Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Händchenhalten für den eigenen Staat

Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung wächst – am Nationalfeiertag wird wieder in der ganzen Provinz demonstriert

Von Julia Macher, Barcelona *

Ähnlich wie die Großdemonstration im letzten Jahr, bei der anderthalb Millionen Menschen durch Barcelona marschierten, soll am Mittwoch eine Menschenkette ein Zeichen setzen – für den wachsenden Wunsch nach Unabhängigkeit in der nordostspanischen Region Katalonien.

Das T-Shirt und die Fahne mit den gelb-roten Streifen liegt griffbereit auf dem Stuhl, die ebenfalls mit katalanischer Flagge verzierte Armbanduhr daneben. Wenn es darauf 17:14 Uhr blinkt – als Erinnerung an das Jahr 1714, als Katalonien seine Eigenständigkeit verlor – , wird Eric Porta an der N2 bei Blanes den Unbekannten neben sich die Hände reichen. 400 Kilometer, von Le Perthus in den Pyrenäen bis nach Alcanar nahe Tarragona, soll die Menschenkette am heutigen Nationalfeiertag »Diada« reichen.

Laut Umfragen des katalanischen Meinungsforschungsinstituts will über die Hälfte der Katalanen einen eigenen Staat, 2010 war es gerade einmal ein Viertel.

»Wir haben seit 2012 einen riesigen Schritt nach vorne gemacht«, sagt Ferran Civit von der Bewegung Katalanische Nationalversammlung (ANC), verantwortlich für beide Aktionen. »2012 konnten wir nicht nur knapp ein Viertel aller Katalanen mobilisieren, sondern haben auch erreicht, dass die politischen Parteien sich ihrer Forderungen annehmen.« Seit der Großdemonstration im letzten Jahr bestimmen die Unabhängigkeitsdebatte und die damit verknüpfte Volksbefragung die politische Tagesordnung. Der katalanische Ministerpräsident Artur Mas von der konservativ-nationalistischen Convergència i Unió (CiU) wollte sich damals zum Wortführer aufschwingen und rief zu vorgezogenen Neuwahlen auf. Spanien blute Katalonien aus, so die zentrale These. Jährlich flössen 16 Milliarden Euro aus dem reichen Nordosten in andere Regionen ab. Ohne diese »Plünderung« wäre Katalonien ein wohlhabendes und sozial gerechtes Land. Eine gewagte Theorie, schließlich hat die CiU als Koalitionspartner in Madrid jahrelang die politischen Spielregeln mitbestimmt und in Katalonien massiv im Sozial- und Bildungsbereich gekürzt. Das wahltaktische Manöver scheiterte damals, die CiU büßte zwölf Sitze ein; doch die Argumentationsstrategie fruchtete. Waren früher hauptsächlich eigene Sprache, Geschichte und Kultur Grund für den Wunsch nach einem eigenen Staat, führen immer mehr Sezessionisten ökonomische Gründe an, längst nicht nur aus den Reihen der Regierungspartei.

Unwidersprochen bleibt das inzwischen nicht mehr. Um den Sozialaktivisten und Wirtschaftswissenschaftler Oliveres und die Benediktinernonne Teresa Forcades ist seit April dieses Jahres eine Basisbewegung entstanden, die die Forderung nach einem eigenen Staat mit der nach einem Systemwechsel verbindet. »Procès Constituent« will die linken Parteien bei den nächsten Regionalwahlen zu einer gemeinsamen Kandidatur bewegen und auf Kernforderungen wie Verstaatlichung der Banken, Stopp aller Zwangsräumungen und Stopp der Privatisierungen verpflichten. Über 43 000 Menschen haben das Manifest bereits unterschrieben. »Ich möchte kein Land, in dem Finanzinstitute die Politik bestimmen, auch keine katalanischen«, begründet Mitinitiatorin Forcades die Aktion: Eine klare Prioritätensetzung, die »Procès Constituent« für eine kleine Minderheit der Sezessionisten zu »Vaterlandsverrätern« macht.

Auch Artur Mas bekam dieser Tage Schelte: Wenige Tage vor der Diada verkündete Regierungschef, er wolle vorerst kein Referendum gegen den Willen Madrids absetzen. Ein überraschender Kurswechsel, der vermutlich die Verhandlungen mit dem spanischen Premier Mariano Rajoy über eine Neufinanzierung der autonomen Region wieder auf die Tagesordnung bringen soll. Der »Zauberlehrling« Mas verwandelt sich zurück in den konservativ-nationalistischen Parteistrategen, der er vor der Großdemo im letzten Jahr war. Die Unabhängigkeitsbewegung wird sich kaum wieder so leicht zurückdrängen lassen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. September 2013


