der Teilnahme an früheren offiziellen Referenden entspricht. Doch wie nimmt sich diese Zahl verglichen mit den nach Polizeiangaben 1,8 Millionen Menschen aus, die am 11. September in Barcelona für die Unabhängigkeit demonstriert haben? Noch dazu haben mehr als zehn Prozent der Teilnehmenden entweder komplett »nein« zur Eigenständigkeit gesagt oder »ja – nein«: »Ja« dazu, dass sich Katalonien als Staat konstituiert, aber »nein« dazu, dass dieser Staat unabhängig werden soll. Zu einem solchen gesplitteten Votum hatte zum Beispiel das Linksbündnis ICV-EUiA aufgerufen.
1,8 Millionen am 11. September auf der Straße, eine ähnliche hohe Zahl »Ja«-Stimmen am 9. November – hat die Unabhängigkeitsbewegung ihren Höhepunkt erreicht? Gehören alle anderen der fünf Millionen Wahlberechtigten zu der von Madrid und der spanischen Rechten so oft beschworenen »schweigenden Mehrheit«? Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, wäre ein echtes, ordnungsgemäß durchgeführtes und von allen Seiten anerkanntes Referendum. Doch die Muskelspiele der spanischen Zentralregierung, die provokatorischen Truppenbewegungen in den Tagen vor der Volksbefragung und die – noch vereinzelten – Übergriffe neofaschistischer Gruppen auf Wahllokale am Sonntag lassen anderes, Schlimmes befürchten.
Die Katalanen haben am Sonntag demonstriert, dass sie zu einer demokratischen Lösung bereit sind. Zudem haben sie auch ein Beispiel für Wahlen ohne Rassismus und Nationalismus gegeben: Abstimmungsberechtigt waren alle dauerhaft in Katalonien lebenden Menschen ab 16 Jahren – auch Ausländer. Wer aus einem EU-Staat stammt, musste zwei Jahre in Katalonien gelebt haben, wer aus einer anderen Region kommt, vier Jahre. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, die für ihren Internationalismus und ihre Solidarität mit progressiven Regierungen und Organisationen etwa Lateinamerikas, der Westsahara oder Palästinas, aber auch mit Arbeiterprotesten in anderen Teilen Spaniens seit Jahrzehnten bekannt ist, nicht mit reaktionären nationalistischen Strömungen in einen Topf geworfen werden sollte.
** Aus: junge Welt, Dienstag, 11. November 2014 (Kommentar)
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