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Wer kürzt besser?

Wahlkampf in Spanien: Beide große Parteien wollen Sozialabbau fortsetzen. Bereits jetzt ist jedes vierte Kind unterernährt

Von André Scheer *

Einen Monat vor den Parlamentswahlen in Spanien schieben sich die beiden großen Parteien des Landes die Verantwortung für die katastrophale Wirtschaftslage zu. Die rechte Volkspartei (PP), der Umfragen gute Chance voraussagen, am 20. November die Regierung übernehmen zu können, veröffentlichte auf ihrer Homepage die Bilanz der Administration des scheidenden Regierungschefs José Luis Rodríguez Zapatero. Demnach sind fünf Millionen Menschen im Land erwerbslos, von denen knapp 1,7 Millionen keinerlei staatliche Unterstützung erhalten. In 1,5 Millionen Familien seien alle Mitglieder ohne Arbeit. 6,3 Millionen Rentner litten unter »eingefrorenen« Pensionen, während die Preise auf Rekordwerte gestiegen seien. Nicht weniger als neun der 47 Millionen Menschen in Spanien lebten unter der Armutsgrenze. Das »Rezept« der PP dagegen: eine Steuerpolitik zugunsten der Unternehmer. »Wir brauchen viele Unternehmen, die immer besser werden und viele Arbeitsplätze schaffen«, betet PP-Spitzenkandidat Mariano Rajoy das neoliberale Mantra herunter. Dazu sei es notwendig, »das Staatsdefizit zu reduzieren, das Finanzsystem neu zu strukturieren und die notwendigen strukturellen Reformen umzusetzen«.

Rubalcaba ist beleidigt

Alfredo Pérez Rubalcaba, der für die bislang regierende Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) die Wahlen doch noch gewinnen soll, zeigte sich angesichts solcher Töne des rechten Konkurrenten beleidigt. »Wir haben regiert und die Sache vielleicht gut oder schlecht gemacht«, ließ der frühere Innenminister im Kabinett Zapatero am Wochenende in einer Presseerklärung mitteilen, »aber das einzige, was sie in den vergangenen drei Jahren gemacht haben, war, die Krise für sich auszunutzen.« Zugleich verwies Rubalcaba auf die Bilanz der zahlreichen Kommunen im ganzen Land, in denen die PP seit den Regionalwahlen im vergangenen Mai die Verantwortung trägt. Dort hätten die örtlichen Regierungen sofort mit dem Sozialabbau begonnen.

Tatsächlich geben sich PP und PSOE kaum etwas. Anfang September peitschten beide Parteien gemeinsam gegen den lautstarken Protest Zehntausender eine Verfassungsänderung durch das Parlament, mit der eine »Schuldenbremse« festgeschrieben wurde. Das sei ein »Putsch«, kritisierten Gewerkschaften, Linke und die Bewegung der Empörten, denn durch diese Entscheidung habe die Regierung auf die Möglichkeit verzichtet, eine soziale Politik zu entwickeln, wenn diese im Konflikt mit der von der EU festgelegten Defizitobergrenze von drei Prozent liege.

Auch für die Vereinigte Linke (IU) gibt es praktisch keinen Unterschied zwischen den großen Parteien, die beide eine rechte Politik betrieben. IU-Spitzenkandidat Cayo Lara ruft deshalb die Spanier zur »Rebellion« gegen die unerträgliche Situation auf. »Gegenüber der falschen Option Rubalcaba oder Rajoy wird die IU die wirklichen Alternativen aufzeigen, die es für das Land gibt. Die Dinge, von denen wir sprechen, sind die Sachen, die für die Menschen wichtig sind«, unterstrich sein Wahlkampfleiter Ramón Luque. Es gäbe nicht nur die Wahl zwischen den Kürzungen der PSOE und den Kürzungen der PP.

Kinderarmut gestiegen

Bereits jetzt hat der massive Sozialabbau, zu dem sich die Regierung auf Druck der Europäischen Zentralbank und der privaten Kreditinstitute sowie der EU und diverser Ratingagenturen gezwungen sah, dramatische Folgen für die spanische Bevölkerung. Am Montag schreckte die bürgerliche Tageszeitung El Mundo mit der Schlagzeile auf, ein Viertel der Kinder im Land seien unter- oder mangelernährt. Das Blatt beruft sich dabei auf Zahlen von Nichtregierungsorganisationen wie der FEDAIA, einem Zusammenschluß von 78 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in Katalonien, die auf einen starken Anstieg der Kinderarmut in den vergangenen Monaten hinweist. Hauptursache dafür seien Erwerbslosigkeit und schwere wirtschaftliche Probleme, unter denen immer mehr Familien litten, sagte FEDAIA-Vizepräsidentin Conxi Martínez. Es sei vielen Eltern nicht mehr möglich, ihre Kinder gesund zu ernähren. Auch die Caritas und das Rote Kreuz forderten, die Mittel für Essensausgaben in den Schulen zu erhöhen.

Die seit Mai von der bürgerlichen CiU geführte katalanische Regionalregierung kürzt statt dessen jedoch an der Gesundheitsversorgung. Um dem Ziel eines »ausgeglichenen Haushalts« näherzukommen, wurden in den vergangenen Monaten bereits Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen geschlossen oder Öffnungszeiten drastisch verkürzt, so daß der Bevölkerung in vielen Orten nachts und an den Wochenenden praktisch keine medizinische Notfallbetreuung mehr zur Verfügung steht. Als nächsten Schritt plant das Kabinett einem Bericht der Tageszeitung El País zufolge, das Katalanische Gesundheitsinstitut (ICS) in kleine Einzelunternehmen zu zerschlagen und »für privates Kapital zu öffnen«. Vor diesem Hintergrund hat die Bewegung der »Empörten« zu Protesten gegen die Privatisierung der Gesundheitsversorgung aufgerufen: »Von der Empörung zur Aktion!«

* Aus: junge Welt, 20. Oktober 2011


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