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Bett auf dem Asphalt

Überall in Spanien gehen die Proteste der "Empörten" weiter, auch in Granada

Von Florian Schmid *

Auf der Plaza del Carmen direkt vor dem Rathaus von Granada haben sich etwa 200 Menschen fest eingerichtet. Eine große blaue Plane überdacht einen Teil des Platzes. Letzte Woche harrten die sonnenverwöhnten Andalusier hier auch bei Regen stundenlang aus. Jetzt ist das Wetter besser und protestkompatibler. Die meisten übernachten einfach in ihren Schlafsäcken auf dem Asphalt, andere schlafen in Iglu-Zelten, während etwa zwei Dutzend Polizeibeamte am Rand des Platzes stehen oder ihre Runden drehen.

Die Stimmung ist entspannt. Getränke werden ausgeschenkt, es gibt zu essen, sogar ein kleiner Kindergarten wurde eingerichtet. In einer Ecke des Platzes befindet sich eine improvisierte Bibliothek mit zwei Sofas und einem Bücherregal mit Krimis und Romanen. Unter einem improvisierten Zeltdach tippen Demonstranten E-Mails, Twitter- und Facebooknachrichten in Laptops. Die digitale Vernetzung mit anderen spanischen Städten ist fester Bestandteil der Protestkultur von »Democracia Real Ya!«, was so viel heißt wie »Echte Demokratie jetzt!«. Die Regional- und Kommunalwahlen sind zwar vorbei, aber der Protest der »Indignados«, der »Empörten«, geht weiter. In der 200 000-Einwohner-Stadt Granada wie in den Millionen-Zentren Madrid und Barcelona und in dutzenden anderen Orten des Landes.

»Wenn ihr uns nicht mehr träumen lasst, hören wir einfach auf zu schlafen!« steht auf einem der vielen Transparente, die an Laternenpfählen und kleinen Ständen hängen, die an einen Markt erinnern. Und natürlich ist auch einer der zentralen Slogans der Bewegung zu sehen: »Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern!«

Die Wirtschaftskrise trifft in Spanien vor allem junge Menschen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 40 Prozent und ist damit die höchste in Westeuropa. Im südspanischen Andalusien ist sie stellenweise sogar noch höher. Am zentralen Informationsstand werden Petitionen auf kleinen Zetteln gesammelt. Jeden Abend um acht Uhr füllt sich der Platz mit mehr als tausend Menschen. In der Mitte steht ein Moderator mit Mikrophon. Bis weit nach Mitternacht strömen Menschen hinzu. Der Reihe nach diskutieren sie einzelne Vorschläge. So gibt es etwa einen Aufruf, alle privaten Konten aufzulösen und Rechnungen in Zukunft nur noch bar zu bezahlen, um die in Spanien so stark in die Kritik geratenen Banken ins Leere laufen zu lassen. Es wird auch über die »acampadas«, die Protestcamps, anderer Städte berichtet. Aktionen für die nächsten Tage werden geplant, etwa ein Fahrradkorso. Eine Universitätsklasse hat angefragt, ob sie das Camp besuchen kann. Per Handzeichen wird Zustimmung signalisiert. Die gesamte Diskussion wird für Gehörlose in Zeichensprache übersetzt. Die Protestierenden haben sich nun sogar ein eigenes Manifest gegebenen. Es ist Zeugnis eines tiefen Misstrauens gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes.

Obwohl die Behörden vor einigen Tagen eine Auflösung der Zeltlager in ganz Spanien angekündigt hatten, wurden die Besetzer weder hier in Granada noch anderswo geräumt. Vor einer Woche räumte die Polizei zwischenzeitlich den zentralen Platz in Madrid und ging dabei nicht eben zimperlich vor. Bisher blieb in Granada bis auf einen kurzen Zwischenfall alles friedlich. »Um Mitternacht in der Nacht von Freitag auf Sonnabend zog kurz Polizei auf, aber auch sehr schnell wieder ab, ohne dass etwas passierte«, erklärt der junge Mann an der Info-Zentrale und drückt mir ein Flugblatt in die Hand. »Wenn sie mit Gewalt antworten, wird unsere Position immer gewaltfreier Widerstand sein«, steht darauf. Die Bewegung hat friedlichen Charakter, darauf wird großen Wert gelegt.

