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"Es ist das System"

"Sparprogramm": Erwerbslosenzahl in Spanien auf Rekordhöhe, Binnenkonjunktur eingebrochen. Protestbewegung äußert grundsätzlich Kritik am Kapitalismus

Von Tomasz Konicz *

Die spanische Protestbewegung hat sich mit einem Sternmarsch in Madrid eindrucksvoll zurückgemeldet. Die Mitglieder der Bewegung der »Empörten«, die am vergangenen Wochenende aus der Provinz in die Hauptstadt marschierten, wurden von Unterstützern und Sympathisanten begeistert auf dem zentralen Platz, der Puerta del Sol, empfangen. Bei ihren wochenlangen Märschen hatten die Aktivisten dieser noch jungen Bewegung ihren Protest gegen die grassierende Arbeitslosigkeit, die damit einhergehende Verelendung breiter Bevölkerungskreise und die weiter um sich greifende Korrup­tion in alle Landesteile Spaniens gezeigt. Neben den Forderungen nach echter Demokratie kritisieren die »Empörten« den Kapitalismus nun grundsätzlich, so war auf dem Fronttransparent der jüngsten Großdemonstration zu lesen: »Es ist nicht die Krise – Es ist das System.«

Saisonale Effekte

Das Scheitern der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft manifestiert sich auf der Iberischen Halbinsel in der höchsten Erwerbslosenquote innerhalb der Europäischen Union. Das spanische Arbeitsministerium konnte zwar Anfang Juli vermelden, daß die offizielle Erwerbslosenzahl im Juni im dritten Monat in Folge um 1,6 Prozent auf 4,1 Millionen zurückgegangen sei; doch handelte es sich hierbei hauptsächlich um saisonal bedingte Beschäftigungseffekte, die durch den einsetzenden Tourismus ausgelöst wurden. Der Rückgang der Arbeitslosen um 67800 ist größtenteils auf zusätzliche Einstellungen im Dienstleistungsbereich, zirka 40400, zurückzuführen. Gegenüber dem Vorjahresmonat liegen die diesjährigen Arbeitslosenzahlen aber um 3,5 Prozent höher. Auch das europäische statistische Amt Eurostat kommt für den Mai 2011 auf einen neuen Höchstwert der saisonbereinigten Arbeitslosenquote in Spanien von 20,9 Prozent.

Die Erwerbslosenquote auf der Iberischen Halbinsel liegt somit mehr als doppelt so hoch wie in der gesamten Europäischen Union, wo offiziell 9,3 Prozent der Lohnabhängigen ohne Arbeit sind, und auch in der Eurozone, für die eine Arbeitslosenquote von 9,9 Prozent angegeben wird. Die Dramatik der Lage auf dem spanischen »Arbeitsmarkt« wird erst unter Berücksichtigung der Situation kurz vor Krisenausbruch deutlich, als Mitte 2007 etwas mehr als zwei Millionen Erwerbslose gezählt wurden. Binnen vier Jahren verdoppelte sich somit das Heer der Jobsuchenden. Am schwersten sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter 25 Jahren von dieser Krise der kapitalistischen Lohnarbeit betroffen. Im Mai lag die Jugendarbeitslosigkeit bei 44,4 Prozent. Auch dieser Wert markierte laut Eurostat einen vorläufigen Höchststand.

Einstürzende Neubauten

Die enorme Arbeitslosigkeit ist Resultat einer geplatzten Spekulationsblase auf dem spanischen Immobilienmarkt und rabiater neoliberaler Strukturreformen, die von der Madrider Regierung in Reaktion auf die Wirtschaftskrise durchgesetzt wurden. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Irland bildete sich auch auf der iberischen Halbinsel ein spekulativer Aufschwung auf dem Immobi­liensektor heraus, der bis 2008 als die wichtigste Triebfeder der Wirtschaft fungierte. Dieser auf Pump finanzierte Bauboom schuf massenhaft Arbeitsplätze und ermöglichte es Spanien, in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozent zu verzeichnen, während es in der gesamten Eurozone nur 1,5 Prozent pro Jahr waren. Nach dem Platzen dieser Spekulationsblase versank die spanische Wirtschaft 2009 und 2010 in einer Rezession, um hiernach in Stagnation zu verharren: Im ersten Quartal 2011 wuchs das spanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur um 0,3 Prozent.

