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Widerstand auf spanisch

In Madrid und anderen Städten gehen Zehntausende gegen das Diktat der Finanzmärkte, die unsoziale Politik und die korrupten großen Parteien auf die Straße

Von Carmela Negrete *

Wir haben keine Angst, und wir bleiben hier.« Hunderte Aktivisten, die auf der Plaza Puerta del Sol im Herzen der spanischen Hauptstadt Madrid ihr Lager aufgeschlagen haben, sind entschlossen, ihren Protest fortzusetzen. Nachdem am 15. Mai in mehr als sechzig Städten des Landes spontane Protestkundgebungen mit etwa 150000 Teilnehmern gegen den Sparkurs der Regierung abgehalten wurden, entwickelt sich dieser Ort zu einem Brennpunkt des sozialen Widerstands. In Anlehnung an den ägyptischen Volksaufstand ist bereits vom »spanischen Tahrir-Platz« die Rede. Trotz Demonstrationsverbots, zwischenzeitlicher polizeilicher Räumung und 24 Festnahmen ließ sich der Protest nicht ersticken. Jeden Tag kommen mehr Menschen am Madrider »Sonnentor« zusammen. Auch vor Konsulaten und Botschaften im Ausland, unter anderem in Florenz, Berlin, Wien, Buenos Aires, Montpellier und New York, gab es Solidaritätskundgebungen.

Es fehlt nicht an sozialem Sprengstoff. Die Arbeitslosenrate schlägt mit mittlerweile 21 Prozent alle Rekorde in der Euro-Zone. Sogar etwa 40 Prozent der jungen Leute stehen ohne festen Job da. Hier hat sich die Quote in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Die sozialdemokratische Regierung von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero hat mit der Begründung, den Haushalt zu sanieren und die Finanzmärkte zu besänftigen, den Rotstift angesetzt. Im öffentlichen Dienst wurden Gehälter gesenkt, die Renten eingefroren. Immer mehr Familien stehen ohne Einkommen oder staatliche Unterstützung da. Zugleich sind etliche Kandidaten der regierenden PSOE wie der konservativen Volkspartei PP für die am Sonntag anstehenden Regional- und Kommunalwahlen in Korruptionsskandale verwickelt.

»Wir sind keine Vereinigung, wir folgen keiner Partei oder Gewerkschaft, wir sind einfach als Personen dabei.« Worte wie diese drücken immer wieder aus, daß es sich nicht um gelenkte Proteste, sondern um eine spontane Bürgerbewegung handelt. Mobilisiert wird über soziale Internet-Netzwerke. Ähnlich wie in Ägypten oder Tunesien nutzt sie Facebook und Twitter, aber auch den spanischen Dienst Tuenti. Die Slogans drücken eine klare Absage an die etablierte Politik aus: »Uns vertreten die nicht« oder »Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine« waren in den letzten drei Tagen häufig zu hören.

Nicht nur in Madrid geht der Kampf »für wirkliche Demokratie« weiter. Auch in Granada, Sevilla und Almería, ebenso in Oviedo und Gijón nehmen trotz Verboten Bürgerinnen und Bürger stets auf neue die Straßen in Besitz. In Gijón wurde ein Public-Viewing mit dem Dokumentarfilm »Inside Job« veranstaltet. Der Film zeigt, wie neoliberale Politik in die internationale Finanzkrise führte. Seitdem diese auch Spanien trifft, verzichteten die großen Gewerkschaften allerdings darauf, die Bevölkerung zu mobilisieren. Soziale Kürzungen und den Abbau von Beschäftigtenrechten trugen sie mit. Zu Widerstand gegen Sparmaßnahmen und Privatisierungen riefen lediglich einige kleinere Organisationen auf. Die Antwort des Establishments waren juristische Klagen und Strafmaßnahmen. Exemplarisch ist der Fall der Andalusischen Arbeitergewerkschaft (Sindicato Andaluz de Trabajadores). Ihre gewaltfreien Aktionen wurden vor Gericht mit einem Bußgeld in Höhe von 400000 Euro geahndet, Hunderten Mitgliedern ist Gefängnis angedroht. Straffreiheit scheint es bisher nur für Finanzhaie zu geben. Doch immer mehr Spanier wollen das ändern.

* Aus: junge Welt, 20. Mai 2011


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