Auch wenn die Mehrheit der jungen Besetzer auf dem Platz optisch eher der linken Szene zugerechnet werden kann, betont der Mann, dass die »Empörten« keiner politischen Richtung angehören. »Wir sind weder Teil einer Partei, noch einer politischen Bewegung.« Fahnen und Logos jedweder Organisationen sind auf dem Platz verboten. »Die Versammlung erklärt sich unparteiisch, nicht gewerkschaftlich und nicht religiös«, lautet das Selbstverständnis.

Als am Vormittag das spanische Fernsehen auftaucht, bildet sich eine kleine Gruppe, die Interviews gibt. Als erstes steht eine junge Frau mit Piercings, Irokesenschnitt und Dead-Kennedys-T-Shirt vor der Kamera. »Wir sammeln hier die Informationen, es gibt aber auch die Möglichkeit, sich über den Blog im Internet an den Diskussionen zu beteiligen. Alles wird gesammelt und später diskutiert.« Die digital vernetzte basisdemokratische Bewegung ist in ihrer Grundstruktur einfach, aber auch in der städtischen Öffentlichkeit äußerst wirksam. In der Studentenstadt Granada findet das soziale Leben vor allem abends auf der Straße statt. Und mitten im quirligen Zentrum halten die Passanten immer wieder an, um sich zu informieren, mit Besetzern zu sprechen oder den Diskussionen zu folgen. Die Bewegung will gegenüber der gesamten Gesellschaft offen sein. Das Publikum ist abends sehr gemischt. Ältere konservativ wirkende Bürger sieht man ebenso wie junge Pärchen, die durch die Stadt schlendern und einfach eine Weile stehen bleiben. So war auch am Wochenende in den Bars der angrenzenden Gassen, einer der Ausgehmeilen der Stadt, deutlich weniger los als sonst, während die Plaza del Carmen bis spät in die Nacht voller Menschen war.

»Wir bleiben erst einmal auf unbestimmte Zeit weiter hier«, erklärt der junge Mann am Infostand freundlich lächelnd. Was als Protestbewegung im Vorfeld der Regionalwahlen gedacht war, hat eine eigene Dynamik entwickelt und ist noch lange nicht zu Ende. In der vergangenen Woche hatten die »Empörten« auch immer wieder zum Wahlboykott aufgerufen. Ob das bei den Regionalwahlen am Wochenende zum desaströsen Ergebnis der regierenden Sozialdemokraten mit beigetragen hat, lässt sich nicht eindeutig sagen. Fest steht aber, dass die Bewegung keinesfalls an Schwung verloren hat. Wie wirksam sie für das krisengeschüttelte Spanien in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht sein kann, das muss die Zukunft zeigen.

[Es folgt ein Auszug aus dem Manifest, das wir im Kasen vollständig dokumentieren. Anmerkung: AGF]

* Aus: Neues Deutschland, 25. Mai 2011

Dokumentiert: Das Manifest (deutsch und englisch)

Das Manifest von "Democracia Real YA!"

Wir sind normale Menschen. Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen, zur Arbeit zu gehen oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, um denjenigen die uns umgeben eine bessere Zukunft zu bieten.

Einige von uns bezeichnen sich als fortschrittlich, andere als konservativ. Manche von uns sind gläubig, andere wiederum nicht. Einige von uns folgen klar definierten Ideologien, manche unter uns sind unpolitisch, aber wir sind alle besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich uns um uns herum präsentiert: die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- als auch sprachlos.

