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Erneut ausgegrenzt

"Médicos del Mundo" kämpfen für eine angemessene Gesundheitsversorgung der Einwanderer in Spanien

Von Ralf Streck, Navarra *

Menschen, denen es gelingt, die Grenzen nach Europa zu überwinden, stoßen hier auf neue, teils unüberwindbare Barrieren: Schwangere Papierlose in Deutschland erhalten keine medizinische Voruntersuchungen, in vielen Teilen Spaniens werden Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus völlig vom kostenfreien Gesundheitssystem ausgeschlossen. Überall wehren sich dagegen Organisationen und Initiativen.

»Fremdenfeindlichkeit und Rassismus werden damit geschürt«, stellt Patricia Ruiz empört fest. Die Sprecherin der Hilfsorganisation »Médicos del Mundo« (Ärzte der Welt) konkretisiert: Die Gesundheitspolitik in Spanien werde zur Ausgrenzung von Einwanderern benutzt. Zusammen mit Kollegen und Unterstützern geht die schlanke Frau immer wieder in Pamplona und anderen Städten auf die Straße, um für ein öffentliches Gesundheitssystem zu streiten, zu dem alle Menschen Zugang haben.

Die spanische Regierung hat vor einem halben Jahr Einwandern per Dekret die Gesundheitskarte entzogen. Seither werden sie im nordspanischen Navarra in Gesundheitszentren offiziell nicht mehr behandelt. Einwanderer wie der Anfang 30-jährige Afrikaner Omer verlieren so ihre letzten Rechte. Das wollen Patricia Ruiz und ihre Kollegin Yolanda Rodríguez Villegas nicht hinnehmen. Sie sitzen zusammen mit Omer in einem Beratungsraum und sprechen über seine Situation. Auch in Pamplona - der Ort, der durch Ernest Hemingways Roman »Fiesta« berühmt wurde - unterhält die Organisation ein Büro.

Am Rand der Altstadt, wo auch 90 Jahre nach Hemingways Besuch noch Stierläufe stattfinden, hilft die Organisation sozial Ausgegrenzten. Die Initiatoren haben diese Räume gewählt, weil sie in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ausländerpolizei liegen. Die großen Schaufenster signalisieren Offenheit. »Das ist wichtig«, sagt Ruiz. Früher habe man vor allem Drogenabhängige, Prostituierte oder Einwanderer betreut, die es in den Jahren des Baubooms aus aller Welt nach Spanien zog. Inzwischen könne jeder hier Lebende in eine Lage geraten, in der er Hilfe benötigt.

Einwanderer seien nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs dramatischer sozialer Veränderungen, so Ruiz. Seit dem 1. September 2012 steuern sie in ganz Spanien die Organisation an. Man kann sich ausmalen, was aus Omer ohne ihre Hilfe geworden wäre. Dem Mann mit dem kurzen Kraushaar, der seinen echten Namen nicht nennen will, geht es sehr schlecht. Er hat Angst. Große Angst. Auch davor, in das für ihn fremde Afrika verfrachtet zu werden.

Angst vor Verhaftung und Abschiebung

Er hat psychische Probleme. »Ich wurde verrückt«, beschreibt er seine Lage. Sein gutes Spanisch zeigt, dass er schon lange im Land lebt. Er fühlte sich verfolgt und merkte, dass etwas Merkwürdiges in seinem Kopf passierte. »Ich bin nervös und habe sogar Angst davor, dass mich meine Freunde umbringen.« Seine Krankheit kostete ihn letztlich seinen Job bei einem Bauern in Galicien, wo er für 400 Euro Monatslohn 14 Stunden täglich geschuftet hatte. Der Mindestlohn in Spanien liegt zwar bei 641 Euro, aber bei dem Bauern hatte Omer ein Dach über dem Kopf, war offiziell angemeldet und besaß eine Aufenthaltserlaubnis. Die ist erloschen, als er seinen Job verlor. Seitdem gilt er aus Sicht der Regierung als illegal im Land. Und gerade jetzt, wo er die Unterstützung vom staatlichen Gesundheitssystem benötigen würde, erhält er sie nicht. Auf der Suche nach Arbeit und Hilfe ist er in Pamplona gestrandet.

