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Boom und Crash

Vorabdruck. Die Entwicklung der spanischen Wirtschaft und die Auswirkungen der Krise

Von Miren Etxezarreta, Francisco Navarro, Ramón Ribera und Victòria Soldevila *

Im Vergleich zu den reichen Teilen Europas war Spanien historisch gesehen immer schon ein armes Land. Doch nach der Entwicklung, die in den 60er Jahren einsetzte, und nach der vollständigen Einordnung des Landes in den entwickelten Kapitalismus [1] fühlte sich Spanien, auch durch die Integration in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, bald als vollwertiges Mitglied der »Ersten Welt«. (...) Spanien stieg zur fünften Industrienation in Europa auf. Auch die spanischen Eliten wähnten sich nicht mehr als Repräsentanten eines zurückgebliebenen Landes, sondern als Führer einer wirtschaftlich bedeutenden, industrialisierten Nation, selbst wenn Spanien von der übrigen Welt und vom restlichen Europa weiterhin nur als sekundäre Wirtschaftsmacht wahrgenommen wurde. Festzuhalten ist, daß Spanien zumindest ökonomisches Wachstum und industrielle Strukturen »entwickeln« konnte.

Die Entwicklung der spanischen Ökonomie läßt sich in Kürze wie folgt darstellen: In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts begann die erste Phase der Industrialisierung und Urbanisierung an Fahrt aufzunehmen. Die Binnennachfrage wuchs aufgrund der steigenden Einkommen, der Export profitierte von niedrigen Löhnen und der Unterdrückung der Arbeiterbewegung, speziell der Gewerkschaften. In den 80ern erfolgte die Integration Spaniens in die Europäische Union mittels eines Wirtschaftsmodells, das auf niedrigen Lohnstückkosten und der herausragenden Stellung der Automobil- sowie Nahrungsmittelindustrie basierte. Das Land war unter den Bedingungen der Einheitlichen Europäischen Akte gezwungen, mit anderen europäischen Industrien zu konkurrieren. Spanien wurde ein zunehmend interessanter Markt für die großen Staaten der EU.

»Armada Invencible«

Dieses zunächst effiziente Modell verfiel aber im Zuge der gestiegenen internationalen und europäischen Konkurrenz (vor allem seitens osteuropäischer und asiatischer Länder); 1994 erreichte die Arbeitslosigkeit unter der erwerbsfähigen Bevölkerung 24,1 Prozent. Der Druck auf die Löhne stieg, und prekäre Arbeitsverhältnisse breiteten sich aus (Schattenwirtschaft; befristete und kurzzeitige Stellen machten laut offizieller Statistiken mehr als 33 Prozent der Arbeitsverträge aus, die Dunkelziffer lag Schätzungen zufolge mit 50 Prozent weitaus höher), so daß die Binnennachfrage zurückblieb. Die Wirtschaft erholte sich etwas nach vier Abwertungen des Peso zwischen 1992 und 1994, wobei prekäre Beschäftigungsverhältnisse weiter zunahmen und der Bildung der späteren Immobilienblase begann. 2000 lag die Arbeitslosigkeit noch bei 20,4 Prozent, vier Jahre später war sie bereits auf 12,2 Prozent gesunken. Doch aufgrund der Verträge von Maastricht mußte Spanien, um an der Euro-Zone teilhaben zu können, ein weiteres Anpassungsprogramm durchführen; ohne die Möglichkeit der Abwertung der eigenen Währung fiel es dem Land jedoch immer schwerer, intern und extern wettbewerbsfähig zu bleiben. Das war zunächst wenig problematisch, weil die Zugehörigkeit zur Euro-Zone die Finanzierung eines wachsenden Außenhandelsdefizits durch Auslandskapital erlaubte. Angesichts der Probleme dieses Modells suchte sich das Kapital Anlagesphären in Bereichen, in denen der internationale Wettbewerb nicht relevant war (Bauindustrie, große Einkaufszentren) sowie Staatsunternehmen, die privatisiert wurden (Energieversorgung, Kommunikation) oder im Bereich der Spekulation an den Finanzmärkten. Auf der Seite der Nachfrage wurde das Erreichen (mittel)europäischer Konsumstandards durch billige Kredite erleichtert und gefördert, vor allem, um Immobilien zu kaufen. Dies begründete den rasanten Aufschwung der Bauwirtschaft.