Und diese Situation ist mittlerweile zur Normalität geworden – tägliches Leid, ohne jegliche Hoffnung. Doch wenn wir uns zusammentun, können wir das ändern. Es ist an der Zeit, Dinge zu verändern. Zeit, miteinander eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Deswegen treten wir eindringlich hierfür ein:
  • Gleichheit, Fortschritt, Solidarität, kulturelle Freiheit, Nachhaltigkeit und Entwicklung, sowie das Wohl und Glück der Menschen müssen als Prioritäten einer jeden modernen Gesellschaft gelten.
  • Es gibt Grundrechte, die unsere Gesellschaft gewähren muss: das Recht auf Wohnung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe, freie persönliche Entwicklung und das Recht auf Konsum von Gütern, die notwendig sind um ein gesundes und glückliches Leben zu führen.
  • In ihrem momentanen Zustand sorgen unsere Regierung und das Wirtschaftssystem nicht für diese Prioritäten, sondern stellen sogar auf vielerlei Weise ein Hindernis für menschlichen Fortschritt dar.
  • Die Demokratie gehört den Menschen (demos = Menschen, krátos = Regierung), wobei die Regierung aus jedem Einzelnen von uns besteht. Dennoch hört uns in Spanien der Großteil der Politiker überhaupt nicht zu. Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten Nutzen zu erbringen, sie sollten sich nicht auf unsere Kosten bereichern und deswegen vorankommen, sie sollten sich nicht nur um die Herrschaft der Wirtschaftsgroßmächte kümmern und diese durch ein Zweiparteiensystem erhalten, welches vom unerschütterlichen Akronym PP & PSOE angeführt wird.
  • Die Gier nach Macht und deren Beschränkung auf einige wenige Menschen bringt Ungleichheit, Spannung und Ungerechtigkeit mit sich, was wiederum zu Gewalt führt, die wir jedoch ablehnen. Das veraltete und unnatürliche Wirtschaftsmodell treibt die gesellschaftliche Maschinerie an, einer immerfort wachsenden Spirale gleich, die sich selbst vernichtet indem sie nur wenigen Menschen Reichtum bringt und den Rest in Armut stürzt. Bis zum völligen Kollaps.
  • Ziel und Absicht des derzeitigen Systems sind die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf Wirtschaftlichkeit oder den Wohlstand der Gesellschaft zu achten. Ressourcen werden verschwendet, der Planet wird zerstört und Arbeitslosigkeit sowie Unzufriedenheit unter den Verbrauchern entsteht.
  • Die Bürger bilden das Getriebe dieser Maschinerie, welche nur dazu entwickelt wurde, um einer Minderheit zu Reichtum zu verhelfen, die sich nicht um unsere Bedürfnisse kümmert. Wir sind anonym, doch ohne uns würde dergleichen nicht existieren können, denn am Ende bewegen wir die Welt.
  • Wenn wir es als Gesellschaft lernen, unsere Zukunft nicht mehr einem abstrakten Wirtschaftssystem anzuvertrauen, das den meisten ohnehin keine Vorteile erbringt, können wir den Missbrauch abschaffen, unter dem wir alle leiden.
  • Wir brauchen eine ethische Revolution. Anstatt das Geld über Menschen zu stellen, sollten wir es wieder in unsere Dienste stellen. Wir sind Menschen, keine Produkte. Ich bin kein Produkt dessen, was ich kaufe, weshalb ich es kaufe oder von wem.
Im Sinne all dieser Punkte, empöre ich mich.
Ich glaube, dass ich etwas ändern kann.
Ich glaube, dass ich helfen kann.
Ich weiß, dass wir es gemeinsam schaffen können.
Geh mit uns auf die Straße. Es ist dein Recht.


Deutsche Übersetzung von John F. Nebel; Quelle: www.metronaut.de


"Democracia Real YA!" (Englisch)

We are ordinary people. We are like you: people, who get up every morning to study, work or find a job, people who have family and friends. People, who work hard every day to provide a better future for those around us.

Some of us consider ourselves progressive, others conservative. Some of us are believers, some not. Some of us have clearly defined ideologies, others are apolitical, but we are all concerned and angry about the political, economic, and social outlook which we see around us: corruption among politicians, businessmen, bankers, leaving us helpless, without a voice.

