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Spanische "Empörte" wollen europäischen Sternmarsch zur EU-Zentrale organisieren

Von Ralf Streck, San Sebastian *

Spanien steht vor einem heißen Herbst. Die Bewegung der »Empörten« will den Druck auf die beiden großen Parteien erhöhen. Gleichzeitig verschärft sich die Krise. Die hohe Arbeitslosigkeit bedeutet für immer mehr Spanier Zahlungsunfähigkeit.

Die »Puerta del Sol« in Madrid ist nach wie vor das Zentrum der spanischen »Empörten«. In Sternmärschen hatten sich Aktivisten in langen Touren aus allen Landesteilen in die Hauptstadt aufgemacht, um am vergangenen Wochenende auf dem zentralen Platz über die Strategie der Bewegung für die nächsten Monate zu debattieren.

Geplant wird nach dem spanischen Vorbild nun auch ein Sternmarsch, der aus allen europäischen Ländern nach Brüssel führen soll. Das wird allerdings eine Herausforderung sein: Zwar haben sich auch in anderen europäischen Krisenstaaten wie Griechenland, Portugal und Italien »Empörte« zusammengetan. Aber im Norden Europas, wo die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosigkeit zurückgeht, bleibt Protest gegen den neoliberalen Kurs der EU und ihrer Mitgliedsstaaten bisher aus.

Spanien dagegen könnte vor einem heißen Herbst stehen. So wollen die Gegner der Sparprogramme am 15. Oktober wieder landesweite Demonstrationen und möglicherweise auch einen Generalstreik organisieren. Darüber wird mit kleineren Gewerkschaften verhandelt. Am gleichen Tag könnte auch ein Referendum stattfinden. Die fünf Fragen zielen auf eine Wahlrechtsreform, auf mehr Transparenz beim Einsatz der Ressourcen und auf Veränderungen im ökonomischen System. Immer mehr wird auch über vorgezogene Parlamentswahlen im Herbst spekuliert.

Die »Empörten« wenden sich gegen beide große Parteien: Sie sprechen von einer »Zweiparteiendiktatur« der regierenden sozialdemokratischen Sozialisten (PSOE) und der oppositionellen konservativen Volkspartei PP, die sich an der Macht abwechselten. »An der Politik ändert sich aber nichts«, erklärte Milo Andersen aus Barcelona, die mit dem Sternmarsch nach Madrid gekommen war.

Dabei ist die Krise gerade im Finanzsektor nicht überwunden. So ist gerade die Sparkasse Caja Mediterráneo (CAM) in der Provinz Valencia abgestürzt, die vor allem in der Region Alicante aktiv ist. Fast sechs Milliarden Euro wird ihre Rettung die Steuerzahler kosten. Dabei gehörte auch die CAM zu den Instituten, die nach den Kriterien des gerade abgeschlossenen Stresstests eigentlich nicht hätten scheitern dürften.

Gleichzeitig werden die Lasten für die Bürger erhöht. So wurde in der vergangenen Woche im Madrider Parlament auch die Rentenreform beschlossen. Nun soll bis 67 gearbeitet werden, durch Veränderungen in der Berechnungszeit wird die Rente gekürzt. Dass die beiden großen regierungsnahen Gewerkschaften die Reform abgenickt haben, erzürnt die »Empörten«.

Viele Menschen in Spanien haben das Gefühl, dass etwas schief läuft in ihrem Land. Sie fragen sich, warum Milliarden in marode Banken gesteckt werden, wenn fast die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos ist und zehntausende Familien aus ihren Wohnungen vertrieben werden, weil sie die Hypothekenraten nicht bezahlen können. Das größte Transparent der Demonstration auf der »Puerta del Sol« drückte das Problem so aus: »Es ist keine Krise – Es ist das System«. Oft wurde am Wochenende in Madrid wieder gerufen: »Wir zahlen nicht für eure Krise!«

Die »Empörten« mischen sich inzwischen auch in den Alltag ein. Sie haben in den vergangenen Wochen wiederholt verhindert, dass von der Krise betroffene Familien aus ihren Wohnungen geworfen werden. Die hohe Arbeitslosigkeit mit einer Quote von fast 21 Prozent führt oft zur Zahlungsunfähigkeit der Familien. Angesichts einer fehlenden Sozialhilfe stehen viele im Land vor dem Nichts und sitzen zudem auf einem Schuldenberg. Deshalb unterstützen die Empörten eine Volksinitiative, die demnächst im Parlament behandelt wird. Sie fordert eine Lösung, bei der Schuldner ihre Hypothek gegen das Haus oder die Wohnung eintauschen und sich so von ihrer Bürde befreien können. Denn der Schuldenberg verhindert oft einen Neustart der Familien. Sie können wegen ihrer finanziellen Belastung meist nicht einmal eine Wohnung mieten. Dieser Teufelskreis führt tief nach unten.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2011


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