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Solidarität unter freiem Himmel

Die "Bewegung 15-M" lebt auch in Suppenküchen auf den Plätzen Spaniens weiter

Von Maria José Esteso Poves und Carmela Negrete *

Vor drei Jahren brach von den Plätzen Madrids eine Welle des Protests los. Die Aktivisten kümmern sich heute um die grundlegendsten Bedürfnisse der unter den Folgen der Krise leidenden Bevölkerung.

Auf dem Platz Tirso de Molina in Madrid bildet sich an diesem Dienstag eine lange Schlange von Menschen. Sie warten geduldig darauf, dass die Essensausgabe beginnt. Bei der Open-Air-Suppenküche erhalten Bedürftige jeden Nachmittag von Montag bis Donnerstag eine Portion warmes Essen, ein Sandwich und Obst. Die rund 120 Portionen, die sich die Menschen heute an dem kleinen Tisch an einem Ende des Platzes abholen, gehen schnell zur Neige. Jeden Tag nehmen mehr Menschen das Angebot wahr, das aus privaten Spenden finanziert wird, und die Helfer bereiten mehr Essen vor. »Da kommen durchaus auch gut angezogene Leute, die uns erzählen, wie sie alles verloren haben«, berichtet Venerando Alhambra. Der Buchverleger hilft in seiner Freizeit regelmäßig beim Kollektiv »Casa Solidaria«, das für die Essensverteilung verantwortlich ist.

Die Ehrenamtlichen hier sind fast alle Aktivisten der »Bewegung 15-M«, die heute ihren dritten Jahrestag feiert. Am 15. Mai 2011 begann in Spanien die größte Protestwelle seit dem Tod des Diktators Francisco Franco – daher der Name der Bewegung. Tausende Bürger jedes Alters verliehen ihrer Empörung über die herrschende Politik in Spanien Ausdruck, indem sie auf die Straßen und auf die Plätze gingen. Sie prangerten Korruption, den Mangel an sozialer Gerechtigkeit und die »Diktatur der Banken« an. Symbol jenes Protests war die fast einen Monat andauernde »acampada«, ein Zeltlager auf der Puerta del Sol, zwei Minuten zu Fuß vom Tirso de Molina.

Die Zeltproteste und öffentlichen Versammlungen verbreiteten sich daraufhin im ganzen Land. Zum ersten Mal organisierten sich die Bürger in Massen, um Politik von unten zu betreiben. Nach den ersten Monaten verlor der Widerstand seinen lautstarken Charakter. Doch während die Regierung von Mariano Rajoy die »Bewegung 15-M« als »tot« bezeichnete, hat sie lediglich mehr Praxisbezogenheit entwickelt. Die spanischen Empörten sind weiterhin in den Vierteln der Städte und auch im ländlichen Gebiet aktiv und schaffen vor allem Strukturen zur Selbsthilfe, wie auch hier auf dem Platz.

Die Idee der »Casa Solidaria« kommt aus Portugal. Sie hat sich in mehreren Vierteln Madrids etabliert. Auch nach Barcelona ist sie geschwappt, wo Menschen in selbstorganisierten Projekten das zur Verfügung stellen, was viele angesichts der Untätigkeit des spanischen Staates entbehren müssen: eine warme Mahlzeit. »Die 15-M-Bewegung als zivile Revolution hat sich als wichtiges Ereignis in die jüngste Geschichte eingebrannt. Sie hat die Gesellschaft aus dem Schlaf gerüttelt und das politische Interesse wieder erweckt«, erklärt einer der Aktivisten, der einen Teil des ausgegebenen Essens heute bei sich zu Hause vorgekocht hat.

Die Bewegung zeichnet sich durch ihre Wandlungsfähigkeit, Offenheit und Spontanität aus. Die Suppenküche wurde ursprünglich von einer losen Gruppe betrieben. Nach und nach schlossen sich ganz verschiedene Menschen an, mittlerweile ist das Projekt ein eingetragener Verein. »Wir haben sogar einen Priester als Ehrenamtlichen unter uns. Wir fragen die Leute, die mithelfen wollen, nicht nach ihrer Ideologie«, sagt Alhambra.

Diese Art von Sozialarbeit wird in Spanien traditionell hauptsächlich von kirchlichen Organisationen wie der Caritas, einigen Nonnenklöstern sowie dem Roten Kreuz übernommen. In einem Land aber, in dem mit rund sechs Millionen Menschen mehr als ein Viertel der Bevölkerung arbeitslos ist, sind diese Organisationen klar überfordert. Nach Angaben des Weltkinderhilfswerks UNICEF ist in Spanien bereits eines von vier Kindern von Armut betroffen. Das hat die »Plataforma Estatal por la Escuela Pública« (Landesweite Plattform für eine öffentliche Schule) dazu veranlasst, eine Kampagne zu starten. Deren Ziel ist es, die Sichtbarkeit des Problems zu erhöhen. Die Plattform, der unzählige 15-M-Gruppen sowie auch Zusammenschlüsse von Lehrern, Eltern und Schülern angehören, fordert die europäischen Behörden dazu auf, internationale Beobachter nach Spanien zu entsenden, um die Ernährungsbedürfnisse der Minderjährigen von unabhängigen Experten feststellen zu lassen.