Zwischen 2000 und 2007 boomte die spanische Wirtschaft. Seite an Seite mit dem »irischen Tiger« wuchs sie schnell; sie wurde bewundert wegen ihrer Liberalisierungsprozesse, ihrer Offenheit für die internationalen Märkte, und spanische »Global Player«, wie beispielsweise Telefonica, Ferrovial oder die Santander Bank, tauchten auf den internationalen Märkten auf. Obamas Verkehrsminister besuchte Spanien, um sich ein Bild von den beeindruckenden neuen Hochgeschwindigkeitsbahnen zu machen. Die Arbeitslosigkeit hatte 2007 ihren niedrigsten Stand seit dem Sturz Francos erreicht, obwohl in nur zehn Jahren rund vier Millionen Arbeitsimmigranten aufgenommen worden waren. Dynamisch war vor allem der Immobilienmarkt, die Wohnungspreise stiegen rapide an. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Spaniens 2007 das von Italien überflügeln konnte, fühlte sich der sozialistische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero so sicher, daß er ankündigte, Spanien werde in einigen Jahren Frankreich überholt haben. Nach dem Amtsantritt des Kabinetts von José Maria Aznar bemühte sich das Land, als ökonomische Kraft anerkannt und in die G8 aufgenommen zu werden. Wieder hatte Spanien eine »Armada Invencible«[2], dieses Mal bestehend aus Geschäftsleuten, der Finanzwelt und einer Armee von Investoren.

Hohes Armutsrisiko

Dennoch, trotz »ordentlicher« Zahlen beim Pro-Kopf-Einkommen, deutlicher Einkommenssteigerungen für den Großteil der Bevölkerung, einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität und dem Übergang von einem weithin rural geprägten armen Land zu einer industrialisierten und urbanisierten Nation sah die soziale Situation alles andere als glänzend aus. Der Reallohn stieg nur geringfügig seit der Integration in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG (mit Ausnahme der beginnenden neunziger Jahre), und sowohl Einkommen als auch Lohnquote entwickelten sich schwächer als im Rest der EU-15; mehr noch, Spaniens Lohnquote schrumpfte während der gesamten Zeit, ähnlich wie in der gesamten EU.

Die soziale Lage blieb unbefriedigend. Die Versorgung mit Bildung, Gesundheit und anderen sozialen Leistungen ist lückenhaft, die Ausgaben für den sozialen Bereich sind anteilsmäßig niedriger als in den meisten anderen euro¬päischen Staaten. Die vergleichsweise große Lücke auf dem Gebiet sozialer Rechte, gerissen von der Franco-Diktatur, wirkte immer noch nach. Sie bestand, wenn auch in verkleinerter Form, fort, als Spanien der EU beitrat, auch weil der Steuerdruck wesentlich niedriger war als in der Europäischen Union insgesamt.

Wenn man die allgemeine Einkommensverteilung betrachtet, ist zu beobachten, daß eine größere Armut und ein größeres Armutsrisiko bestehen als im Rest der EU-15. In anderen Worten: Wir hatten zwar ein »korrektes« ökonomisches Wachstum, dem aber die soziale Entwicklung weit hinterherhinkte. Dabei besteht kein Zweifel, daß dies dem Erbe der Franco-Diktatur und der Kontinuität konservativer Kräfte und Politik seit dem Ende der Diktatur geschuldet ist.

Da der Kapitalismus aber krisenhaft ist, mußten früher oder später die Widersprüche dieser Produktionsweise hervortreten und schließlich explodieren; eine massive Umstrukturierungswelle war die Folge. Als die Weltwirtschaftskrise in Spanien Einzug hielt, verpuffte all die neue ökonomische Macht, das Wachstum brach ein, und Spanien wurde eines der Länder, welches von der Finanzkrise am stärksten getroffen wurde. Und wieder war die »Armada Invencible« besiegt worden.

Aufstieg und Fall des »spanischen Wirtschaftswunders« waren so eindrucksvoll, weil dessen Grundlage von Beginn an instabil war. Diese prekären Fundamente erklären sich durch die Form der Integration der spanischen Wirtschaft in die globalen Kapitalkreisläufe in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und besonders durch die Entwicklung in den letzten 15 Jahren. Kernelemente waren dabei die Abhängigkeit von billigem Auslandskapital, die Dominanz weniger großer Konzerne (»nationale Champions«) und die durch billiges Geld angetriebene Immobilienblase. Als die Widersprüche des Kapitals schließlich in der jüngsten Krise global zutage traten, mußte die spanische Ökonomie daher wie ein Kartenhaus zusammenfallen.

