Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gummigeschosse und Schlagstöcke gegen empörte Spanier

Regierung in Madrid stößt bei der Durchsetzung der Sparmaßnahmen auf Widerstand in mehreren Landesteilen

Ralf Streck, San Sebastián *

Die spanische Regierung steht unter enormem Druck: Die Empörten belagern das Parlament in Madrid, das Baskenland streikt und Katalonien will sich abspalten.

Das Echo am Mittwochmorgen nach der in Gewalt ausgeuferten Demonstration in Madrid war so gespalten wie die Situation in den Straßen in der Nacht davor. Nachdem mehrere tausend Menschen während des gesamten Dienstags friedlich in der spanischen Hauptstadt demonstrierten, versuchten wenige von ihnen, am Abend doch noch die Absperrgitter niederzureißen, die um das Parlament aufgestellt waren. Danach ging die Polizei massiv gegen die Protestierer vor: Gummigeschosse, Knüppel, Tränengas und Pfefferspray kamen zum Einsatz.

Lob für den Polizeieinsatz

Einige Demonstranten bewarfen ihrerseits die Beamten mit Flaschen und Steinen. Mindestens 64 Menschen wurden verletzt, davon 27 Polizeibeamte. 35 mutmaßliche Gewalttäter wurden verhaftet.

Während die Veranstalter der Demonstration die Brutalität der Polizei kritisierten, hat die konservative Regierung die Vorgehensweise der Beamten »ausdrücklich« gelobt. Innenminister Jorge Fernández Díaz sagte, die Polizei sei »außerordentlich gut« vorgegangen. Kritik übte sie an den gewalttätigen Demonstranten. »Man muss auf Forderungen eingehen, die auf friedlichen Kundgebungen vorgebracht werden«, sagte Vizeregierungschefin Soraya Sáenz de Santamaría. »Aber wenn gewaltsam gegen die Vertretung aller Spanier vorgegangen wird, ist das eine andere Sache.« Die oppositionellen Sozialisten äußerten Verständnis für den Unmut in der Bevölkerung, wiesen aber darauf hin, dass Gewalt gegen das Parlament nicht hinnehmbar sei.

Die »Koordination 25-S«, die zum Protest aufgerufen hatte, sprach von »sehr kleinen Gruppen«, die zu Mitteln gegriffen hätten, die nicht denen der Aufrufer entsprächen. Die Empörten-Bewegung hatte stets den friedlichen Charakter des Protests hervorgehoben. In einer Erklärung schließen die Veranstalter nicht aus, dass sich unter den »Krawallmachern« auch »infiltrierte Polizisten« befunden haben.

Neu wäre das nicht. So wurde bei der Belagerung des katalanischen Regionalparlaments im Sommer 2011 eine Gruppe maskierter Krawallmacher von den Demonstranten isoliert und schließlich - zum Erstaunen der Demonstranten - von der Polizei hinter die Absperrungen geleitet.

Kein Ende der Proteste

Soraya Sáenz de Santamaría äußerte sich bereits vor der Demonstration kritisch: »Das letzte Mal, dass der Kongress eingekreist und eingenommen wurde, war bei einem Staatsstreich.« Damit bezog sie sich auf Vorgänge von 1981, als Beamte der paramilitärischen Guardia Civil mit Maschinenpistolen bewaffnet das Parlament gestürmt hatten.

Die Empörten wollten mit ihrer Aktion die »Demokratie retten«, denn die Politiker hätten sie »entführt«. Sie sprechen von einer »Zweiparteiendiktatur der PPSOE«. Die regierende Volkspartei (PP) und die Sozialisten (PSOE) hätten ein Wahlsystem geschaffen, das kleine Parteien stark benachteiligt, um sich gegenseitig an der Macht abzulösen und keine Alternative zuzulassen. Die Empörten fordern den Rücktritt der Regierung, die entgegen ihren Versprechen Steuern erhöht, Löhne im öffentlichen Dienst gekürzt und massive Einschnitte im Sozialsystem vorgenommen habe. Gegen die Sparpolitik protestierten bereits am 15. September Hunderttausende in der Hauptstadt. Unter Führung der großen Gewerkschaften forderten sie erfolglos ein Referendum über die Regierungspolitik.

Noch am gestrigen Abend wollten die Empörten erneut vor das Parlament ziehen, das voraussichtlich heute mit dem Haushalt 2013 neue massive Einschnitte beschließen wird. Gegen diese protestierten am Mittwoch auch die Gewerkschaften im weit von Madrid entfernten Baskenland. Beim fünften baskischen Ausstand seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 setzten die Gewerkschaften erneut auf die Mobilisierung der sozialen Basis, um den »neoliberalen Durchmarsch« zu stoppen.

