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Spanische Krankheit

Immobilienblase, marode Cajas, "Spar"-Diktat: Immer mehr Betroffene haben die neoliberale Selbstdemontage satt

Von Raoul Rigault *

Bürgerliche Ökonomen sind bescheiden geworden, und manche Erfolgsmeldungen wirken wie aus einem Satire-Magazin. So verkündete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vor wenigen Tagen, die Wirtschaft in Spanien »ist weiter auf Erholungskurs«. Grundlage dieser Prognose war ein geschätztes Wachstum von 0,2 Prozent im ersten Quartal und die Hoffnung der Regierung, die nach zwei Jahren Rezession mit einer gesamten Schrumpfung der Volkswirtschaft um rund vier Prozent in diesem Jahr ein Plus von insgesamt 1,3 Prozent erwartet. Kurz darauf diente die Senkung des Haushaltsdefizits von 9,3 auf 9,2 Prozent als Anlaß für eine weitere Jubelmeldung.

Die spontane Bewegung der vor allem jugendlichen »Indignados« (Empörten), die seit dem 15. Mai zu Zehntausenden in diversen Städten zentrale Plätze besetzt halten, teilt diesen künstlichen Optimismus nicht. Fast fünf Millionen Menschen sind erwerbslos. Zwei Millionen Jobs wurden im Zuge der Krise vernichtet. Die Arbeitslosenquote stieg binnen dreier Jahre von 8,3 auf aktuell 21,3 Prozent. Bei den unter 25jährigen ist sie gar doppelt so hoch.

Auch die Anleger auf den Anleihemärkten sind mißtrauisch. Am vergangenen Donnerstag brach das Finanzministerium die Ausgabe von Schatzbriefen wegen steigender Zinskosten ab. Mit 5,5 Prozentpunkten liegt die Rendite zehnjähriger Staatanleihen weiterhin nahe dem historischen Spitzenwert. Vor einem Jahr wurden nur vier Prozent gefordert. Parallel dazu steigt der öffentliche Schuldenberg von 39,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) 2008 auf 68,7 in diesem Jahr. Selbst die Immobilienblase ist weiterhin akut. Zwar sind die Preise für Wohneigentum von 2008 bis 2010 im Durchschnitt um knapp ein Fünftel gesunken, doch spanische Banker gehen davon aus, daß sich der im Herbst 2007 erreichte Höchststand halbieren muß, um die Nachfrage wieder zu beleben. Somit stünde ein weiterer Preisverfall von 30 Prozent bevor. Tatsächlich stehen noch immer mehr als eine Million Wohnimmobilien leer. Der Großteil wurde nie bezogen, da die Unternehmen im Baurausch 800000 Wohnungen im Jahr fertigstellten – mehr als Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen.

Unter den Folgen leidet auch die Finanzbranche. Bei den letzten europaweiten Streßtests fielen im Sommer 2010 fünf spanische Sparkassen durch. Auch andere Institute sind inzwischen nicht mehr in der Lage, ihre Kreditausfälle zu refinanzieren. In der Vergangenheit wurden auch an Familien ohne geregeltes Einkommen bedenkenlos Hypothekendarlehen vergeben und häufig großzügige Baufinanzierungen gewährt. Zum Häuschen wurde auf Pump noch ein Auto oder die Inneneinrichtung gekauft. Faule Darlehen von rund 180 Milliarden Euro kamen so zusammen. Nach Einschätzung der US-Ratingagentur Moody’s wird die Sanierung Spanien am Ende zwischen 100 und 120 Milliarden Euro kosten. Aus diesem Grund stufte sie die Bonität des Landes Mitte März auf bescheidene »Aa2« zurück. Im Ranking des angesehenen Institutional Investor belegt das Euro-Zonenmitglied weltweit nur noch den 38. Platz. Das Rezept der Exekutive besteht in Fusion und Privatisierung der Sparkassen (Cajas), wobei die Verluste, wie üblich, vergesellschaftet und die marodesten Institute vorübergehend vom Staat übernommen werden. Zwar gelang es, die Zahl der Cajas durch Zusammenlegung von 45 auf 17 zu reduzieren, doch die ersehnten Privatanleger warten ab, bis die regierenden »Sozialisten« das ökonomische und soziale Massaker für sie erledigt haben. Bis jetzt wurden fünf Prozent der Filialen geschlossen, auch der Abbau von 15000 Arbeitsplätzen, durch den knapp fünf Milliarden Euro eingespart werden sollen, hat kaum begonnen.

