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Empörte im Hotel Madrid

Die Demokratie-Bewegung in Spanien verhindert Räumungen und bietet Betroffenen Wohnraum

Von Ralf Streck *

Am 15. Mai 2011 gingen in über 50 spanischen Städten Menschen gegen die sozialen und politischen Missstände auf die Straße, in den darauf folgenden Tagen weiteten sich die Proteste aus. Die »Bewegung des 15. Mai« war geboren.

Es ist Herbst, die Nächte sind auch in Spanien kalt, vor allem in der Hauptstadt Madrid. Plätze im Land zu besetzen, um über die Proteste und Strategien der »Indignados« (Empörten) zu debattieren, stößt derzeit kaum auf Widerhall. Zwar wurde vor den Wahlen am 20. November ein Protestcamp in Barcelona errichtet, doch nach dem Wahlsonntag wurden die Zelte wieder abgebaut.

»Wir überwintern in den selbstorganisierten Zentren und werden neue Gebäude besetzen«, sagt Lorenzo Higueras in Spaniens Hauptstadt und verweist auf das Hotel Madrid. In der Innenstadt haben die Aktivisten am 15. Oktober, dem internationalen Aktionstag, das Hotel besetzt, während überall im Land Millionen gegen die Sparpolitik auf die Straße gingen und den Politikern der großen Parteien deutlich gemacht haben, wie viele Menschen sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen.

Das Hotel ist aus diversen Gründen bedeutsam. Es befindet sich in der Carretas Straße, die direkt zum »Puerta del Sol« führt. Auf dem Platz wurde die Bewegung am 15. Mai geboren, als sich die Empörten nach Protesten vor den Kommunal- und Regionalwahlen nicht wieder einzeln nach Hause zurückzogen und auf dem »Sol« blieben. Danach gingen in vielen Städten Empörte auf die Plätze, um sich auszutauschen, Netzwerke zu bilden und Aktionen zu planen.

»Es ist wunderbar, was wir in sechs Monaten erreicht haben«, meint Lorenzo. Der Aktivist der ersten Stunde arbeitet in einer der vielen Arbeitsgruppen. Seine Gruppe beschäftigt sich mit »kurzfristiger Politik«. Er kennt die langen Jahre, als sich die Aktivisten in Madrid noch um einen Computer herum versammeln konnten. »Mir kommen die Tränen, wenn ich daran zurückdenke.« Heute gebe es Netzwerke, man arbeite an vielen Stellen und biete auch konkrete Lösungen für existenzielle Probleme.

So wurde auf der Versammlung nach der Besetzung entschieden, das Hotel denen zur Verfügung zu stellen, die aus ihren Wohnungen geräumt wurden, weil sie wegen Arbeitslosigkeit ihre Schulden nicht mehr zurückbezahlen konnten. »In Madrid werden täglich 300 Wohnungen geräumt, das ist sehr brutal«, sagt Lorenzo. Man tue, was Aufgabe des Staates wäre, der aber versage. Er empört sich darüber, dass auch mit Steuermilliarden gerettete Banken die Familien auf die Straße werfen lassen.

Im Hotel dienen untere Stockwerke für Versammlungen und der Rest ist Wohnraum, der längst belegt ist. Deshalb wurde ein weiteres Wohngebäude besetzt, das ebenfalls schon voll ist. Die »Plattform der Hypothekenbetroffenen« (PAH) verwaltet die Belegung. Mit ihrer Hilfe und Präsenz werden immer wieder Räumungen verhindert. Die Besetzungen haben sich längst im Land ausgebreitet. In Barcelona wurde am vergangenen Freitag erneut ein Gebäude für obdachlose Familien in Besitz genommen, nachdem zuvor das am 15. Oktober besetzte Haus im Zentrum geräumt worden war. In Sevilla wurde eine leer stehende Markthalle besetzt, in Leon ein ehemaliges Landwirtschaftslabor.

Weil nun die konservative Volkspartei (PP) an die Macht kommt, nachdem die Sozialisten bei den Wahlen wegen ihrer antisozialen Krisenpolitik abstürzten, sind die besetzten Häuser akut gefährdet, meint Lorenzo. Mit den Sozialisten das kleinere Übel zu wählen, führe aber zu nichts, denn es bedürfe radikaler Veränderungen. Die Empörten planen neben den Beteiligungen an Protesten gegen Einschnitte ins Bildungs- und Gesundheitssystem längst mit den kleineren Gewerkschaften einen Generalstreik. »Doch der wird erst kommen, wenn er erfolgreich sein kann«, sagt Lorenzo.

Er glaubt, auch Spanien werde wie Griechenland, Irland und Portugal unter den Rettungsschirm getrieben. Wenn die Troika aus EU, Internationaler Währungsfonds und Europäischer Zentralbank dann in Spanien interveniere, könnte es der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und auch die Basis der großen Gewerkschaften zum Streik treibt. Daneben tragen auch spanische Empörte ihren Protest in weitere Länder. Nach dem langen Protestmarsch von Madrid nach Brüssel marschieren nun zwei Gruppen durch Italien. Die Gruppe hat sich in Genua geteilt, um mehr Städte ansteuern zu können. Alle Kolonnen sollen am 15. Januar in Rom sein, um den nächsten internationalen Aktionstag zu begehen und sich dann auf den langen Weg nach Athen zu machen.

* Aus: neues deutschland, 29. November 2011


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