Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Spiel auf Zeit

Menschenkette für Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien. Regierungschef Mas will darüber erst 2016 entscheiden

Von André Scheer, Barcelona *

Am morgigen Mittwoch werden sich in Katalonien Hunderttausende Menschen die Hand geben, um für die Unabhängigkeit ihres Landes von Spanien zu demonstrieren – oder zumindest dafür, über ihre Zukunft in einem Referendum selbst entscheiden zu dürfen. Das ist das Ziel der Minderheitsregierung des katalanischen Präsidenten Artur Mas, dessen bürgerliche CiU im Parlament auf die Stimmen der offen für eine Loslösung Kataloniens eintretenden Republikanischen Linken (ERC) angewiesen ist. Doch eine Äußerung des Regierungschefs über das Datum der möglichen Volksabstimmung sorgte in den vergangenen Tagen für Unruhe unter den Kooperationspartnern. Ende vergangener Woche hatte Mas im Gespräch mit dem Rundfunksender Catalunya Ràdio die Möglichkeit ins Spiel gebracht, erst 2016 über die Eigenständigkeit Kataloniens zu entscheiden. Wenn alle Gesprächsversuche mit Madrid vergeblich seien, könne man die dann regulär anstehenden Parlamentswahlen als Plebiszit durchführen. Die antretenden Parteien müßten dann erklären, ob sie für oder gegen die Unabhängigkeit seien. Wenn die Befürworter einer Trennung die Mehrheit erreichten, könnte das katalanische Parlament einseitig die Unabhängigkeit erklären.

Mas hatte seinen Vorstoß als Drohung gegenüber dem spanischen Regierungschef Mariano Rajoy verstanden, mit dem er offenbar in der vergangenen Woche vertrauliche Gespräche geführt hatte. Er warnte zugleich, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung durch das Parlament Kataloniens würde eine offene Konfrontation auf allen Ebenen bedeuten. Demgegenüber haben von der Mas-Regierung eingerichtete Arbeitsgruppen mehrere Möglichkeiten ausgelotet, wie das angestrebte Referendum unter den gegenwärtigen juristischen Rahmenbedingungen Spaniens stattfinden könnte. Mal soll die spanische Regierung oder das Parlament in Madrid die Befragung einberufen, mal wird diese Rolle der katalanischen Legislative übertragen. Im Prinzip hängen alle Optionen jedoch davon ab, ob Madrid dem Referendum zustimmt oder es zumindest toleriert.

Das ist indes wenig wahrscheinlich. Für die in Madrid regierende Volkspartei (PP) kommt kein Prozeß in Frage, an dessen Ende eine Unabhängigkeit Kataloniens stehen könnte. Spanien sei eine unauflösbare Einheit, heißt es aus Madrid unter Hinweis auf die als Kompromiß während des Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie entstandene Verfassung. Schon 2010 hatte die PP durch eine Klage beim Verfassungsgericht das mühsam ausgehandelte neue Autonomiestatut Kataloniens gekippt, und 2012 scheiterten Verhandlungen über ein Steuerabkommen. Das eine wie das andere hat der Unabhängigkeitsbewegung wohl den Wind aus den Segeln genommen.

Auch deshalb witterte die ERC in den Äußerungen von Mas ein Zurückweichen des katalanischen Regierungs­chefs gegenüber Madrid. Sie bestand deshalb darauf, die Abstimmung müsse 2014 stattfinden. Dann begeht Barcelona den 300. Jahrestag seiner Kapitulation vor den spanischen Truppen im Erbfolgekrieg – was 1714 den Verlust der weitgehenden Eigenständigkeit bedeutet hatte. Bereits jetzt hängen in den Straßen der Stadt Plakate der Stadtverwaltung, die auf das Jubiläum einstimmen. »Frei leben« heißt der Slogan, und ganz offensichtlich ist damit nicht nur der Wille der Verteidiger der belagerten Stadt vor 300 Jahren gemeint.

Die an den Zeitungsständen Barcelonas erhältlichen Blätter sind seit Tagen voll mit Berichten über die bevorstehende Menschenkette. Während die katalanischsprachigen Zeitungen El Punt/Avui und Ara offen für eine Teilnahme an der Aktion werben, vertritt El País die Meinung der Gegner. Am Sonntag veröffentlichte das Blatt eine Umfrage, derzufolge 73 Prozent der Spanier, aber auch 54 Prozent der Katalanen eine baldige Unabhängigkeit Region für unmöglich oder wenig wahrscheinlich halten. Zugleich ermittelte diese pro-spanische Zeitung, daß in einem Referendum 49 Prozent für die Unabhängigkeit stimmen würaden, 36 Prozent dagegen. Wenn die Eigenständigkeit aber bedeuten würde, daß Katalonien aus der EU ausscheiden würde, gäbe es demnach eine knappe Mehrheit für den Verbleib in Spanien: 44 gegen 41 Prozent.

* Aus: junge welt, Dienstag, 10. September 2013


Zurück zur Spanien-Seite

Zurück zur Homepage