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500 000 Mal "Adíos, España"

Gigantische Menschenkette für katalanische Unabhängigkeit

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Mehr als 500 000 Menschen bildeten in Katalonien gestern eine Menschenkette, um am Nationalfeiertag die Unabhängigkeit von Spanien zu fordern. Über 480 Kilometer hinweg – von Le Perthus in Frankreich bis nach Valencia hinein – gaben sich an der gesamten Mittelmeerküste die Menschen die Hände. Auch starker Regen hielt sie nicht ab.

Aufgerufen hatte der »Katalanische Weg in die Unabhängigkeit«, hinter der die Katalanische Nationalversammlung (ANC) steht. Über den gesamten Tag beteiligten sich zahllose Menschen an den Diada-Feiern, die in diesem Jahr die Forderung nach einem Unabhängigkeitsreferendum formulieren. Die Republikanische Linke (ERC) hat mit der konservativen Konvergenz und Einheit (CiU) vereinbart, 2014 die Bevölkerung entscheiden zu lassen, wenn auch Schottland über die Unabhängigkeit von Großbritannien abstimmt. Das Jahr ist von großer Bedeutung, da 300 Jahre zuvor – 1714 – Barcelona in den Erbfolgekriegen unter die spanische Krone fiel und Katalonien seine Eigenständigkeit verlor. Deshalb wurde die Menschenkette um 17.14 Uhr gebildet.

In Barcelona hatten schon am Morgen zahllose Persönlichkeiten und Parteienvertreter an der Ehrung Rafael Casanovas teilgenommen, bevor sie sich zu ihren vorbestimmten Plätzen in der Menschenkette begaben. Casanova war während der Belagerung vor 300 Jahren Vorsitzender des Rates der Stadt. ANC-Vertreterinnen wie die Vorsitzende Carme Forcadell wurden am Nachmittag vom Präsidenten der Regionalregierung, Artur Mas, empfangen. Forcadell zeigte sich dabei überzeugt, »dass in diesem Jahr noch mehr Menschen auf die Straße gehen als im Vorjahr«. Gut 1,5 Millionen Personen hatten 2012 in Barcelona demonstriert. »Katalonien, ein neuer Staat in Europa«, lautete das klare Motto, unter dem gut 20 Prozent der katalanischen Bevölkerung auf die Straße gingen.

Für Carme Forcadell ist die Menschenkette ein »Symbol der Einheit der katalanischen Bevölkerung, um die nationale Souveränität zu erreichen«. Angeknüpft wird damit an den »Baltischen Weg«. In den damaligen baltischen Sowjetrepubliken war 1989 die bis dahin längste Menschenkette gebildet worden, um für die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens einzutreten. Zwei Jahre später war das Ziel erreicht.

Klar war, dass der ANC den Druck auf Artur Mas erhöhen wollte, und das ist gelungen. Zwar versuchte der Christdemokrat erneut, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen – auch Mas rief zur Teilnahme an der Menschenkette auf –, doch viele trauen ihm nicht. Lange waren er und seine CiU nur für eine bessere Finanzierung der Region eingetreten, die einen überdurchschnittlich hohen Beitrag zum Bruttosozialprodukt Spaniens leistet. Deshalb wurde bei Wahlen 2012 vor allem die ERC gestärkt, die zweitstärkste Kraft wurde.

In deren Reihen hatte Mas vergangene Woche für Aufregung gesorgt, als er den Termin für das Referendum in Frage stellte. Bekannt wurde auch, dass es geheime Gespräche mit der spanischen Regierung unter Mariano Rajoy gab. Mas hatte die Möglichkeit aufgeworfen, die Abstimmung erst 2016 durchzuführen, falls man sich mit Spanien nicht einige oder Madrid die Abstimmung verbiete.

