Im Ausnahmezustand
Unterwegs im Baskenland: Verbote, Folter, Polizei, illegalisierte Wählerstimmen – und Versuche, trotz alledem Widerstand zu leisten
Von Ingo Niebel *
Ausnahmezustand – davon hörte ich schon in meiner Kindheit. Es war 1975, als die Eltern entschieden, daß wir den Sommerurlaub im Baskenland verbrächten. Mein Vater mußte sich schwerste Vorwürfe seiner Schwiegereltern anhören, von wegen es sei unverantwortlich, in ein Land zu fahren, über das man den Ausnahmezustand verhängt hatte. Damals regierte noch der faschistische Dikator Francisco Franco über Spanien. Für die baskischen Provinzen Bizkaia und Gipuzkoa hatte er ab April 1975 einen dreimonatigen Ausnahmezustand dekretiert, in der Hoffnung, er brächte so die rebellischen Basken zur Räson. Seine Repressionsorgane durften noch rigoroser festnehmen, foltern und morden, als dieses ohne die Verhängung des Notstandsrechs möglich gewesen wäre.
Als die baskischen Freunde meiner Eltern signalisierten, es bestünde keine Gefahr für Leib und Leben, fuhren wir im Juli 1975 ins Baskenland. Es war meine erste Reise in jene 20000 Quadratkilometer große Region am Golf von Biskaya, wo knapp drei Millionen Menschen auf spanischem wie französischem Territorium, diesseits und jenseits der Pyrenäen, leben. Mit diesem Urlaub begann eine tiefe Beziehung zu Euskal Herria, dem Land der Basken, die bis heute andauert.
An die Ereignisse von 1975 mußte ich denken, als Anfang März der Flieger zum Landeanflug auf Santander ansetzte. Unter mir sah ich die grünen Berge von Euskal Herria, die an Bayern erinnern, aber bis direkt an die Küste reichen. Auf meinem Schoß lag die Einladung der linken baskischen Unabhängigkeitsbewegung. Darin hieß es wörtlich: »Wir wünschen uns, daß die internationale Delegation in den Tagen vor der Wahl aus unmittelbarer Nähe den Ausnahmezustand sieht, unter dem wir im Baskenland leben.« Der Einladung zur Beobachtung der spanischen Parlamentswahlen folgten knapp 20 Menschen aus ganz Europa – Rechtsanwälte, Journalisten und gewählte Volksvertreter –, unter ihnen auch die Bundestagsabgeordnete der Linken, Ulla Jelpke.
Auf dem Flug hatte ich mir zwei Fragen gestellt, die ich während des fünftägigen Aufenthalts beantwortet haben wollte: Wie sieht der aktuelle Ausnahmezustand im Baskenland aus? Und: Wie stark ist die linke baskische Unabhängigkeitsbewegung angesichts der seit 2003 praktizierten Parteienverbote und der seit 2007 gesteigerten Repression? Gerne hätte ich darüber mit den Sprechern der verbotenen Linkspartei Batasuna (Einheit), Arnaldo Otegi und Pernando Barrena, gesprochen. Doch sitzen beide seit 2007 im Gefängnis. Als jüngst das in Buchform erschienene Gespräch mit Otegi ins Deutsche übersetzte, fiel mir ein Satz besonders auf: Die patriotische Linke »könnte Mehrheit in Euskal Herria sein«, sagte der bekannte Politiker.
Angesichts der laufenden Verbotsverfahren gegen die Baskische Patriotische Aktion (EAE-ANV) und die Kommunistische Partei der Baskischen Länder (EHAK-PCTV) klang das sehr optimistisch. Die Unabhängigkeitsbewegung bekommt bei Regionalwahlen im Durchschnitt 15 Prozent der Stimmen, das heißt, etwa 180000 Menschen wählen sie. Mit Blick auf die am 9. März stattfindenden Parlamentswahlen hatte die spanische Justiz den beiden Parteien aber jegliche Betätigung verboten. Deshalb durften sie nicht zur Wahl antreten. Daraufhin riefen sie zur Enthaltung auf. Die Untergrundorganisation ETA unterstützte den Aufruf.