Auch aus Katalonien erfährt die Zentralregierung derzeit keine guten Nachrichten. Regierungschef Artur Mas teilte am Dientagsabend mit, die Bevölkerung der nordostspanischen Region am 25. November über die Unabhängigkeit abstimmen zu lassen - notfalls auch gegen den Willen von Ministerpräsident Mariano Rajoy. Nach der spanischen Verfassung darf allein der Zentralstaat Volksabstimmungen abhalten.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 27. September 2012


Rajoy läßt prügeln

Spanien: Zehntausende versuchen in Madrid, das Parlamentsgebäude zu umzingeln

Von Carles Solà und Mela Theurer, Barcelona **


Tausende Menschen haben am Dienstag in Madrid mehrere Stunden lang das Gebäude des spanischen Kongresses umzingelt, um damit gegen die Kürzungspolitik der Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy zu protestieren. Dazu aufgerufen hatte die Bewegung der »Empörten«, die durch verschiedene Bündnisse und Organisationen, wie die »Koordination 25. September« und die Plattform »Aufrecht stehen« repräsentiert wurde. Während die Behörden von 6000 Teilnehmern sprachen, zählten die Veranstalter Zehntausende. Das Netzwerk Attac sprach von bis zu 100000 Menschen, die an diesem Tag in Madrid auf den Beinen waren. Diese waren vor allem über soziale Netzwerke im Internet nach Madrid mobilisiert worden. Ursprünglich sollte die Blockade bis zum Rücktritt der Regierung aufrechterhalten werden. Gefordert wurde zudem der Amtsverzicht aller Abgeordneten, um durch eine Auflösung des Kongresses den Weg für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung hin zu einer wirklichen Demokratie frei zu machen. 1400 Polizisten hatten jedoch schon am Tag zuvor damit begonnen, den Kongreß abzuschirmen. Madrids Regierungsvertreterin Cristina Cifuentes verurteilte bereits im Vorfeld die geplante Aktion als »Straftat« und verglich sie mit einem Staatsstreich.

Trotz der vorweggenommenen Kriminalisierung kamen Tausende Menschen nach Madrid, um in einem Sternmarsch von drei Plätzen ausgehend auf das Parlamentsgebäude zuzugehen und dessen Zugänge zu blockieren. Die Polizei verhinderte das mit einem brutalen Einsatz gegen die Demonstranten. Mit Schlagstöcken und Gummigeschossen ging die Polizei immer wieder gegen die Versammelten vor, so daß selbst die regierungsnahe Tageszeitung El Mundo in ihrer Mittwochausgabe von »unverhältnismäßiger Gewalt« durch die Sicherheitskräfte berichtete. Auf im Internet verbreiteten Videoaufnahmen ist zu sehen, wie einzelne Demonstranten durch mehrere Polizisten umringt und brutal zusammengeschlagen werden. Die Bilanz des Tages: 64 Verletzte, darunter nach Medienangaben auch 24 Polizisten, sowie 38 Festnahmen. Die Demonstranten reagierten auf die Übergriffe mit Sprechchören wie »Weniger Polizei – mehr Bildung«. »Ihr vertretet uns nicht«, »Hände hoch, das ist ein Überfall« und »Gegen den Kapitalismus« waren weitere Slogans der Demonstration.

Während die parlamentarische Opposition aus sozialdemokratischer PSOE und Vereinigter Linker (IU) gegen die Polizeigewalt protestierte, gratulierte die Regierung, vertreten durch Cristina Cifuentes, der Polizei zu ihrem »gelungenen« Einsatz und sprach von einer »angemessenen« Reaktion. Die Vereinigte Polizeigewerkschaft (SUP) erklärte sogar, die Beamten hätten am Dienstag »die Demokratie verteidigt«.

Im Kongreß selbst waren zu der regulären Plenartagung am Dienstag lediglich 50 der 350 Abgeordneten erschienen. Parlamentarier der IU, die im Kongreß ihre Untersützung für den Protest ausgedrückt hatten, versuchten anschließend, sich in die Blockade einzureihen.

Die Plattform »Aufrecht stehen« kommentierte in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung die Ereignisse mit den Worten, der 25. September markiere ein »Davor und danach« der Bürgerproteste. Der Tag sei das Startsignal für eine organisierte Rebellion gewesen, die sich nicht nur »gegen die vom Regime durchgesetzten wirtschaftlichen Kürzungen« richte, sondern auch gegen die Repression.

Auch in anderen Städten wie Granada, Sevilla und Barcelona kam es zu Belagerungsaktionen der Parlamente, an denen jeweils mehrere Hundert Personen teilnahmen. In Katalonien hatten »Wirkliche Demokratie Jetzt« und andere Gruppen zu der Blockade aufgerufen, und forderten mehr Mitbestimmung und eine echte Demokratie. Während sich vor dem Parlamentsgebäude in Barcelona um die 300 Personen versammelten, absolvierten im Inneren die Abgeordneten den ersten Tag ihrer Generaldebatte. Der Präsident der Generalitat, Artur Mas, kündigte in diesem Rahmen Neuwahlen für den 25. November an und sprach in seiner Rede davon, den Weg freimachen zu wollen, damit die katalanische Bevölkerung uneingeschränkt und selbstbestimmt über ihre Zukunft und die Unabhängigkeit vom spanischen Staat bestimmen könne.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 27. September 2012


Zurück zur Spanien-Seite

Zurück zur Homepage