Straßburg stoppt spanische Willkür
Europäisches Menschenrechtsgericht verurteilt ungesetzliche Praxis gegenüber ETA-Gefangenen
Von Ralf Streck, Madrid *
Spanien muss ETA-Gefangene freilassen, die trotz Strafverbüßung weiter inhaftiert sind. So der Spruch des Europäischen Menschenrechtsgerichts.
Spaniens Justiz hat einen schweren Schlag erhalten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat erstmals ein Urteil zu einer Praxis in Spanien gefällt, mit der die Freilassung von Gefangenen der baskischen Untergrundorganisation ETA nach der Verbüßung ihrer Haftstrafe verhindert wird. Einstimmig stoppte der Gerichtshof die »Doktrin Parot« und ordnete die sofortige Freilassung von Inés del Río an, die eigentlich schon vor vier Jahren hätte freikommen müssen. Spanien wurde zudem verurteilt, die Baskin mit insgesamt 31 500 Euro zu entschädigen.
Erstmals wurde die Doktrin 2006 auf Henri Parot angewendet, weshalb sie dessen Namen trägt. Damals wurden rückwirkend die Haftstrafen neu berechnet. Haftverkürzungen, die durch Studium oder Arbeit erlangt worden waren, wurden fortan auf die nominelle Gesamtstrafe angerechnet und nicht mehr auf die zulässige reale Höchststrafe. Del Río war nominell zu mehr als 3000 Jahren verurteilt, weshalb sie nach Anwendung der neuen Doktrin die Höchststrafe von 30 Jahren absitzen sollte. Verhindert wurde damit 2008, dass sie nach Verbüßung von 21 Jahren frei kam.
Die Straßburger Richter sehen mehrere Artikel der Menschenrechtskonvention verletzt. »Rechtliche Veränderungen nach der Begehung der Tat können nicht rückwirkend zum Nachteil des Verurteilten angewendet werden«, bekräftigten sie in ihrem Urteil einen demokratischen Grundsatz.
Es erstaunte ohnehin, dass das spanische Verfassungsgericht nicht längst eingeschritten war. In mehr als 30 Fällen hatten die höchsten Richter niemals die Doktrin in Frage gestellt. Nur in drei Fällen wurde die Anwendung wegen Formfehlern durch das Verfassungsgericht abgelehnt. Welche Gesinnung hinter der Doktrin stand, hatte 2007 die damalige sozialistische Regierung deutlich gemacht. Um eine längere Haftverbüßung zu erreichen, wurde nicht nur die Parot-Doktrin ausgiebig angewandt. So erklärte der damalige Justizminister Juan Fernando López Aguilar, man werde »neue Anklagen konstruieren«, um Freilassungen »zu verhindern«. Damit sollte die inzwischen auf 40 Jahre ausgeweitete Höchststrafe durchgesetzt werden.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. Juli 2012
Zurück zur Spanien-Seite
Zur Menschenrechts-Seite
Zurück zur Homepage