Massive Probleme

Als die Finanzkrise in den Vereinigten Staaten ihren Anfang nahm und sich auf der ganzen Welt ausbreitete, blieben die spanische Regierung und sogar der Finanzsektor zunächst größtenteils optimistisch. Spanische Banken schienen nicht übermäßig in die Hypothekenprobleme in den USA verwickelt zu sein. Aufgrund einer Bankenkrise, die Spanien in den 80ern durchgemacht hatte, waren die Geldhäuser strikter reguliert und hatten höhere Kapitalreserven als der Rest der Banken im Westen. Die Prognosen schienen nicht so düster. Die Regierung blieb dabei, daß die heimische Wirtschaft in der Finanzkrise eine »weiche Landung« hinlegen werde. Dies war die offizielle Position bis zum Frühling 2008 [3]. Allerdings mußte sich die sozialistische Partei (PSOE), die sich, wenn auch geschwächt, an der Macht halten konnte, nach den Parlamentswahlen im März desselben Jahres der Finanzkrise stellen. Die Regierung (und die wichtigsten wirtschaftlichen Akteure) betrachteten die Probleme der spanischen Wirtschaft als Folgen eines vorübergehenden, von außen induzierten Schocks. Man sah keine hausgemachten Strukturprobleme, nicht einmal der aufgeblasene Immobiliensektor oder die niedrige Produktivität der lokalen Wirtschaft wurden problematisiert.

Über zwei Jahre hinweg, 2008 und 2009, bemühte sich die sozialistische Regierung, mit Hilfe eines Bündels eher chaotischer Maßnahmen die schlimmsten Folgen der Krise abzuwenden. Dabei war keine klare und konsequente Linie zu erkennen. Eine ganze Bandbreite unterschiedlicher und teilweise gegensätzlicher Schritte wurde unternommen. Zur Legitimation dieser »Reformen« wurde der Erhalt der sozialen Rechte der Bevölkerung propagiert, während das Gros der Maßnahmen tatsächlich dem Finanz- und Industriekapital zugute kam und schon Form und Inhalt späterer und härterer Einschnitte vorwegnahm. Freilich erwiesen sich die Versuche, Wachstum und Beschäftigung wiederzubeleben, als schwach und zögerlich. Sie dienten vorläufig dazu, die Finanzindustrie von dem Druck zu entlasten, den die internationalen Finanzmärkte und große spanische Vermögen auf sie ausübten. Zu dieser Zeit, 2009, war die Arbeitslosigkeit bereits wieder auf über 19 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung gestiegen. Es gab wenig Unterstützung für Arbeitslose oder von Zwangsräumung bedrohte Familien, also für die Menschen, die am meisten von der Krise betroffen waren, da in immer mehr Fällen Hypotheken nicht mehr bedient werden konnten.

Doch dabei blieb es nicht. Die Situation verschlechterte sich zusehends. Wachstum, Investitionen und Konsumtion kollabierten, die Arbeitslosigkeit stieg weiter, und viele Arbeiter wurden erfolgreich von ihren Firmen »angehalten«, zum Erhalt ihres Arbeitsplatzes niedrigere Löhne zu akzeptieren. Prekäre Arbeitsverhältnisse nahmen zu (mehr als 94 Prozent der neu abgeschlossenen Verträge waren befristet). Die zwei großen Gewerkschaften des Landes (CCOO und UGT) erwiesen sich als willfährige Unterstützer des Regierungskurses und stimmten allen derartigen Abkommen zu. Ihr einziges Ziel war offensichtlich die Erreichung besserer Abfindungen für jene Arbeiter zu sein, die wegen der eingebrochenen Produktion entlassen worden waren. Es schien, als akzeptiere die spanische Arbeiterschaft die neue Situation, und bis auf wenige Ausnahmen regte sich kein Widerstand.

Zusammenfassend läßt sich für die Jahre 2008/2009 festhalten, daß die Arbeiterklasse zwar schon damals hart unter der Krise und den Maßnahmen der Regierung hatte leiden müssen. Doch bis dahin hatte sie nicht reagiert. Die Schlußfolgerung, daß die internationale Finanzkrise Arbeitslosigkeit, niedrigere Löhne und prekäre Arbeitsverhältnisse nach sich ziehen müsse, schien in der Bevölkerung akzeptiert worden zu sein.