Empfang im Rathaus
Der erste offizielle »Arbeitstag« unserer Delegation begann mit einem Empfang im Rathaus von Hernani. Die 18000 Einwohner zählende Industriestadt liegt vor den Toren der Küstenmetropole Donostia (span.: San Sebastián) und gilt als Hochburg der linken Unabhängigkeitsbewegung. In den spanischen Medien zum »Terroristennest« erklärt, regiert hier seit 2007 die Patriotische Linke wieder. Bürgermeisterin Marian Beitialarrangoitia tritt resolut auf. Ihre erste Amtshandlung war, sich das Gehalt zu kürzen, dann brachte sie ihren Laden auf Vordermann. »Ich habe sie zwar nicht gewählt«, sagt mir eine Einwohnerin, »aber selbst ihre Parteifreunde, die dachten, sie könnten unter ihr eine ruhige Kugel schieben, bekamen die Leviten gelesen und müssen jetzt ranklotzen.«
Im Industriegebiet Eziago vor den Toren der Stadt liegt das bungalowartige Gebäude der 1998 geschlossenen Tageszeitung Egin. Seitdem verrotten dort die Druckerei, die Bürocomputer und der Radiosender des linken Mediums. Beitialarrangoitia leitete damals den Radiosender Egin Irratia. Nach der Schließung fand sie Arbeit beim öffentlich-rechtlichen Hörfunksender der autonomen baskischen Regierung. Ihr baskischsprachiges Programm mußte sie Anfang 2007 abgeben, als sie wieder in die Politik ging. Im Herbst lud sie das Sondergericht für Terror- und Drogendelikte vor, die Audiencia Nacional, weil sie bei einer Veranstaltung zwei gefolterten Basken Mut zugesprochen hatte. Der Staatsanwalt und die spanischen Medien sahen darin eine »Verherrlichung des Terrorismus«. Die Richter ließen Beitialarrangoitia laufen.
Wenige Minuten vom Rathaus entfernt teilen sich in einem Gebäude die Antifoltergruppe TAT und das Baskische Observatorium für Menschenrechte »Behatokia« mehrere Büroräume. Uns sitzen die beiden jungen Anwältinnen Ane Ituiño und Iratxe Urizar gegenüber. Ituiño vertritt TAT und erzählt von der Zunahme der Folter unter der Regierung Zapatero. Seit Dezember wurden drei Fälle von schweren Mißhandlungen im Polizeigewahrsam bekannt. Die Polizei darf »Terrorverdächtige« für mindestens fünf Tage isoliert in Haft halten. Die Festgenommenen haben dann keinen Kontakt zur Familie, geschweige denn zu Anwälten und Ärzten ihres Vertrauens. Madrid wischt Foltervorwürfe mit der Behauptung vom Tisch, die ETA hätte ihre Mitglieder grundsätzlich angewiesen, Torturen anzuzeigen.
Urizar ergänzt, daß die Strafverfahren gegen Polizisten, wenn sie denn überhaupt stattfinden, bis zu 15 Jahre dauern können. Falls eine Verurteilung erfolgt, fällt die Strafe minimal aus. Sie behindert nicht die Karriere, sondern ihr folgt in der Regel die Beförderung. »Die Gefolterten sollen nicht nur sich selbst bezichtigen, sondern auch andere. Und mit Mißhandlungen wird Terror in jenen Teilen der Bevölkerung verbreitet, die den Gefolterten nahestehen«, resümiert Ituiño.
