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Stimme der Empörten

Die spanische Zeitung Diagonal fördert Prinzipien einer neuen politischen Kultur

Von Carmela Negrete *

Hier hat die »reale Demokratie« ein Zuhause. Ignoriert von Spaniens Leitmedien wie El País, El Mundo oder TVE fördert die in der spanischen Hauptstadt erscheinende Zeitung Diagonal ein neues Verständnis von Politik: öffentlich, horizontal und partizipierend. »Es existiert eine kommunikative Sperre gegen Alternativen, die aus den sozialen Bewegungen stammen«, sagt Redakteur Pablo Elorduy. »Wir sind Teil des Aufstands der Empörten. Etwas wie diese Erhebung haben wir uns bereits lange gewünscht: ohne Dirigenten, Dogmatismus und Fahnen.«

Diagonal erscheint seit 2005 zweiwöchentlich mit 48 Seiten – zur Hälfte vierfarbig. Linke Gesellschaftskritik, journalistische Qualität und lebendige, kreative Gestaltung – das zeichnet das Blatt aus. Neben den üblichen Meldungen und politischen Analysen wird viel Platz für kontroverse Debatten eingeräumt. Unter den selbst recherchierten Geschichten ist so manches »heiße Eisen«: Seit 2009 schreibt Maria José Esteso über die »Gestohlenen Kinder während des Franquismus«. Sie deckte auf, wie während der Franco-Diktatur Zehntausende Neugeborene von einer staatlichen Adoptionsmafia ihren Müttern entrissen wurden, um sie Familien der Oberschicht zuzuführen– die im übrigen immer noch eine prominente Rolle spielen. »Ich weiß, daß investigativer Journalismus, wie wir ihn bei Diagonal verstehen, nicht ungefährlich ist.« Doch von Angst möchte sich Maria José nicht beherrschen lassen.

Ein Kreis von etwa 50 Personen hat sich zur herausgebenden Genossenschaft »Asociación Punto y Coma« zusammengeschlossen. Das Kollektiv ist relativ jung, niemand ist über vierzig. Nur acht feste Mitarbeiter kann sich das Blatt derzeit leisten. Der Ladenpreis beträgt derzeit zwei Euro. Erscheinen kann Diagonal in ganz Spanien – mit Ausnahme von Katalonien, wo man der ähnlich ­orientierten Schwesterzeitung La Directa keine Konkurrenz machen will. Zu den drei Redakteuren, zwei Fotografen und drei Angestellten, die sich in der Madrider Redaktion um Logistik, Abos, Verlag und Werbung kümmern, kommt ein großer Kreis von freiwilligen Unterstützern und Freelancern.

Selbstausbeutung aus Idealismus sowie geringe Löhne und Honorare gehören dazu, Chefs dagegen nicht. »Wir sind sehr stolz darauf, daß es möglich ist, ein professionelles und seriöses Projekt frei von Hierarchien zu verwirklichen und alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam in Vollversammlungen zu treffen«, unterstreicht Pablo das basisdemokratische Selbstverständnis.

Familienfreundlich ist der Job bei Diagonal aber nicht. Abgesehen von Fotograf David Fernández hat keiner der Mitarbeiter Kinder. Das Leben für und mit Diagonal ist aufreibend, die ökonomische Basis des Projekts schmal. Das Blatt hat etwa 15000 Käufer, darunter 5000 Abonnenten. Vor sechs Jahren wagte der Kleinverlag unter dem ironischen Motto »Großer Sprung nach vorn« die Etablierung des neuen Titels an Spaniens Zeitungsmarkt als Nachfolger von Molotow, einem studentischen Fanzine mit punkigem Einschlag.

Für das weitere Überleben von Diagonal setzen die Herausgeber auf die jungen Aktivisten aus der Bewegung der »Empörten«, die seit dem 15.Mai 2011 für Aufregung in dem iberischen Land sorgen. Diagonal spielt in der spanischen »Revolution« nicht nur eine Nebenrolle. Die Prinzipien, nach denen das Projekt von Beginn an geführt wird, sind ein Vorbild für die Revolutionierung der politischen Kultur und die Einübung von »realer Demokratie«, wie sie auf Spaniens Straßen und Plätzen stattfindet. »Es gibt so viel Nachfrage nach alternativer Berichterstattung, die wir mit unseren begrenzten Ressourcen gar nicht abdecken können«, schildert Pablo Elorduy das Dilemma.

Eine große Herausforderung liege darin, als Vertreter politischer Minderheiten so zu schreiben, daß man dennoch ein breites gesellschaftliches Spektrum erreichen kann. Wichtiges Anliegen der Redaktion bleibt es, unterrepräsentierten Gruppen und Personen, die sich gegen Unterdrückung und für Alternativen zum kapitalistischen System einsetzen, Aufmerksamkeit zu schenken. So ist es kein Zufall, daß der kürzlich verstorbene Ramón Fernández Duráz (der Mitbegründer der radikalen Umweltorganisation »Ecologistas en Acción« wählte aus gesundheitlichen Gründen den Freitod) in ausführlichen Porträts gewürdigt wurde, während sein Ableben in den spanischen Mainstreammedien nur knapp vermeldet wurde.

Als einen »Garten, von der Linken dort gepflanzt, wo ein Schlachtfeld sein sollte«, beschrieb 2006 Ignacio Echevarría, Literaturkritiker von El País, die sogenannte Kultur des Übergangs, welche sich im Nach-Franco-Spanien mit der Transition zur bürgerlichen Demokratie herausgebildet hat. Ein Großteil der linken Intelligenz, der Medienmenschen und Publizisten, hat sich schnell im neuen System etabliert, ist selbst Teil des kulturellen und politischen Mainstreams geworden. Statt radikale Fragen zu stellen, ließ sich die Kultur vom Markt aufsaugen. Mit der Krise und dem Aufbegehren breiter Bevölkerungskreise wachsen aber die Bedürfnisse danach, die herrschenden Verhältnisse zu hinterfragen. In den neuen Medien und sozialen Netzwerken ebenso wie in der »klassischen« Öffentlichkeit. Diagonal versucht on- wie offline, den postfranquistischen Pakt zu sabotieren. Nicht als Sprachrohr einer ideologisch erleuchteten Avantgarde, sondern als authentische Stimme der sozialen Bewegungen.

Damit diese Stimme lauter wird, haben sich neben der Zentrale in Madrid mittlerweile Redaktionen in Aragón, Sevilla und auf den Kanaren gebildet. Zuarbeiten kommen aus allen Ecken der Welt. In Kantabrien, Asturien und Galicien gibt es bereits unabhängige Kooperativen, die lokale Ausgaben von Diagonal herausbringen.

diagonalperiodico.net

* Aus: junge Welt, 12. August 2011


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