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Von Nordirland lernen?

Spanische Regierung pfeigt auf Erfahrungen des nordirischen Friedensprozesses - Massenprozess gegen die baskische Gestoras Pro Amnistía-Askatasuna hat begonnen

Vor dem spanischen Sondergerichtshof Audiencia Nacional in Madrid begann am Montag, den 21. April 2008, ein erneuter Massenprozess. 27 Männer und Frauen stehen vor Gericht, die seit Jahren - manche seit Jahrzehnten - in den Strukturen der baskische Bewegung Gestoras Pro Amnistía-Askatasuna (Bewegung Pro-Amnestie - Freiheit) aktiv sind. Ihre Aktivität richtet sich gegen staatliche Unterdrückung und Willkür, gegen Folter, für die Solidarität mit den vielen politischen Gefangenen aus dem Baskenland, die auf Gefängnisse in ganz Spanien verteilt sind.

Die Arbeit der pro-Amnestie-Bewegung ist im Baskenland und auch europaweit bei Menschenrechtsorganisationen hoch geachtet.

"Gestoras Pro Amnistía-Askatasuna ist nicht nur bekannt sondern anerkannt",
schreibt der Kommentator der baskischen Zeitung GARA. Ihre Arbeitsweise ist offen und transparent, sie reicht von der Organisation von Protesten, über praktische Hilfe für Gefangene bis zur Aufarbeitung von Zahlenmaterial über die Formen der Unterdrückung durch die Polizei und Justiz des spanischen und (in geringerem Umfang) auch des französischen Staates. Ihre Aktionen sind friedlich, im Rahmen der Gesetze und öffentlich.

Die spanische Regierung unter Zapatero setzt wie die Regierungen vor ihr, im baskischen Konflikt auf Unterdrückung und nicht auf eine Lösung. Ihr Problem ist dabei, dass die Unabhängigkeitsbewegung sehr lebendig alle sozialen, kulturellen und politischen Lebensbereiche umfasst. Sie ist nicht nur, wie es die spärlichen Medienberichte vermuten lassen, eine Auseinandersetzung des Militär-und Polizeiapparates des spanischen Staates mit der ETA.

Die spanische Regierung könnte einen Blick auf den Konfliktlösungsprozess in Nordirland werfen und daraus lernen. Die britische Regierung scheiterte kläglich daran, die Solidarität mit den Gefangenen, mit den Verfolgten, mit den Opfern von Todesschwadronen zu verbieten und von der Strasse prügeln zu lassen. Letztendlich musste auch sie lernen, dass staatliches Unrecht Märtyrer schafft und dass hunderte politische Gefangene tausende Familienangehörige, Freunde und Bekannte haben. 100.000 Menschen folgten dem Sarg von Bobby Sands, der 1981 im Hungerstreik für die Anerkennung als politischer Gefangener starb. Der Protest richtete sich gegen die Politik einer britischen Regierung, die dachte, den politischen Konflikt zur kriminellen Verschwörung umdeuten zu können und damit die politischen Gegner als Kriminelle zu isolieren.

Weit über 700 politische baskische Gefangene gibt es zur Zeit. Das sind mehr als gegen Ende des Franco Regimes Mitte der siebziger Jahre. Seit 1969 hat die Zahl der Gefangenen diese Höhe nicht mehr erreicht. Die baskische Bewegung Gestoras Pro Amnistía-Askatasuna (Bewegung Pro-Amnestie - Freiheit) ist in praktisch jeder Stadt und jedem Dorf in den baskischen Gebieten vertreten. Sie mobilisiert tausende Baskinnen und Basken zu Solidaritäts- und Protestaktionen. Kein Wunder ist sie einer Politik der Entrechtung und der Illegalisierungen ein Dorn im Auge. Seit 2001 ist sie nun selbst suspendiert, einige ihrer bekanntesten Sprecher saßen zum Teil bereits vier Jahre in Untersuchungshaft, ohne je ein Gerichtsverfahren gesehen zu haben.