Konstruierter Vorwurf
Was es heißt, gefoltert zu werden, erfuhr Martxelo Otamendi im Februar 2003 am eigenen Leib. Über die Tortur unter Kontaktsperre berichtet er: »Wir baten sie, uns umzubringen.« Damals war er Chefredakteur der einzigen komplett auf Baskisch erscheinenden Tageszeitung Egunkaria. Sie wurde geschlossen. Heute leitet Otamendi das Nachfolgeblatt Berria. Wegen Zusammenarbeit mit der ETA, so der konstruierte Vorwurf, drohen ihm und einem Dutzend weiterer Angeklagter zehn bis 15 Jahre Haft. Über das schwebende Verfahren spricht er nur am Rande, viel lieber präsentiert er den ausländischen Besuchern seine florierende Zeitung. Obwohl das spanische Olympische Komitee die Berria-Korrespondenten nicht zu den Spielen in China akkreditiert hat, »weil die Anfrage zu früh kam«, so die Begründung, »so werden wir doch in Peking sein und darüber berichten, was baskische Sportler dort leisten«, meint Otamendi.
Über der linken Tageszeitung Gara schwebt das Damoklesschwert des finanziellen Zusammenbruchs, erklärt später Redaktionsleiterin Maite Ubiria. Das sei der Justiz zu verdanken, die meint, Gara hätte die Schulden in Höhe von sechs Millionen Euro der geschlossenen Egin zu begleichen. Der Ausgang des Verfahrens ist ebenfalls noch offen. Und trotzdem herrscht Optimismus in den Redaktionsräumen von Gara. Gerade hat man eine neue Beilage entwickelt, die sich auf die Zielgruppe jener jungen Leser konzentriert, jene, die von klein auf gelernt haben, auf Baskisch zu lesen. Laut Angaben der autonomen Regierung der Region beherrschen 800000 Menschen Europas älteste noch lebende Sprache. Otamendi sieht das skeptischer und spricht von 300000. Die Gemeinsamkeit von Gara und Berria liegt darin, daß sie Nachfolger zweier von Madrid verbotener Medien sind. Sie entstanden, weil Tausende von Basken bereit waren, ihren Neustart finanziell zu unterstützen.
Verbot ignoriert
Daß sich die Basken durch Verbote nicht kleinkriegen lassen, zeigen auch die Bewohner des 600-Einwohner-Dorfes Lizartza. In absoluter Stille empfangen knapp hundert Bewohner die internationale Delegation. Schweigende Menschen hinter einem riesigen Plakat und mit der baskischen Fahne, der Ikurriña, vor ihrem Rathaus. Dort regiert seit Juni 2007 die postfranquistische spanische Partido Popular (PP, Volkspartei). Sie erhielt 27 Stimmen bei den Kommunalwahlen, die Patriotischen dagegen 180. Doch deren Stimmen galten nicht, wurden für »illegal« erklärt, da eine Kandidatur der linken Unabhängigkeitskräfte nicht zugelassen worden war.
Jedesmal nun, wenn die PP-Bürgermeisterin Regina Otaola und ihre sieben Ratsherren tagen wollen, wird vorher der kleine Ort polizeilich besetzt. »Dann funktioniert hier kein elektrisches Garagentor und kein Handy mehr«, erklärt José Antonio Mintegi, Lizartzas »heimlicher Bürgermeister«. Trotz des Verbots ihrer Listen in 153 von insgesamt 257 Gemeinden machen die Linken überall Kommunalpolitik: notfalls eben auch außerhalb der Rathäuser sowie volksnah und basisdemokratisch in diversen Kommissionen.
Wie im Fischerort Ondarroa mit seinen 10000 Einwohnern. 2200 votierten für die verbotene antifaschistische EAE-ANV, 1700 für die christdemokratische PNV (Baskische Nationalpartei). 2200 Stimmen illegalisiert – und die PNV-Kandidaten weigerten sich, wie vorgesehen die Plätze der patriotischen Linken einzunehmen, so daß eine Konstituierung des Gemeinderats zunächst ausfiel. Trotzdem wäre eine Lösung möglich gewesen, wenn es gelungen wäre, eine provisorische Kommission mit Vertretern aller Parteien zu bilden. »Verhandlungen dazu liefen, und wir hätten sogar auf die absolute Mehrheit verzichtet«, berichtet Unai Urruzune, der gewählte Bürgermeister der Linken, der sein Amt nicht antreten darf. Doch letztlich entschied die nationale PNV-Führung, indem sie die Rebellen aus ihrer Partei rausschmiß.