Entgegen den offiziellen Darstellungen ist auch die Lage der spanischen Großbanken nicht rosig. Die mit brutalen Bedingungen verbundene EU-Hilfe für Portugal war nicht zuletzt eine Rettungsmaßnahme für Banco Santander, BBVA & Co. Deren offene Forderungen beim kleineren iberischen Bruder belaufen sich auf 63 Milliarden Euro. Da viele spanische Institute zudem Mehrheitsaktionär ihrer portugiesischen Pendants sind, beträgt die gesamte Schuldenlast in spanischer Hand sogar rund 70 Milliarden.

Noch problematischer ist die Refinanzierung am Interbankenmarkt. Infolge der Schwierigkeiten, sich dort frisches Geld zu beschaffen, werben die Geldhäuser mit hohen Zinsen von bis zu 4,5 Prozent um Einlagen von Privatkunden. Durch diesen Wettbewerb sinken allerdings auch die Gewinnmargen. Ein Prozeß, den EZB-Direktoriumsmitglied José González-Páramo als »selbstzerstörerisch für das Finanzsystem« bezeichnet. Die Börsianer sehen das offenbar ähnlich, denn die Aktienkurse von Banco Santander, BBVA, Banco Popular und Bankinter brachen im vergangenen Jahr um 32,4 bis 45,1 Prozent ein.

Entscheidend für einen spanischen Neuaufschwung und Zukunftsperspektiven für die Masse der Erwerbslosen ist jedoch eine grundlegende und nachhaltige Abkehr vom Primat der Dienstleister, Spekulanten und Zementmischer. Die Industrie trug zuletzt nur noch 16,1 Prozent zum BIP bei, der in der Regel hochgradig prekäre tertiäre Sektor hingegen fast zwei Drittel. Zugleich war das produzierende Gewerbe bei einer Rezession von 3,7 Prozent mit einem Einbruch um fast 15 Prozent Hauptleidtragender der Krise. Der völlig überdimensionierte Bausektor schrumpfte hingegen nur um 6,3 Prozent. Eines der Resultate ist das chronische Handelsbilanzdefizit, das sich zuletzt auf 52,3 Milliarden Euro belief. Damit war knapp ein Fünftel der Einfuhren nicht durch Exporte gedeckt – ein Umstand, an dem der zweitwichtigste Handelspartner Deutschland mit einem Plus von zwölf Milliarden Euro erheblichen Anteil hatte.

* Aus: junge Welt, 26. Mai 2011


Zu Hause auf der Plaza

Die spanische Protestbewegung setzt ihre Aktionen fort. Trotz Verboten tolerieren die Behörden die Camps bisher

Von Florian Osuch, Barcelona **


Die seit zehn Tagen anhaltenden Proteste im spanischen Staat gehen weiter. Die zentralen Protestcamps an der Puerta del Sol in Madrid und auf der Plaça Catalunya in Barcelona sollen mindestens bis zum kommenden Wochenende aufrechterhalten werden. Dies wurde am Wochenende auf den jeweiligen Vollversammlungen der Demonstranten entschieden. »Dann kann ich mich hier ja bald häuslich einrichten«, freute sich eine junge Studentin, die bereits seit letzten Donnerstag mit einigen Freunden auf dem sonst von Touristen belagerten Platz im Zentrum der katalanischen Hauptstadt campiert. Am nächsten Wochenende soll erneut debattiert und entschieden werden, falls die Camps bis dahin nicht geräumt werden oder die Bereitschaft der Aktivisten nachläßt.