Bis vor Kurzem informierte die Organisation »Save the Children« an Schulen über die Probleme von Armut betroffener Kinder in anderen Ländern. Heute betreuen sie die spanischen Kinder selbst, indem sie diese mit einer warmen Mahlzeit am Tag versorgen. Ebenso ist die Zahl der Schulzentren gestiegen, die auch während der Ferienzeiten geöffnet sind, nur damit die Kinder den Kantinenservice wahrnehmen können. Berücksichtigt man, dass Eurostat-Daten zufolge vier Millionen Haushalte unter Energiearmut leiden, dann ist klar, dass sich dies auch in Form von Mangelernährung der Kinder niederschlägt. Neben dem Problem, den Wohnraum angemessen zu heizen, haben die Familien auch nur eingeschränkte Möglichkeiten zu kochen.

Innerhalb der 15-M-Bewegung wurden auch Lebensmitteltafeln geschaffen. Diese versorgen Hunderte von Menschen mit Nahrungsmitteln. Jene haben oft ihre Arbeit verloren oder wurden aus ihren Wohnungen geworfen. Allein in Madrid kommt man auf ein Duzend Tafeln, die durch 15-M organisiert werden.

Aber auch verschiedene Initiativen aus dem Spektrum der extremen Rechten – wie die Rechtsaußenpartei España 2000 – haben ähnliche Strukturen aufgebaut. Sie hingegen geben Lebensmittel, Kleidung und Spielsachen nur an Personen, die einen spanischen Personalausweis vorzeigen können. Auf den ersten Blick scheint es Parallelen zum Aufstieg der Goldenen Morgendämmerung in Griechenland zu geben, aber bis jetzt zeigen Umfragen mit Blick auf die Europawahl noch keinen bedeutenden Stimmenzuwachs voraus. Die neofranquistischen Parteien stellen weiterhin nur eine unbedeutende Minderheit dar, mit Ausnahme der ultranationalistischen und fremdenfeindlichen Plataforma per Catalunya (Plattform für Katalonien). Die Auswirkungen auf das Zweiparteiensystem werden mittelfristig zum Tragen kommen. Kleine Parteien, die durch die Politikverdrossenheit und die Krise entstanden sind, können dann vermehrt ins Parlament einziehen – zum Beispiel die linke Partei Podemos (Wir können).

Um den Tirso de Molina suchen Menschen in Müllcontainern nach Brauchbarem, das noch verkauft werden kann. Die Straßen sind voll mit gelben Werbezetteln von Pfandhäusern. Sie wollen das Gold kaufen, das von der Krise geschüttelte Familien eventuell noch bei sich zu Hause aufbewahren. Die Immobilienblase hat es zusammen mit der Spanien von der Troika aufgebürdeten Sparpolitik – die sowohl von der Regierung der Volkspartei als auch der der Sozialisten gebilligt wurde – geschafft, das Leben tausender Menschen zu ruinieren, nicht nur in den Straßen von Madrid, sondern im ganzen Land.

Und sogar außerhalb Spaniens. Die Migranten, die während der Boomjahre nach Spanien kamen, sehen sich nun gezwungen, das Land zu verlassen: Wer keine Arbeit hat, ist vom Gesundheitssystem ausgeschlossen und hat kein Recht auf staatliche Zahlungen zur Sicherung des Existenzminimums. Diese Menschen sind von Zwangsräumungen betroffen, ohne alternative Wohnmöglichkeiten zu haben. In Berlin und anderen deutschen Städten gibt es 15-M-Gruppen, die nicht nur aus Spaniern bestehen, die ihr Land verlassen haben, sondern denen auch Menschen angehören, die bereits nach Spanien immigriert waren und irgendwann die spanische Staatsbürgerschaft erhielten. Angekommen in Berlin, versuchen sie sich zu organisieren: So entstand eine Gruppe mit gewerkschaftlichem Charakter. Zwei politische Parteien, die eng mit der 15-M-Bewegung verbunden sind, haben Auslandsverbände gegründet: der »Kreis« der Partei Podemos und der Zusammenschluss der Izquierda Unida (Vereinigte Linke).

Dass es sich bei der Krise in Spanien um kein nationales Problem handelt, war der Bewegung von Anfang an bewusst. Doch die Anti-Troika-Stimmung hat im Laufe des bisher noch kurzen Lebens der 15-M-Bewegung noch zugenommen. Dazu tragen Nachrichten wie folgende vom 7. Mai bei: »Brüssel fordert noch mehr Einsparungen und Anpassungsmaßnahmen von Spanien.« Letzen Februar besuchte eine Delegation der in Deutschland entstandenen Bewegung Blockupy die 15-M-Aktivisten in Madrid, um gemeinsam Aktionen auf europäischer Ebene zu diskutieren. Für Sonnabend ist eine gemeinsame Demonstration sowie eine Versammlung an der Puerta del Sol geplant.

Dort werden viele einer der herausragendsten Persönlichkeiten der Bewegung gedenken, des Wirtschaftswissenschaftlers und Schriftstellers José Luis Sampedro. Er verstarb vor mehr als einem Jahr im Alter von 96 Jahren und war wohl das bekannteste 15-M-Mitglied. Kurz vor seinem Tod schrieb er einen Brief an die Bewegung, in dem unter anderem Folgendes zu lesen war: »Der 15. Mai soll mehr sein als eine Oase in der Wüste; er muss der Beginn eines langwierigen Kampfes sein, bis wir tatsächlich erreichen, dass wir keine ›Waren in Händen von Politikern und Bankern‹ mehr sind und auch nicht als solche behandelt werden. Lasst uns NEIN sagen zur Finanztyrannei und ihren verheerenden Folgen!«

[Übersetzung: Lissi Dobbler]

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. Mai 2014


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