Die explodierenden Krisenkosten (siehe unten) führten zu einem raschen Anschwellen des spanischen Haushaltsdefizits, das 2009 mehr als elf Prozent des BIP und 2010 rund 9,2Prozent erreichte. Konfrontiert mit einer rasch steigenden Staatsverschuldung und immer höheren Zinsen bei der Ausgabe von Staatsanleihen auf den Finanzmärkten, entschloß sich Madrid zu rabiaten neoliberalen »Sparmaßnahmen«, die nahezu ausschließlich die Lohnabhängigen des Landes treffen. 2010 wurden Steuererhöhungen und Sozialkürzungen im Umfang von 15 Milliarden Euro durchgesetzt, die unter anderem Einschnitte bei Löhnen sowie Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und eine Anhebung der Mehrwertsteuer beinhalteten. Vor wenigen Wochen hat die sozialdemokratische Regierung um Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero zudem die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre beschlossen und weitere Maßnahmen angedroht. Um das Haushaltsdefizit auf die anvisierten sechs Prozent des BIP in diesem Jahr zu senken, will Madrid auch die Flughäfen des Landes teilprivatisieren.

All dies beschleunigte den Einbruch der Binnenkonjunktur zusätzlich und führte zu rasch sinkende Steuereinnahmen, die allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres um 16,2 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal einbrachen. Die Roßkur, die Spaniens sozialdemokratische Regierung dem Land verordnet hat, ließ zwar die Arbeitslosigkeit auf Höchstwerte klettern, doch ein Absinken der Zinslast bei der Finanzierung des spanischen Defizits ist nicht absehbar, wodurch die Gefahr eines Staatsbankrotts weiterhin akut bleibt: Die Durchschnittsrendite für Kapitalgeber bei Mitte Juli edierten spanischen Staatsanleihen erreichte mit 5,896 Prozent einen neuen Höchstwert seit dem Beitritt des Landes zur Euro-Zone.

* Aus: junge Welt, 29. Juli 2011


Milliarden für Spaniens Banken

Kostspielige Rettungsmaßnahmen für Finanzbranche. Substantielle Stabilisierung weiter fraglich

Von Tomasz Konicz **


Während Spaniens Bevölkerung mit immer neuen »Sparpaketen« traktiert wird, stützt Madrid zugleich den maroden Finanzsektor mit Milliardenbeträgen. Die Bankhäuser auf der Iberischen Halbinsel finanzierten jahrelang die Spekulationsdynamik auf dem Immobiliensektor mit großzügig vergebenen Hypotheken, die einen besonders stark ausgeprägten Bauboom ermöglichten. Auf dessen Höhepunkt wurden je 1000 Einwohner 14 Wohnungen errichtet – bei nur sieben in den USA und drei in Großbritannien. Nach dem Platzen dieser Blase, was zu einem massiven Preisverfall von bis zu 70 Prozent bei Immobilien und ausartenden Zwangsenteignungen führte, fanden sich Spaniens Banken auf einem riesigen Berg fauler Hypotheken wieder Berechnungen der Boston Consulting Group zufolge existieren immer noch »Immobilienrisiken« von rund 35 Milliarden Euro. Andere Schätzungen gehen von einem Finanzierungsbedarf der Finanzbranche von bis zu 50 Milliarden Euro aus.

Madrid stellte Rettungsmittel bereit, die auf bis zu 99 Milliarden Euro ausgeweitet werden können. Im vergangenen Jahr bekamen strauchelnde Banken und Sparkassen elf Milliarden Euro aus dem steuerfinanzierten Restrukturierungsfonds (FROB – Fondo de reestructuración ordenada bancaria). Damit entsprachen diese öffentlichen Finanzzuwendungen in der Summe mehr als zwei Drittel des »Sparpaketes«, das 2010 verabschiedet wurde. In diesem Jahr sollen einem Bericht des Wall Street Journal zufolge nochmals 30 Milliarden Euro in den Bankensektor gepumpt werden. Dies geht mit einem staatlich forcierten Konzentrationsprozeß in der Finanzbranche einher, bei dem kleinere Institute zu größeren zusammengefaßt werden und Börsengänge wagen. Bei einer Fusion von sieben angeschlagenen Sparkassen (Cajas) Spaniens Mitte 2010 flossen beispielsweise öffentliche Hilfsgelder in Höhe von 4,6 Milliarden Euro.

Die bisherigen kostspieligen Restrukturierungsmaßnahmen scheinen aber eine substantielle Stabilisierung verfehlt zu haben, wie der zuletzt im Juli durchgeführte »Bankenstreßtest« offenlegte, bei dem fünf spanische Sparkassen und eine Bank durchfielen. Wenige Tage nach der Bekanntgabe dieses blamablen Ergebnisses wurden erneut 2,8 Milliarden Euro in den Finanzsektor gepumpt, die Caja Mediterraneo (CAM) kam unter Staatskontrolle. Die spanische Zentralbank kündigte überdies an, daß neben der CAM noch mindestens vier andere Sparkassen mit weiteren 5,4 Milliarden Euro versorgt werden müßten. Ein Ende dieser unendlichen Geschichte ist bislang nicht absehbar, da der spanische Immobilienmarkt sich immer noch nicht stabilisiert hat. Allein im Mai verzeichnete das süd­europäische Land einen Rückgang der Verkäufe um 18,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

** Aus: junge Welt, 29. Juli 2011


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