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"Katalonien, ein neuer Staat in Europa"

Mehr als 1,5 Millionen Menschen demonstrierten in Barcelona für die Unabhängigkeit von Spanien

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Am 11. September 1714 besiegelte das Heer des Bourbonenkönigs Philipp V. das Ende der katalanischen Autonomie. Am 11. September 2012 fand eine der machtvollsten Demonstrationen in der katalanischen Geschichte statt: Über 1,5 Millionen Menschen forderten in Barcelona die Unabhängigkeit Kataloniens.

Das Motto der Demonstration am katalanischen Nationalfeiertag (Diada) konnte klarer nicht sein: Für »Katalonien, ein neuer Staat in Europa«. In dieser Losung sind sich die Katalanen so einig wie nie zuvor. Laut einer von der katalanischen Regierung, der Generalitat, im Juni in Auftrag gegebenen Umfrage, sprechen sich 51 Prozent der 7,5 Millionen Bewohner der Autonomen Gemeinschaft Katalonien für eine Unabhängigkeit aus - ein neuer Rekord und acht Prozent mehr als 2011.

Die im März gegründete Unabhängigkeitsbewegung Katalanische Nationalversammlung (ANC) ist sichtbar im Aufwind: Schon am Nachmittag füllten zahllose Menschen, mit der »Estelada«-Fahne bewaffnet, die Innenstadt Barcelonas. Das Wahrzeichen der Unabhängigkeitsbewegung mit dem weißen oder roten Stern auf der gelb-roten Flagge hat die gleichfarbige katalanische Fahne »Senyera« verdrängt.

Die Zahlen zur Beteiligung unterscheiden sich. Die Polizei spricht von mehr als 1,5 Millionen Menschen und die Veranstalter von zwei Millionen. Die spanische Regierung will »nur« 600 000 gezählt haben. Barcelona hat schon viele große Versammlungen erlebt, doch es war die »größte in der neueren katalanischen Geschichte«, wie die ANC-Präsidentin Carme Forcadell erklärte. Ein Marsch war angesichts des Kollapses der Demoroute nicht möglich. In Barcelona waren mehr Menschen auf den Straßen als in der gesamten Stadt leben. Sogar konservative spanische Medien können den Erfolg nicht kleinreden. Auch »El Mundo« titelte mit der »Menschenflut für die Unabhängigkeit«.

Die ANC hatte klar gemacht, dass es nur noch darum geht, die Vereinnahmung der katalanischen Regierung abzuweisen. Regierungschef Artur Mas hatte zwar zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen, aber seine konservative Konvergenz und Einheit (CiU) will vor allem bei der Spanien regierenden Volkspartei (PP) einen Fiskalpakt durchsetzen, der die katalanische Autonomie stärkt. Eine ANC-Abordnung überreichte im Parlament ihr Manifest, das unmissverständlich fordert, »die Sezession vom spanischen Staat einzuleiten«.

Mas hatte bei den offiziellen Feierlichkeiten zuvor versucht, die Stimmung in eine verbesserte Finanzierung umzumünzen. »Wenn es kein Abkommen gibt, ist der Weg zur Freiheit Kataloniens frei«, sagte er. Es gehe um die »volle Finanzsouveränität«. Sonst, warnte er vor der Demonstration noch, würden täglich mehr der 7,5-Millionen-Bewohner für die Unabhängigkeit eintreten.

»Es ist Zeit, Katalonien staatliche Strukturen zu geben«, sagte Mas nun gestern und sprach von einem »nationalen Übergang«. Im Parlament erklärte er aber, ein eigenes Steuersystem sei der erste Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Deshalb soll nun eine Steuerbehörde aufgebaut werden. Darüber wird Mas kommende Woche mit Ministerpräsident Mariano Rajoy verhandeln.

Die Lage ist schwierig, da Katalonien gerade in Madrid fünf Milliarden Euro Hilfe beantragen musste, um Anleihen refinanzieren zu können. Wegen seiner hohen Verschuldung ist es von den Finanzmärkten abgeschnitten. Für Katalanen resultiert die Situation daraus, dass seit Jahrzehnten viel Geld nach Spanien abgeflossen ist. Niemand bezweifelt, dass die Region besonders stark zur spanischen Wirtschaftsleistung Spaniens beiträgt, aber nur ein kleiner Teil fließt zurück.