Von Wahl unbeeindruckt

Die meisten bürgerlichen Medien in Spanien und auch in Deutschland waren zuvor davon ausgegangen, daß sich die Proteste mit den am Sonntag abgehaltenen Kommunal- und Regionalwahlen erledigen würden. Doch die als »Die Empörten« bezeichnete Bewegung zeigte sich von den Wahlen unbeeindruckt. Während am späten Sonntag abend im Fernsehen die Wahlergebnisse bekanntgegeben wurden, beteiligten sich in Barcelona zeitgleich erneut bis zu 5000 Menschen an dem allabendlichen Plenum. Den Protestierenden, ob jung oder alt, Schüler oder Rentner, erwebslos oder noch mit Beschäftigung, ist gemein, daß sie das politische Establishment im allgemeinen ablehnen. »Uns repräsentiert niemand«, heißt einer der zentralen Slogans auf den Demonstrationen im ganzen Land. Daher fehlt auf den Camps auch sämtliche Werbung von Parteien oder Gewerkschaften. Die Arbeitsgruppen und die Koordination der Camps werden jedoch zumindest in Barcelona von linken Aktivisten geprägt. Aktive aus der anarchistischen und autonomen Bewegung in Barcelona arbeiten Hand in Hand mit Basisaktivisten der Großgewerkschaft CCOO oder der Organisation Revolta Global.

Enttäuscht zeigten sich zahlreiche Anwesende von der sonst so starken katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, die bisher den Protesten mehrheitlich ferngeblieben ist. Ein Sprecher der Organisation Endavant begründete dies gegenüber junge Welt damit, daß man sich bisher auf die Kommunalwahlen und die eigene »Vereinten Volkskandidatur« (CUP) konzentriert habe. Eine 33jährige Lehrerin, die sich selbst als Sympathisantin der Unabhängigkeitsbewegung versteht, äußerte darüber ihr Unverständnis: »Es zeugt von großer Distanz zur Protestbewegung, wenn man ausgerechnet jetzt in die Institutionen strebt, während sich im ganzen Land Hunderttausende von ihnen abwenden.«

200 Camps

Landesweit fanden nach unterschiedlichen Angaben bis zu 200 Camps statt, selbst im ländlich geprägten Kastilien, in der konservativen Hochburg Valencia oder auf den Kanarischen Inseln. Darüber hinaus wurden am Wochenende in zahlreichen europäischen Städten, in den USA und in Lateinamerika wieder Kundgebungen zur Unterstützung der Bewegung in Spanien durchgeführt. So gingen in Berlin rund 1000 Menschen auf die Straße.

Trotz des verhängten Demonstrationsverbots hatten die Behörden die Aktionen am Wochenende toleriert. »Daß wir die Camps trotz Verbot ohne Probleme durchführen können, zeigt die ungeheure Macht des Volkes«, gab sich ein 28jähriger in Barcelona optimistisch, der vor einem Jahr seinen Arbeitsplatz in der Automobilindustrie verlor. In vielen Städten des spanischen Staates wurden in den letzten Jahren jedoch restriktive Gesetze für den öffentlichen Raum erlassen. Die Anordnungen sollen Obdachlose aus den Innenstädten vertreiben, sie untersagen das Verzehren von Alkohol in der Öffentlichkeit und wer sich beim Skateboardfahren erwischen läßt, muß mit einem Bußgeld von bis zu einhundert Euro rechnen.

Im Zuge der Proteste wird dem Internet und neuen Anwendungen wie Twitter oder Facebook eine große Rolle zugeschrieben. Tatsächlich knüpfen diese Dienste ein Band um die Veranstaltungen und Kundgebungen im ganzen Land. Eine junger Mann merkte gegenüber jW jedoch an: »Face­book hin oder her, nichts kann die Zelte oder Demos ersetzen. Gesellschaftliche Macht entsteht nicht virtuell, sondern durch reale Aktivität.«

** Aus: junge Welt, 24. Mai 2011


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