Obwohl es in dem mit Plakaten behängten fensterlosen Raum warm ist, zieht er seine Winterjacke nicht aus. Sie dient ihm als Schutzschild. Er spricht mit tiefer Stimme, leise und monoton. Sein Blick ist gesenkt. Er steht unter dem Einfluss starker Medikamente. »Die Pillen helfen mir«, sagt er. Sie unterdrücken die Angstsymptome, ergänzt die Psychologin Rodríguez, die hier freiwillig Menschen wie Omer hilft.

Wenn er die Beklemmung nicht mehr aushält, geht er in die Notaufnahme des Krankenhauses, um sich Psychopharmaka verschreiben zu lassen. Christliche Nächstenliebe wird in dem nach der Jungfrau Maria benannten Hospital aber nicht groß geschrieben. Der arbeitslose Omer muss die teuren Medikamente selbst bezahlen und im Dezember erhielt er zusätzlich noch eine »Behandlungsrechnung« über 279,50 Euro. Dabei garantiert das neue Dekret in Notfällen eine kostenfreie Behandlung. In der Rechnung wird ihm gedroht, die Behörden einzuschalten, sollte er nicht bezahlen. Das befeuert seine Angst, verhaftet und abgeschoben zu werden.

»Das ist kein Einzelfall«, unterstreicht Ruiz. Zwar seien die ersten Fälle in Navarra registriert worden, doch das Beispiel hat in anderen Regionen längst Schule gemacht. »Es ist eine reine Abschreckungsmaßnahme«, um diese Menschen von den Notaufnahmen fernzuhalten, meint die Psychologin. Ihre langen, schwarzen Locken und ihr Akzent weisen darauf hin, dass es sie aus Südspanien hierher in den Norden verschlagen hat.

Die Regierung hat mit dem Dekret Chaos geschaffen. Niemand blicke mehr durch, weil die Ausführung nicht klar definiert ist, erläutert Ruiz. »Sogar mir wollten sie eine Rechnung schreiben, als ich meine Tochter in die Notaufnahme von Valladolid brachte, weil meine Gesundheitskarte in Navarra ausgestellt ist«, erklärt sie.

Armut wie in einem Entwicklungsland

Was die Spanierin mit wenigen Worten richtigstellen kann, ist ein Drama für schwer kranke Menschen, die oft die Sprache nicht gut sprechen und kein Geld haben. Viele chronisch Kranke, die an Diabetes leiden, erhalten ihr Insulin inzwischen bei Hilfsorganisationen, weil sie entweder das Geld für das Medikament oder die gesetzlich neu verankerte Zuzahlung nicht aufbringen können. »Viele haben nicht einmal genug Geld für das Essen«, erklärt Ruiz. Das Profil der Armen habe sich seit 2008 stark verändert. Verliert man in der Krise seinen Job, ist oft auch für Spanier der Abstieg in die Armut programmiert. Läuft das Arbeitslosengeld aus, gibt es noch sechs Monate jeweils 400 Euro. Danach muss man zusehen, wie man überlebt.

Schon zwei Millionen Menschen bekommen keine Unterstützung mehr. Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern verlieren zudem die Aufenthaltsgenehmigung und damit das Recht auf gesundheitliche Versorgung. Doch auch spanische Familien brechen längst unter den finanziellen Lasten zusammen. »Die Regierung hat eine Lage geschaffen, die man bislang nur aus Ländern der sogenannten Dritten Welt kannte«, sagt Ruiz.

Die spanischen »Ärzte der Welt« erhalten Geld von der französischen Sektion. Diese Mittel seien früher für Hungersnöte in der Sahelzone ausgegeben worden. »Spanien wird heute als Entwicklungsland betrachtet. So traurig ist das«, urteilt Ruiz. Stolz ist sie aber darauf, dass auch die Solidarität zunimmt, was sich an erhöhten Spendeneinnahmen und immer mehr Freiwilligen festmachen lässt, die wie Rodríguez der Organisation zur Seite springen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 09. März 2013


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