Hohe Privatschulden

Von 2008 bis 2010 stiegen Defizit und Schuldenlast der spanischen Ökonomie rapide an, und ihre Abhängigkeit von ausländischen Darlehen trat deutlich hervor. Die Auslandskredite, die die Basis der »Prosperität« und des Wachstums im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gewesen waren, rückten nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und veranschaulichten die prekäre Natur dieses Wachstums und die verletzliche Situation der spanischen Wirtschaft.

Das gestiegene staatliche Defizit war sowohl den generösen Rettungspaketen für den Finanzsektor und anderen Programmen zur Bekämpfung der Finanzkrise geschuldet sowie den exorbitant gestiegenen Kosten für die Arbeitslosenunterstützung geschuldet als auch dem krisenbedingten Rückgang der Staatseinnahmen: 2009 sanken die Steuereinnahmen aufgrund der schlechten Wirtschaftslage um 17 Prozent. Seit den 80ern war das Steuersystem darauf ausgerichtet gewesen, die Abgaben für Wohlhabende, Unternehmen und das Finanzsystem zu verringern (besonders für Investmentfonds und Pensionsfonds). Die Krise zerrüttete die finanzielle Situation des spanischen Staates. Diese Verschlechterung wurde noch verschärft durch den unbeirrbaren politischen Willen, die Privilegien der Oberschicht zu verteidigen und weiter auszubauen: So wurden die Steuern auf Unternehmensprofite und Kapitalerträge, wenn überhaupt, nur minimal erhöht, die Besteuerung von Eigentum und Erbschaften dagegen wurde ganz gestrichen, während die Umsatzsteuer und andere Verbrauchssteuern erhöht wurden.

Dabei ist allerdings zu unterscheiden: Die Verschuldung der öffentlichen Hand insgesamt ist nach wie vor gering im Vergleich zu anderen Ländern, während die private und besonders die Verschuldung gegenüber dem Ausland hoch ist. Wie gezeigt, läßt sich dies auf die traditionell defizitäre Leistungsbilanz sowie auf die angehäuften Verbindlichkeiten der Finanzinstitutionen (Banken und Sparkassen) zurückführen, die gewaltige Kredite vom Ausland benötigten, um ihre eigenen Kreditgeschäfte mit der Immobilienbranche auszuweiten. 2009 wurde klar, daß die spanischen Finanzinstitutionen zwar nicht von den Subprime-Geschäften in den USA tangiert wurden, mit ihren eigenen Immobilien- und Baugeschäften aber gewaltige Probleme angehäuft hatten.

Die staatliche Schuldenquote Spaniens liegt mit 60 Prozent des BIP (2010) weit unter dem Durchschnitt der EU und selbst Deutschlands (85 bzw. 83 Prozent). Wenn Spanien sich nur um diese Schulden kümmern müßte, sähe es selbst mit dem durch die Ratingagenturen hochgetriebenen Risikoaufschlag nicht so aus, als könnte es zum großen Problem werden, die anfallenden Zinsen zu zahlen: Die staatliche Zinslast war 2010/11 mit 2,2 Prozent des BIP eher niedriger als in anderen Perioden.

Es scheint, als würde in der öffentlichen Debatte bewußt verschleiert, wer welche Schulden bei wem hat und wer für diese geradestehen muß. Die spanische Gesamtverschuldung beläuft sich nämlich derzeit auf stolze 400 Prozent des BIP, wovon nur 60 Prozent auf die öffentliche Hand entfallen, die sich ihrerseits zu mehr als der Hälfte national refinanziert, während die Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland insgesamt bei 170 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen. Unter der Hand wurde ein Zusammenhang zwischen den öffentlichen und den privaten Schulden sowie deren Auslandsteilen hergestellt. Das wirkliche Problem ist die hohe private Auslandsverschuldung, nicht die eher niedrige inländische Staatsverschuldung. Im spanischen Fall stellt sich noch deutlicher als anderswo die Frage, warum sich die Bevölkerung und der Staat überhaupt um die privaten Schulden (hauptsächlich die der Banken und Unternehmen) kümmern sollten und warum es nicht möglich sein soll, private Schuldner und Gläubiger mit sich und ihren finanziellen Problemen allein zu lassen. Eine relevante und interessante Frage, selbst wenn sie etwas naiv erscheinen mag. Mißwirtschaft haben vor allem die Privaten betrieben, weniger die öffentliche Hand.

