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Verfassungsänderung im Schnellverfahren

Spanien: Linke kritisieren parlamentarische "Amputation des Wohlfahrtsstaates"

Von Ralf Streck, San Sebastian *

Spanien will eine Schuldenbremse in seine Verfassung aufnehmen. Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero schlug dem Parlament am Dienstag auf einer Sondersitzung vor, eine entsprechende Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy aufzugreifen und eine Obergrenze für die Neuverschuldung des Staates festzuschreiben.

Schon in der Nacht zu Mittwoch war es zu ersten spontanen Protesten in Spanien gekommen. Auf dem zentralen Platz (Puerta del Sol) in der Hauptstadt Madrid hatten sich hunderte Menschen versammelt, um gegen das Vorhaben zu protestieren, die spanische Verfassung ohne Volksabstimmung zu ändern. Darauf hatten sich die regierenden Sozialisten (PSOE) und die ultrakonservative Volkspartei (PP) verständigt, nachdem die Schuldenbremse von Berlin und Paris gefordert worden war.

Viele haben angesichts der Eile das Gefühl, dass die Bürger im Sommer überrumpelt werden sollen. Festgelegt wurde nicht einmal, wo die Grenze liegen soll. Spanien ist mit 60 Prozent der Wirtschaftsleistung aber relativ geringer verschuldet als beispielsweise Deutschland oder Frankreich.

Das Parlament wird vermutlich Anfang September zu einer weiteren Sondersitzung zusammentreten, um mit Dreifünftelmehrheit die Änderung abzunicken. Die großen Parteien haben wegen des ungerechten Wahlrechts keine Probleme, das Quorum zusammenzubekommen.

Doch sie werden auf den Widerstand der »Empörten« treffen, die seit Mai gegen Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Demokratiedefizite auf die Straße gehen. Die Demokratiebewegung sieht sich in ihrer Ablehnung der »Zweiparteiendiktatur der PPSOE« bestätigt. Sie macht den neoliberalen Kurs beider Parteien für die Krise verantwortlich, deren Kosten sie der einfachen Bevölkerung aufbürden. Gefordert wird, auch über diese Verfassungsänderung per Referendum zu entscheiden. So wurde 1977 über die Verfassung, später über die Autonomiestatuten der Regionen, den Beitritt zur NATO und zuletzt 2005 auch über den EU-Vertrag abgestimmt. Dass nun noch tiefere Einschnitte ins Sozialsystem quasi verfassungsmäßig abgesichert werden sollen, wollen PSOE und PP den Bürgern nicht zur Entscheidung vorlegen. Die Vereinigte Linke (IU) hält es für »inakzeptabel«, dass ein »sterbendes Parlament«, das im September aufgelöst wird, um den Weg für vorgezogene Neuwahlen freizumachen, noch die »Amputation des Wohlfahrtsstaates« beschließt.

Auch von Konservativen in Katalonien und dem Baskenland kommt Kritik. Schließlich werden seit Jahrzehnten deren Bemühungen, mehr Eigenständigkeit zu erhalten, mit dem Hinweis auf die Verfassung abgeschmettert. So hatte das Verfassungsgericht 2010 zentrale Teile des neuen Autonomiestatuts für Katalonien gekippt. Eine Million Katalanen gingen auf die Straße, um ihr Statut zu verteidigen, dem sie mit großer Mehrheit zugestimmt hatten. Das regierende Parteienbündnis CiU stellt sich »klar und deutlich« gegen jede Änderung, die die Finanzautonomie der Regionen beschränkt. Katalonien ist seit Jahren unterfinanziert – wie auch Madrid anerkennt. Und das, obwohl Katalonien überdurchschnittlich zur Wirtschaftsleistung beiträgt.

Auch die Basken vermuten eine weitere Zentralisierung. So betont die große Partei PNV, dass das Baskenland für eine nachhaltigere Haushaltspolitik stehe, die Verschuldung unter der Staatsverschuldung und deutlich unter jener der übrigen Regionen im Land liege, in denen sich PP und PSOE an der Macht abwechseln. Die Produktivität ist dagegen höher und die Arbeitslosigkeit deutlich niedriger. Doch PP und PSOE wollen geduldiges Papier bedrucken, um die Finanzmärkte zu beruhigen. Ob sie sich im Ernstfall daran halten, darf bezweifelt werden, schließlich halten sich die Regionen, in denen sie regieren, auch jetzt nicht an die Sparvorgaben aus Madrid.

* Aus: Neues Deutschland, 25. August 2011


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