Nun bekräftigte er aber seine »Verpflichtung auf das Selbstbestimmungsrecht« und den vereinbarten Fahrplan, wie von ERC und ANC gefordert worden war. Er wolle »alle legalen demokratischen Instrumente einsetzen«, damit die »Bevölkerung in Katalonien über ihre Zukunft entscheiden kann«, sagte der Regierungschef. Er fordert die Katalanen auf, der Welt ihren Willen in der besten Form und friedlich zu demonstrieren.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. September 2013


Raus aus Spanien und aus der EU

Hunderttausende für Unabhängigkeit Kataloniens. Linken reicht das nicht

Von André Scheer, Barcelona **


Katalonien hat am Mittwoch mit zahlreichen Veranstaltungen an den Verlust seiner Unabhängigkeit vor 299 Jahren erinnert. Am 11. September 1714 hatte Barcelona vor den Belagerungstruppen Frankreichs und Spaniens kapitulieren müssen. In diesem Jahr wurde der katalanische Nationalfeiertag »Diada Nacional de Catalunya« vor allem genutzt, um für mehr Eigenständigkeit der autonomen Region von Spanien zu demonstrieren. Um 17.14 Uhr reichten sich dazu Hunderttausende die Hand zu einer 400 Kilometer langen Menschenkette, die von der französischen Grenze bis zum südlichen Ende Kataloniens reichte. Eine Verlängerung der Menschenkette auf das Gebiet der angrenzenden Valencianischen Gemeinschaft, in der ebenfalls Katalanisch gesprochen wird, hatte die spanische Regierung verboten. Zu der Aktion aufgerufen hatte die Katalanische Nationalversammlung (ANC), um damit erneut für die Unabhängigkeit des Landes zu demonstrieren. Im Jahr zuvor hatte das überparteiliche Bündnis offiziellen Zahlen zufolge rund 1,5 Millionen Menschen zur größten Demonstration in der Geschichte Kataloniens mobilisieren können.

Vor der Menschenkette fanden traditionsgemäß zahlreiche offizielle Gedenkzeremonien statt, bei denen die verschiedenen katalanischen Parteien Blumengebinde am Denkmal für Rafael Casanova niederlegten. Casanova war während der Belagerung 1714 Vorsitzender des Stadtrates von Barcelona und starb bei der Verteidigung der Stadt. An einer weiteren offiziellen Veranstaltung im Parc de la Ciutadella nahe des katalanischen Parlaments beteiligten sich Vertreter der Regierung und die Abgeordneten der verschiedenen Parteien. Die rechte Volkspartei (PP) boykottierte den Staatsakt und warf dem katalanischen Präsidenten vor, eine Atmosphäre der »Spaltung und Konfrontation« geschaffen zu haben.

Für 19 Uhr – nach jW-Redaktionsschluß – hatten zahlreiche Organisationen der Esquerra Independentista, der linken Unabhängigkeitsbewegung, zu einer Demonstration aufgerufen. Parteien wie die im Parlament vertretene Kandidatur der Volkseinheit (CUP) oder der linksradikale Jugendverband Arran wollten dabei dafür auf die Straße gehen, daß die angestrebte Eigenständigkeit Kataloniens nicht nur einen Wechsel der Landesfahne bedeutet. Gefordert wurden der Austritt aus der EU, die Verstaatlichung des gesamten Bankensystems sowie ein Verbot der Privatisierung von Gesundheitsversorgung und Bildungseinrichtungen.

Für Unverständnis hatte bei vielen Aktivisten hingegen die Ankündigung der linksgrünen ICV gesorgt, die sich einem Aufruf zur Umzingelung der Banktürme der La Caixa parallel zur Menschenkette angeschlossen hatte. Parteichef Joan Herrera kritisierte, der Aufruf der ANC habe sich nur an die Unterstützer der Unabhängigkeit gerichtet und grenze diejenigen aus, die sich bislang nur für das Recht der Katalanen einsetzen, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 12. September 2013