Langer Marsch

400 Kilometer Menschenkette: Die Region Katalonien will heute für die Unabhängigkeit von Spanien ein Zeichen setzen

Von André Scheer, Barcelona **


Während sich in Katalonien heute nachmittag ab 17.14 Uhr Hunderttausende die Hand reichen wollen, um mit einer 400 Kilometer langen Menschenkette für die Unabhängigkeit der Region von Spanien zu demonstrieren, drohen im benachbarten Valencia Auseinandersetzungen. Die spanische Regierung verbot am Montag offiziell die in der ebenfalls katalanischsprachigen Region geplante Verlängerung der Kette. Begründet wurde dies mit der Verkehrssicherheit. Denn während die Behörden Kataloniens für die Demonstration wichtige Fernstraßen gesperrt haben, will die von der rechten Volkspartei (PP) gestellte Regionalregierung Valencias – die einen prospanischen Kurs fährt – keine Unterstützung für die »Via Catalana« leisten.

Die Konfrontation zwischen den valencianischen Katalanisten und der spanischen Region demonstriert einmal mehr, warum die Fronten zwischen einem nach Eigenständigkeit strebenden Katalonien und dem auf Zentralismus beharrenden Madrid so festgefahren sind. In den vergangenen Jahren hatte es ausgehend von Barcelona mehrere Versuche gegeben, die Lage durch neue juristische Regelungen zu entspannen. 2006 wurde etwa in langen Verhandlungen zwischen den katalanischen Parteien und der damaligen, sozialdemokratisch geführten Regierung in Madrid ein neues Autonomiestatut ausgehandelt. Zähneknirschend, weil viele Forderungen nicht erfüllt worden waren, stimmten die Parteien im Parlament und die Katalanen in einer Volksabstimmung dem neuen Statut zu. Doch die PP klagte vor dem Verfassungsgericht gegen die neuen Bestimmungen, und 2010 erklärten die Richter entscheidende Teile des Statuts für illegal. »Wäre das Statut damals umgesetzt worden, wäre die Forderung nach Unabhängigkeit erledigt gewesen«, kommentierte dieser Tage die in Barcelona erscheinende Tageszeitung El Punt Avui die Bedeutung des Dokuments.

In der Folge bemühte sich die von der konservativen CiU geführte Regierung Kataloniens, mit Madrid zumindest ein Steuerabkommen auszuhandeln, wie es etwa auch mit dem Baskenland und Navarra existiert. Bislang fließen alle Einnahmen der autonomen Regionen nach Madrid, von wo aus dann die Gelder zurückverteilt werden – für Katalonien ein heftiges Verlustgeschäft. »Unser Geld fließt in Regionen, in denen nichts damit angefangen wird«, beklagt Sergi Perelló. Der Vizegeneralsekretär der linken, für eine Unabhängigkeit Kataloniens eintretenden Gewerkschaft Intersindical-CSC, erinnert im Gespräch mit jW unter anderem an den Geisterflughafen Castellón. Dieser Airport wurde zwar 2011 offiziell eingeweiht, wird aber bis heute von keiner einzigen Gesellschaft angeflogen. Zudem habe Spanien inzwischen nach China das weltweit längste Netz an Hochgeschwindigkeitszügen – die oftmals fast leer unterwegs sind. In Katalonien könnten gleichzeitig Investitionen für wichtige Verkehrsverbindungen nicht vorgenommen werden, weil das Geld fehlt.

Mit der katalanischen Regierung hat seine Gewerkschaft praktisch einen Waffenstillstand geschlossen, auch wenn deren neoliberale Politik von der CSC abgelehnt wird. Kataloniens Präsident Artur Mas rief am Montag selbst indirekt zur Teilnahme an der Menschenkette auf, die die Welt beeindrucken werde. Sie werde mehr Menschen zusammenbringen als vor 50 Jahren die Kundgebung mit Martin Luther King in Washington, als dieser die berühmten Worte »I have a dream« ausrief, prognostizierte Mas, der sich selbst ansonsten um konkrete Aussagen zur Unabhängigkeit herumdrückt. Die veranstaltende Katalanische Nationalversammlung (ANC) hofft sogar auf mehr Teilnehmer als bei der Großdemonstration im vergangenen Jahr, als in Barcelona 1,5 Millionen Menschen für die Unabhängigkeit auf die Straße gegangen waren.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. September 2013


»Von der spanischen Regierung erwarte ich wenig«

Immigranten versprechen sich von einem eigenständigen Katalonien bessere Lebensbedingungen. Ein Gespräch mit Saoka Kingolo ***

Saoka Kingolo, Koordinator des ­Bereichs »Immigration« der ­Katalanischen ­Nationalversammlung.


An diesem Mittwoch ruft die Assemblea Nacional Catalana, die Katalanische Nationalversammlung, zur Menschenkette für die Unabhängigkeit auf. Wieviele Immigranten werden daran teilnehmen?

