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Ausnahmezustand in Spanien

Die Lage der sozial Benachteiligten verschärft sich zusehends

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Nicht einmal der Urlaubssommer sorgt in Spanien für Entspannung. Das kriselnde Land strebt einem »Volks- Generalstreik« entgegen.

Das konservative spanische Kabinett ist angesichts der weiter steigenden Arbeitslosigkeit sprachlos. Die Regierung hatte am Freitag auf positivere Zahlen im Sommer gehofft, wenn im Hotel- und Gaststättengewerbe angesichts von Touristenströmen etliche befristete Jobs geschaffen werden. Doch auch damit konnten massenhafte Entlassungen in anderen Sektoren nicht aufgefangenen werden. Das lässt eine weiter dramatisch steigende Arbeitslosigkeit im Herbst und Winter erwarten.

Die Studie zur erwerbstätigen Bevölkerung (EPA), die alle drei Monate veröffentlicht wird, ist aussagekräftiger als die monatlichen Zahlen der Arbeitsämter, durch deren Maschen immer mehr Menschen fallen. Das Statistikamt (INE) hat ermittelt, dass mit 24,63 Prozent der aktiven Bevölkerung etwa jeder Vierte arbeitslos ist. Bei den jungen Menschen unter 25 Jahren sind 53,3 Prozent ohne Job. Nie zuvor gab es mehr Arbeitslose, seit die Statistik 1976 nach dem Tod des Diktators Franco eingeführt wurde.

Ende Juni waren fast 5,7 Millionen Menschen arbeitslos, fast 54 000 mehr als im Vorquartal. Während in den südlichen Regionen Andalusien, Extremadura und den Kanarischen Inseln Quoten von fast 34 Prozent verzeichnet werden, ist sie Quote im nördlichen Baskenland mit 14,5 Prozent nicht einmal halb so hoch. Dramatisch ist die Lage in mehr als 1,7 Millionen Haushalten, in denen alle Mitglieder arbeitslos sind.

Dazu gehört die Familie von Vanessa Domínguez. Nach 33 Jahren wurde sie vor drei Jahren arbeitslos. Sie lebt mit ihren beiden Kindern von der Rente ihrer Mutter. »Ich mache eine schlimme Zeit durch, doch zum Glück hilft mir meine Mutter«, sagte sie der Tageszeitung »El País«. Weil es in Spanien keine Sozialhilfe gibt, erhält sie seit neun Monaten keine Unterstützung mehr. Einen Job hat die Frau aus Barcelona nicht in Aussicht, wo die Arbeitslosigkeit auf fast 22 Prozent gestiegen ist. Wie in vielen Fällen droht auch Domínguez die Zwangsräumung ihrer Wohnung, weil sie die Hypothek nicht mehr bedienen kann. Eine Bank, die mit Steuermilliarden über Wasser gehalten wird, will sie aus ihrer Wohnung werfen.

Auf solche Schicksale machen soziale Organisationen und Gewerkschaften aufmerksam. Während bis zu 100 Milliarden Euro aus dem europäischen Rettungsfonds in Banken gesteckt werden, rette die Familien niemand. Sie würden nun sogar besonders zur Kasse gebeten. Das Arbeitslosengeld wurde gekürzt und die Mehrwertsteuer erhöht. Während auf Schulbücher weiter der niedrige Mehrwertsteuersatz von vier Prozent erhoben wird, wird für Stifte, Hefte und andere Schulsachen der volle Satz fällig, der von 18 auf 21 Prozent erhöht wurde.

Auf dem Sozialgipfel haben die zwei großen Gewerkschaften am Donnerstag von einem »Ausnahmezustand « gesprochen. Zusammen mit 150 Organisationen, von Vereinigungen von Juristen, Polizei bis zu Sportverbänden haben sie sich auf einen Protestsommer verständigt. Jeden Freitag wird in Madrid demonstriert, wenn das Kabinett zusammentrifft. Am 12. September werden sich die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu Großdemonstrationen versammeln. Ihnen wurde nach einer Lohnkürzung auch das Weihnachtsgeld gestrichen.

Ein erster Höhepunkt ist am 15. September mit einem »Marsch auf Madrid« geplant. Das wird der Auftakt für einen Generalstreik sein, der »Volks-Generalstreik« genannt wird. Die gesamte Bevölkerung soll das Land lahmlegen. Ein Termin wird beim nächsten Sozialgipfel am 6. September bestimmt. Wahrscheinliches Datum ist der 26. September. Die starken baskischen Gewerkschaften mobilisieren schon für diesen Tag.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 31. Juli 2012


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