Drastische Kürzungen

Es geht also im wesentlichen um die privaten Auslandsschulden Spaniens. Trotzdem begannen die globalen Finanzmärkte und internationalen Institutionen, allen voran der IWF und besonders die EU, die spanische Regierung zu den wohlbekannten Strukturanpassungsprogrammen zu drängen und bewirkten 2010 eine einschneidende Veränderung in der Politik des Landes. Schon im Januar jenes Jahres hatte die spanische Regierung einige Sanierungsmaßnahmen eingeleitet; im Mai 2010 wurde sie dazu gedrängt, ein hartes Austeritätsprogramm auf den Weg zu bringen: Dies umfaßte drastische Budgetkürzungen in Höhe von 50 Milliarden Euro in den folgenden drei Jahren [4], die unter anderem die Kürzung der Gehälter der Bediensteten im öffentlichen Dienst um durchschnittlich fünf Prozent, das Einfrieren der Pensionen für ein Jahr, eine Liberalisierung des Arbeitsrechts sowie die Privatisierung der Altersvorsorge enthielten. Zudem erfolgte eine Verschiebung der Prioritäten der Krisenbekämpfung: Keine Rede war mehr von der Ankurbelung des Wachstums, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder der Aufrechterhaltung des Sozialsystems; das alleinige Ziel der Maßnahmen war nunmehr der Abbau von Staatsschulden und die Kontrolle der privaten Verbindlichkeiten. Für diese »Entschlossenheit« wurden dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten Zapatero Gratulationen von Bundeskanzlerin Merkel und dem französichen Präsidenten Sarkozy zuteil.

Seitdem wurden immer wieder neue Spar- und Anpassungsprogramme aufgelegt – von Kürzungen oder der Abschaffung vieler sozialer Ausgaben über bedeutende Einschnitte bei öffentlichen Investitionsprogrammen bis hin zur Ausweitung der Privatisierung auch auf die letzten in staatlicher Hand verbliebenen Unternehmen und in zunehmendem Maße auch der Sozialsysteme. Hinzu kam die Anhebung der Mehrwertsteuer. So soll das öffentliche Defizit auf Maastricht-Niveau abgesenkt werden.

Wie zu erwarten war, vertieften diese Maßnahmen die Krise in Spanien noch mehr. Gegen den Willen und die Erwartungen der Regierung gab es nur schwächste Anzeichen auf Besserung, eher könnte man sagen, daß diese gar nicht vorhanden waren. Mit einer am Boden liegenden Bauindustrie, erschreckenden Arbeitslosenzahlen, gesunkenen Löhnen und ohne Kredit hinkte die Nachfrage den Anforderungen der Industrie hinterher und führte zur Pleite vieler kleiner Firmen und so zu noch mehr Arbeitslosen. Die Exporte konnten sich mehr oder weniger auf dem vorherigen Level halten und zogen zeitweise sogar etwas an, hatten sich doch andere europäische Länder zunächst von der Krise etwas erholen können. Schlußendlich erwiesen sie sich jedoch nicht als ausreichend, um Wirtschaftswachstum zu generieren, Mitte 2012 stehen die Zeichen in der EU auf Rezession.

Anmerkungen:
  1. Dies unter besonderen Bedingungen, wie der Diktatur Francos im 20. Jahrhundert, der Planung eines neuen Putschs 1981 und so weiter. Für eine detaillierte Darstellung dieses Prozesses: M. Etxezarreta (Hrsg.): La reestructuración del capitalismo en España. Editorial Icaria. Barcelona, 1991
  2. Die »unbesiegbare Armada« (oder »Armada Invencible«, wie sie in Spanien genannt wurde) war die spanische Flotte, die 1588 gegen England segelte. Trotz ihres Namens wurde sie vernichtend geschlagen
  3. Im März 2008 fanden Parlamentswahlen statt, und der Wille, die Krise bis nach den Wahlen zu verdrängen, war ein wichtiges Element der Realitätsverweigerung
  4. Die Dimension des Einschnitts wird deutlich, wenn man sie mit dem Umfang der in den ersten beiden Jahren der Krise durchgeführten Maßnahmen vergleicht: Deren Gesamtvolumen belief sich auf rund 15 Milliarden Euro für die nächsten drei Jahre und 20 Milliarden für die nächsten zehn Jahre (nicht gerechnet die Ausgaben zur Stützung der Banken)
Übersetzung: Alan Ruben van Keeken

* Auszug aus einem Beitrag der spanischen Ökonomen und Ökonominnen Miren Etxezarreta, Francisco Navarro, Ramón Ribera und Victòria Soldevila zur wirtschaftlichen Situation Spaniens aus: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 91, September 2012, Einzelheft 10 Euro; zu beziehen ist das Heft unter www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de

Aus: junge Welt, Montag, 03. September 2012


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