Für den Wahltag gilt ein Demonstrationsverbot. Es wird ignoriert. Jung und alt marschieren nun für die Stimmenthaltung, zu der die illegalisierte baskische Linke aufgerufen hat. Sprechchöre für Sozialismus und Unabhängigkeit sind zu hören. Und am Ende werden die Fäuste erhoben und das Lied der »Gudaris«, der baskischen Freiwilligen aus dem Bürgerkrieg, gesungen. Die schwarzgekleidete Prügelbrigade der Polizei kommt zu spät.
Willkür statt Demokratie
Dort, wo die Linke regieren darf, praktiziert sie eine Art »baskischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts«: Die Spekulation auf dem Immobilienmarkt kontert sie mit dem Bau von Sozialwohnungen, wie ein EAE-Ratsherr aus dem navarresischen Huarte erklärt. Daß es in der Provinz Nafarroa (span.: Navarra) nicht weit her ist mit der vielgepriesenen spanischen Demokratie, erlebt unsere Delegation, als ihre EAE-ANV-Gastgeberin Mariné Puey sie nicht zum Gespräch ins Rathaus der Hauptstadt Iruñea (Pamplona) einladen kann. Drinnen hat sich die Stadtpolizei verbarrikadiert, nachdem die Bürgermeisterin Yolanda Barcina (PP) angeordnet hat, daß niemand außer den Ratsmitgliedern das Gebäude betreten darf.
Auf dem Vorplatz hat die schwerbewaffnete spanische Nationalpolizei Stellung bezogen. Sie kontrolliert Passanten und erteilt Platzverweise. Schlimmeres geschieht zwar nicht, doch mit bürgerlichem Recht hat das polizeiche Vorgehen wenig zu tun. »Mich erinnert das an das Chile Pinochets«, meint die Schwedin chilenischer Herkunft Jeanette Escanilla. Und der Rechtsanwalt Alfonso Zenon sagt: »Ich habe in Spanien Jura studiert, aber die Rechtspraxis des Madrider Sondergerichts ist eine ganz andere, deren juristische Grundlage ich immer noch nicht gefunden habe.« Alle Verbote gegen Organisationen und Parteien der baskischen Linken basieren auf dem spanischen Parteiengesetz. Dieses könnte in Strasbourg gekippt werden, so die vage Hoffnung der baskischen Anwaltsvereinigung Eskubideak, der Zenon angehört.
Nach einer Woche verlasse ich das Baskenland mit dem unguten Gefühl, daß der Ausnahmezustand dort gegenwärtig nicht mehr zeitlich und räumlich begrenzt ist. Mit der Devise »Alles ist ETA« läßt sich willkürlich verhaften und wegsperren. Angesichts der Mißachtung rechtsstaatlicher Prinzipien wächst in weiten Teilen der Bevölkerung und besonders unter der Jugend – so mein Eindruck – der Wunsch, sich von Spanien zu trennen. Der Wunsch wächst, endlich abstimmen zu können über die Zukunft der Region. Das sieht die spanische Verfassung derzeit nicht vor. Doch tatsächlich könnte eine Wende zur Lösung des Baskenkonflikts mit einer Verankerung des Selbstbestimmungsrechtes in der Madrider Verfassung eingeleitet werden.
Literaturhinweis
Bei dem von Ingo Niebel im Text angesprochen Buch handelt es sich um:
Inaki Iriondo, Ramón Sola: Das Baskenland – Wege zu einem gerechten Frieden.Ein Gespräch mit Arnaldo Otegi. Übersetzung aus dem Spanischen von Ralf Streck und Ingo Niebel. Pahl-Rugenstein, Köln 2008, 260 Seiten, 22.90 Euro.
* Aus: junge Welt, 22. März 2008
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