Kette der Unabhängigkeit

1,6 Millionen Menschen bei größter Demonstration Kataloniens

Von André Scheer, Barcelona ***


Dem alten Mann mit den grauen Haaren stehen die Tränen in den Augen. »Ich kann es auch heute noch nicht glauben«, antwortet er auf die Frage, ob er sich damals, unter Francisco Franco, einen Tag wie diesen habe vorstellen können. Er hat erlebt, wie nach dem Tod des Diktators das Katalanische wieder aus dem Untergrund hervorkam, es in den Schulen wieder Unterricht in der eigenen Sprache gab und Straßenschilder ausgetauscht wurden. Er hat die großen Demonstrationen in den 70er Jahren mitgemacht, bei denen Hunderttausende Katalanen für die Autonomie auf die Straße gegangen sind. Und er hat in den folgenden Jahrzehnten zugesehen, wie die Hoffnungen der Katalanen immer wieder an Blockaden aus Madrid zerschellten. Der demokratische Impuls der »Transición«, des Übergangs zur Demokratie, verpuffte spätestens ab Mitte der 80er Jahre. Bei der vom sozialdemokratischen Regierungschef Felipe González 1986 durchgeführten Volksabstimmung über Spaniens ­NATO-Mitgliedschaft stimmte eine große Mehrheit der Katalanen dagegen – doch spanienweit lag die Zustimmung bei 52 Prozent. Eine Reform des Autonomiestatuts scheiterte 2010 an einer von der rechten Volkspartei (PP) beim Verfassungsgericht in Madrid eingereichten Klage. Heute steht Joan mit seiner Frau María del Carme in der Menschenkette und demonstriert für die Unabhängigkeit. Er hat die Hoffnung auf eine Verständigung mit Madrid aufgegeben. Es ist der 11. September, der »Diada Nacional de Catalunya«, der Nationalfeiertag Kataloniens.

Joan nimmt seine Frau an die Hand. Links und rechts tun es ihnen unzählige gleich. Die Menschenkette reicht 400 Kilometer weit von der französischen Grenze im Norden bis in das Gebiet der benachbarten Valencianischen Gemeinschaft hinein. Hier hatte die spanische Regierung die Aktion verbieten wollen, doch Hunderte beteiligen sich trotzdem. An der Grenze zwischen den beiden autonomen Regionen reichen sich der katalanische Sänger Lluis Llach, der durch seine Protestlieder gegen das Franco-Regime auch international bekannt geworden war, und der valencianische Komponist und Pianist Carles Santos symbolisch die Hand. Stunden später spricht Carme Forcadell von der »größten Demonstration in der Geschichte Kataloniens«. Die Präsidentin des parteiunabhängigen Bündnisses »Katalanische Nationalversammlung« (ANC) erklärt, die Teilnehmerzahl liege noch über der vom vergangenen Jahr, als sich den Behörden zufolge mehr als 1,5 Millionen Menschen an einer Großdemonstration in Barcelona beteiligt hatten. Kataloniens Innenminister Ramon Espadaler nennt die Zahl von 1,6 Millionen Menschen. Allein in Barcelona habe sich eine halbe Million beteiligt, zu Zwischenfällen sei es praktisch nicht gekommen. Spaniens Innenminister Jorge Fernández Díaz reduziert dagegen im Fernsehen die Beteiligung auf ein Viertel.

Forcadell fordert unterdessen den katalanischen Präsidenten Artur Mas auf, das Votum der Menschen umzusetzen und im kommenden Jahr eine Volksbefragung über die Trennung von Spanien durchzuführen. »Wir wollen nicht länger warten«, weist sie dessen jüngsten Vorschlag zurück, die Entscheidung auf die nächsten Wahlen zu verschieben, die regulär 2016 stattfinden. Das ist auch für Adrià keine Option. Wir treffen den Aktivisten der Jugendorganisation Arran auf der Demonstration, zu der die linke Unabhängigkeitsbewegung am Abend aufgerufen hat. Ihre Parteien, Gewerkschaften und Verbände wollen verhindern, daß eine Loslösung Kataloniens nur einen Wechsel der Fahnen bedeutet. »Die EU ist nur ein weiteres Instrument des Kapitals zur Ausbeutung der Völker«, spricht sich Adrià für einen Austritt aus. Zugleich ist er skeptisch, ob das eine Mehrheit seiner Landsleute genauso sieht. »Wenn die Unabhängigkeit erreicht ist, geht der Kampf weiter«, sagt er.

Adriàs Organisation fordert neben der Unabhängigkeit auch Sozialismus und Feminismus. Auf ihren Fahnen ist das Symbol der im Kampf gegen die deutschen Nazis entstandenen Antifaschistischen Aktion zu sehen – mit dem Schriftzug Acció Antifeixista.

Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, daß in Madrid Neofaschisten den Festakt der katalanischen Vertretung in der spanischen Hauptstadt attackiert haben. Rund ein Dutzend zum Teil maskierte Angreifer stürmten den Saal, demolierten die Einrichtung und riefen Parolen. Vier Menschen wurden leicht verletzt, unter ihnen ein vier Jahre altes Mädchen, berichtete die Tageszeitung El Punt/Avui. Die Polizei griff zunächst nicht ein, erst später wurden zehn Mitglieder faschistischer Parteien festgenommen.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 13. September 2013


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