This situation has become normal, a daily suffering, without hope. But if we join forces, we can change it. It’s time to change things, time to build a better society together. Therefore, we strongly argue that:
  • The priorities of any advanced society must be equality, progress, solidarity, freedom of culture, sustainability and development, welfare and people’s happiness.
  • These are inalienable truths that we should abide by in our society: the right to housing, employment, culture, health, education, political participation, free personal development, and consumer rights for a healthy and happy life.
  • The current status of our government and economic system does not take care of these rights, and in many ways is an obstacle to human progress.
  • Democracy belongs to the people (demos = people, krátos = government) which means that government is made of every one of us. However, in Spain most of the political class does not even listen to us. Politicians should be bringing our voice to the institutions, facilitating the political participation of citizens through direct channels that provide the greatest benefit to the wider society, not to get rich and prosper at our expense, attending only to the dictatorship of major economic powers and holding them in power through a bipartidism headed by the immovable acronym PP & PSOE.
  • Lust for power and its accumulation in only a few; create inequality, tension and injustice, which leads to violence, which we reject. The obsolete and unnatural economic model fuels the social machinery in a growing spiral that consumes itself by enriching a few and sends into poverty the rest. Until the collapse.
  • The will and purpose of the current system is the accumulation of money, not regarding efficiency and the welfare of society. Wasting resources, destroying the planet, creating unemployment and unhappy consumers.
  • Citizens are the gears of a machine designed to enrich a minority which does not regard our needs. We are anonymous, but without us none of this would exist, because we move the world.
  • If as a society we learn to not trust our future to an abstract economy, which never returns benefits for the most, we can eliminate the abuse that we are all suffering.
  • We need an ethical revolution. Instead of placing money above human beings, we shall put it back to our service. We are people, not products. I am not a product of what I buy, why I buy and who I buy from.
For all of the above, I am outraged.
I think I can change it.
I think I can help.
I know that together we can.I think I can help.
I know that together we can.


Source: www.democraciarealya.es



Protestcamp in Sevilla

Spanische Demokratiebewegung breitet sich auch im Süden des Landes aus

Von Lena Töpler, Emilio Sánchez, Sevilla **


Die spanische Protestbewegung unter dem Motto »Wahre Demokratie jetzt!« wird auch im Süden des Landes immer stärker. Bereits am Mittwoch vergangener Woche hatten sich spontan rund 1000 Personen auf dem Platz der Encarnación in Sevilla versammelt. Etwa 200 Demonstranten errichteten im Anschluß ein Protescamp, um auf dem Platz zu übernachten. Inzwischen hat sich die Zahl der Teilnehmer sowohl der Versammlungen als auch des Protestcamps mehr als verdreifacht.

Wie in Madrid und anderen Städten Spaniens entschlossen sich die Demonstranten, trotz Demonstrationsverbots am Vortag der Kommunalwahlen vom Sonntag die Proteste fortzusetzen. Am Wahlsonntag fanden sich zu der abendlichen Demonstration ca. 15000 Teilnehmer ein. Die Wahlergebnisse sind hingegen im Camp kein Diskussionsgegenstand, da für die Bewegung weiterhin entscheidend ist, als parteilos wahrgenommen zu werden und zu betonen, daß sie sich von den aktuellen politischen Vertretern nicht repräsentiert fühlt.

Sevilla als Hauptstadt Andalusiens, kommt eine wichtige Initiativfunktion auch für Proteste in umliegenden Kleinstädten und Dörfern zu. Die überwiegend jungen Demonstranten der traditionell geprägten Stadt verbuchen die hohe Beteiligung der Bevölkerung als besonderen Erfolg. Zahlreiche Bürger besuchten das Camp, um sich zu informieren oder die Demonstranten zu unterstützen. Viele zeigten sich begeistert von der Revolte der Jugend. »Wir haben schon gedacht, die Jugend bewegt sich gar nicht, aber jetzt reagiert ihr und reißt uns mit«, sagte eine der älteren Demonstrantinnen. Die Anwohner des Platzes sowie die umliegenden Geschäfte und Cafés spendeten dem Lager Strom, Internetzugänge, Verpflegung und alle nötigen Materialien, um die Forderungen der Demonstranten zu veröffentlichen und zu verbreiten.

Für die kommenden Tage sind Mobilisierungs- und Informationsaktionen in verschiedenen Vierteln der Stadt und anliegenden Dörfern geplant sowie ein friedlicher Straßenumzug und eine Volksversammlung am Samstag, auf der Platz für inhaltliche Debatten der Bewegung geschaffen werden soll. Bis dahin wird jeden Abend zu einer Demonstration aufgerufen, zu der am Montag erneut etwa 2000 Menschen kamen.

Im landwirtschaftlich geprägten Andalusien liegen die Arbeitslosenzahlen bei 25 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit bei 21 Prozent. Allein dies erklärt, warum sich so viele Interessenten spontan den politischen Diskussionen im Camp anschließen.

** Aus: junge Welt, 25. Mai 2011


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