Die Menschenkette, die Via Catalana, ist eine der wichtigsten Aktivitäten der Assemblea und des katalanischen Volkes in diesem Prozeß auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Es ist aber natürlich unmöglich zu schätzen, wieviele in Katalonien eingewanderte Menschen an dieser Aktion teilnehmen werden. Die Immigranten sehen sich sehr vielen Problemen gegenüber, die ihre Teilnahme erschweren. So ist vor sehr kurzer Zeit, vor höchstens drei Monaten, eine eingewanderte Person ausgewiesen worden, weil er sich am Kampf um die Unabhängigkeit beteiligt hat. Wir denken, daß diese Haltung der Regierung des spanischen Staates der Einschüchterung dient. Sie wollen unsere Bewegung spalten und unter den eingewanderten Menschen Angst verbreiten: Wenn ich mich daran beteilige, könnten sie mich auch ausweisen oder sich im gegebenen Moment weigern, meine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern.

Die Einwanderungspolitik wird auf der Ebene der Europäischen Union entschieden, der nach Ansicht der Assemblea auch das unabhängige Katalonien angehören soll. Wieso glauben Sie, daß unter solchen Bedingungen in einem eigenständiges Katalonien bessere Bedingungen für Immigranten herrschen werden?

Die EU hat eine gemeinsame Immigrationspolitik entwickelt, die sehr kompliziert und kaum zu verstehen ist. Tatsächlich aber ist die EU bislang eine Konföderation, in der die Staaten ihre gemeinsamen Interessen aushandeln. Zugleich bleibt ihnen aber ein Teil ihrer Souveränität. Katalonien ist aufgrund seines eigenen Charakters und seiner geographischen Lage ein Land, das auf die Einwanderung angewiesen ist, das Menschen aufnehmen muß. Wenn also die Politik der EU nicht dem entspricht, was ich als Aufnahmepolitik bezeichnen würde, hätten wir natürlich ein Problem. Aber Katalonien hätte in der EU dann die Möglichkeit, seine Partner davon zu überzeugen, daß eine solche Politik gerechter und menschenwürdiger wäre. Wenn wir die Unabhängigkeit erlangt haben, haben wir die Möglichkeit, selbst zu erklären, was uns in diesem Prozeß interessiert.

Das würde aber natürlich auch von der Regierung abhängen, die das unabhängige Katalonien haben würde. Könnte hinsichtlich der Immigrationsfrage eine Lösung deshalb nicht auch einfach ein Regierungswechsel in Spanien sein?

Von den spanischen Regierungen erwarte ich nur wenig für eine Verbesserung der Lage der eingewanderten Menschen. Das haben sie immer wieder bewiesen. Unter den sozialistischen Regierungen …

Sie meinen die von der sozialdemokratischen PSOE geführten Kabinette ...

... ist es nicht gelungen, eine Verbesserung der Einwanderungspolitik zu erreichen, und unter den rechten Regierungen noch viel weniger. Auch unter den Sozialisten war es immer so, daß bei einem Schritt in die richtige Richtung sofort Stimmen aus den eigenen Reihen laut wurden, die das Gegenteil forderten. So trat der damalige sozialistische Arbeitsminister, der auch für die Immigration zuständig war, auf und forderte, der Fami­liennachzug müsse auf ein Minimum reduziert werden – während die EU zugleich ihren Mitgliedsstaaten empfohlen hat, bei der Einwanderung der Familienzusammenführung Priorität einzuräumen. Deshalb erwarte ich mir vom spanischen Staat nur noch wenig. Zugleich muß ich feststellen, daß Katalonien innerhalb des spanischen Staates bislang immer wieder Vorschläge zur Verbesserung der Lage der eingewanderten Menschen unterbreitet hat, zum Beispiel eine Verkürzung der Aufenthaltsdauer, nach der die spanische Staatsbürgerschaft beantragt werden kann – aber solche Vorschläge sind immer wieder auf eine Mauer der Ablehnung gestoßen.

Wer wäre bei einer Unabhängigkeit Kataloniens dessen Staatsbürger? Sicherlich ja zunächst einmal nicht der deutsche Tourist, der sich für zwei Wochen an der Costa Brava an den Strand legt...

Diese Frage wird oft aufgeworfen und sie ist nicht ganz einfach zu beantworten. Unser Bereich hat deshalb ein eintägiges Seminar organisiert, um gemeinsam als Assemblea zu diskutieren, welches unser Diskurs in dieser Frage ist. Dabei sind viele Zweifel und Fragen aufgetaucht. Aber wir waren uns einig, daß es auf jeden Fall nicht angehen kann, daß Menschen, die wir zur Unterstützung der Unabhängigkeit aufrufen, nach deren Erreichen wieder diskriminiert werden, weil sie vielleicht nicht hier geboren wurden. Nein, das wäre undenkbar. Jeder Mensch, der sich in den Aufbau des neuen Staates einbringt, gilt uns als Mitbegründer desselben und hat alle Rechte.

Interview: André Scheer

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. September 2013


Zurück zur Spanien-Seite

Zurück zur Homepage