Den Prozess, der am Montag, den 21. April 2008, begann, sehen die Angeklagten als Schauprozess. Für sie steht das Urteil fest. Die Staatsanwaltschaft fordert zehn Jahre für jeden der Angeklagten "wegen Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Organisation". Einer der Anklagepunkte wirft den Angeklagten "Formen der Auseinandersetzung, die komplementär zu denen der ETA sind" vor. Ein anderer Punkt der Anklageschrift wirft der Organisation vor, "das Mitgefühl (auszunutzen), das durch die angebliche Verletzung der Rechte der ETA-Gefangenen entsteht, um neue Freiwillige zu generieren, die die operative Struktur der ETA erneuern". Die spanische Regierung lässt derzeit nicht einmal die Entlassung schwer kranker Häftlinge zu. Was meint sie wohl zu erreichen, wenn sie Mitgefühl und Solidaritätsaktionen unter Strafe stellt?

"Diese Art von Prozessen politischer Justiz entfernt uns weiter von den Zielen, die wir mit der baskischen Gesellschaft teilen: ein Ende der Unterdrückung und eine endgültige Lösung des baskischen Konflikts",
schreibt Julen Arzuaga, Koordinator der Menschenrechtsorganisation Behatokia ( http://www.behatokia.info/ ) und Angeklagter im Prozess am Schluss seiner Übersicht zum Prozess, zur Anklage und zur Arbeit und Geschichte von Gestoras Pro Amnistía-Askatasuna.

Die Textversionen der beiliegenden Übersetzungen finden Sie nebst weiteren Informationen auf der Webseite Info Nordirland:
  • in deutscher Sprache: http://www.info-nordirland.de/start_de.htm
  • in englischer Sprache: http://www.info-nordirland.de/start_en.htm
Uschi Grandel


Feldzug gegen die »Gestoras«

Massenprozeß gegen baskische Gefangenenhilfsorganisationen in Madrid

Von Ingo Niebel *


Die Gestoras pro Amnistia (Pro-Amnestie-Komitees) und Askatasuna (Freiheit) sind die wichtigsten baskischen Gefangenenhilfsorganisationen. Gegen beide hat am Montag ein weiterer Massenprozeß vor dem Madrider Sondergericht für Terror- und Drogendelikte, der Audiencia Nacional, begonnen. 27 Aktivisten sind angeklagt, Mitglieder der Untergrundorganisation ETA zu sein. Die Staatsanwaltschaft fordert zehn Jahre Haft für jeden Angeklagten. Das Verfahren wird voraussichtlich bis Juli dauern. Es ist der zweite Massenprozeß in Folge. Ende 2007 verurteilte die Audiencia 47 Aktivisten für politische Tätigkeit zu mehrjährigen Haftstrafen.

Staatsanwalt Enrique Molina sieht es als erwiesen an, daß die Angeklagten die Befehle der ETA weitergegeben hätten. Außerdem hätten sie im Auftrag der Organisation jene ETA-Mitglieder bedroht, die sich der Disziplin widersetzt hätten. Molina behauptet weiter, Abtrünnige seien ermordet worden. Die Ermittlungen führte Spaniens »Starrichter« Baltasar Garzón seit 2001.

Die »Gestoras«, wie sie im Baskenland kurz genannt werden, entstanden am Ende der Franco-Diktatur. Sie forderten 1975 eine Amnestie für die 750 politischen Gefangenen. Das Logo der Gefangenenhilfsorganisation stammt von dem bekannten baskischen Bildhauer Eduardo Chillida, von dem auch eine Skupltur vor dem Berliner Bundeskanzleramt steht. Es zeigt ein stilisiertes kleines a wie »amnistia«, das an einen zum Ruf geöffneten Mund erinnert. Richter Garzón verhängte 2001 ein Betätigungsverbot gegen die Gestoras und 2002 gegen ihre Nachfolgerin Askatasuna. Letztere darf dagegen in Frankreich weiter legal arbeiten. Die ETA begleitet den Megaprozeß mit einem weiteren Attentat. Am Sonntag explodierte ein Sprengsatz vor dem Parteibüro der spanischen Sozialisten im baskischen Elgoibar. Es ist der zweite Bombenanschlag innerhalb von 70 Stunden gegen eine Einrichtung der Madrider Regierungspartei von José Luis Rodríguez Zapatero. Trotzdem meint Spaniens Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba: »ETA ist geschlagen«.

* Aus: junge Welt, 22. April 2008


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