Dass die Steuern der Katalanen nun immer weniger in Sozialleistungen, Bildung und Gesundheit fließen, sondern zur Bankenrettung, Schuldendienst, Militär oder die Monarchie ausgegeben werden, lässt das Fass überlaufen. Für 2014 wird ein Referendum angestrebt. Zum 300. Jahrestag des 11. September 1714, als Katalonien seine Eigenständigkeit verlor und unter die Herrschaft der Bourbonen fiel, soll über die Unabhängigkeit abgestimmt werden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. September 2012


Millionen gegen Madrid

Rund zwei Millionen Menschen haben am Dienstag abend in Barcelona für die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien demonstriert.

Von André Scheer **


Zu der Kundgebung am Nationalfeiertag, der Diada Nacional, hatte die »Katalanische Nationalversammlung« aufgerufen, ein im März gegründetes Personenallianz. Unterstützt wurde die Aktion durch die meisten Parteien, von der linken ICV-EUiA bis hin zur konservativ-nationalistischen Regierungsallianz CiU. Deren Chef Artur Mas lobte am Mittwoch die Demonstration und erklärte, er sei »zutiefst stolz, in diesem Augenblick Präsident dieses Landes zu sein«. Sein Kabinett hat im katalanischen Parlament jedoch keine Mehrheit und ist auf die Unterstützung der rechten, in der Tradition des Franco-Regimes stehenden Volkspartei (PP) angewiesen. Diese Partei, die auch die spanische Zentralregierung in Madrid stellt, sprach sich gegen die Großdemonstration aus und warf Mas vor, die »schweigende Mehrheit« der Katalanen, die für einen Verbleib der Region im spanischen Staat seien, auszugrenzen. Einer vor wenigen Tagen von der Generalitat, der Regionalregierung, veröffentlichten Meinungsumfrage zufolge würden sich derzeit jedoch bei einem Referendum mehr als 51 Prozent der Befragten für die Unabhängigkeit aussprechen, nur 21 Prozent dagegen.

Auslöser für die besondere Anziehungskraft des diesjährigen Nationalfeiertags, der an die Belagerung Barcelonas durch die Truppen Philipp V. im Spanischen Erbfolgekrieg und an die Kapitulation der Stadt am 11. September 1714 erinnert, ist die Wirtschaftskrise Spaniens. Eine Mehrheit der Katalanen macht Madrid auch für die eigenen Probleme verantwortlich und geht davon aus, daß die Lage in einem unabhängigen Katalonien besser wäre. Tatsächlich muß die autonome Region mehr Steuereinnahmen an Madrid abgeben, als sie Mittel von dort zurückbekommt. Man habe zwar nichts dagegen, ärmere Regionen Spaniens zu unterstützen, wolle aber nicht auf diese Weise etwa das Königshaus finanzieren und dafür sogar noch Streichungen von Sozialleistungen hinnehmen, hieß es dazu von Unterstützern der Unabhängigkeitsbewegung.

»Jahrelang hat Spanien sein marodes Wirtschaftssystem dank der in Katalonien erwirtschafteten Steuern aufrechterhalten können«, kritisierte etwa die Republikanische Linke (ERC). Deren Vorsitzender Oriol Junqueras forderte Regierungschef Mas auf, das Bündnis mit der PP aufzukündigen und eine Allianz mit der ERC einzugehen, um den patriotischen Tönen Taten folgen zu lassen. Auch der Koordinator der Vereinigten und Alternativen Linken (EUiA), dem katalanischen Pendant zur spanischen Izquierda Unida (IU), Joan Josep Nuet, forderte Mas auf, seine für den 20. September geplante Unterredung mit Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy zu nutzen, um sich von der PP abzusetzen und für ein »katalanisches Modell des Auswegs aus der Krise« einzutreten, das auch die Kürzungen in Frage stellen müsse.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 13. September 2012


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