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Spanische Gewerkschafter greifen zur direkten Aktion

Lebensmittel aus einem andalusischen Supermarkt werden eigenhändig umverteilt

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Eine Gewerkschaft in Andalusien macht Umverteilung praktisch. Rein in den Supermarkt, raus mit Lebensmitteln, die dann an Bedürftige weiter verteilt werden. Die bisher einmalige Aktion hat eine Debatte um die steigende Armut in Spanien entfacht.

Sie können auch anders: spanische Gewerkschaften. Um auf die steigende Armut aufmerksam zu machen, hatten sich am Dienstag Aktivisten der kämpferischen Andalusischen Arbeitergewerkschaft (SAT) in zwei Supermärkte begeben. Grundnahrungsmittel wurden angeeignet, um sie an bedürftige Familien zu verteilen. Seither bestimmt die Aktion die Diskussion im Land und spaltet auch die Vereinte Linke (IU), weil ein IU-Parlamentarier des andalusischen Regionalparlaments beteiligt war. Juan Manuel Sánchez Gordillo verteidigt die »Enteignung« als »notwendig« und kündigte weitere Aktionen an: »Jemand muss etwas tun, damit die Familien jeden Tag etwas zu essen bekommen«.

Der charismatische Bürgermeister von Marinaleda, einer nach kommunistischen Prinzipien organisierten Gemeinde, wird scharf angegriffen. Der sozialistische Chef der von der IU gestützten Regionalregierung, José Antonio Griñán, sprach von einem »barbarischen Akt«. Der IU-Chef der Region, Diego Valderas, kritisierte das Vorgehen, stellt sich aber hinter den Inhalt.

Zwei Personen wurden auf Anordnung des Innenministers Jorge Fernández Díaz festgenommen und Gordillo wird nun vorgeladen, obwohl er keinen der Supermärkte betreten hat. Die in Madrid regierende Volkspartei (PP) wirft Gordillo vor, sich hinter seiner »parlamentarischen Immunität« zu verstecken. »Er werde nicht fliehen«, kündigte er an und nannte den Innenminister einen »Franquisten«. Wie in der Franco-Diktatur, von der sich die PP nie distanziert hat, versuche man mit einem Angriff auf Führungspersonen die gesamte Bevölkerung einzuschüchtern.

Dass sich Madrid überhaupt mit einem solchen Vorfall behandelt, zeigt ihre Nervosität angesichts der dramatischen sozialen Lage im Land. Sie befürchte, dass Aktionen der »Rebellion« Schule machen, meint die SAT. Mitgenommen wurde letztlich nur der Inhalt von neun Einkaufswagen aus einem Mercadona in Écija. Carrefour in Arcos de la Frontera entschloss sich im Gespräch mit den Aktivisten, zwölf mit Nudeln, Reis, Linsen, Zucker, Kichererbsen und anderen Nahrungsmitteln gefüllte Einkaufswagen an drei Dörfer zu spenden. Mercadona erstattete Anzeige, da es sich um keinen großen Wert handelt, werden derlei »Diebstähle« eigentlich nur mit einer Geldstrafe geahndet.

Die SAT erklärt, währen Banken mit bis zu 100 Milliarden Euro gerettet werden, stürzen die Familien in die Misere ab. Mehr als 300 000 seien aus ihren Wohnungen geworfen worden, weil sie wegen Arbeitslosigkeit (in Andalusien 34 Prozent), die Miete oder Kredite nicht mehr bezahlen konnten. Steuerhinterzieher würden dagegen belohnt. Sie könnten mit einer lächerlichen Abgeltungssteuer von zehn Prozent ihr Schwarzgeld legalisieren, womit den Reichen »dutzende Milliarden Euro geschenkt werden«. Verhältnisse, gegen die die SAT nun aufbegehrt.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 10. August 2012


"Das ist Robin Hood spiegelverkehrt"

Andalusiens Gewerkschafter wollen nicht hinnehmen, daß in Spanien Menschen hungern. Ein Gespräch mit Diego Cañamero **

Diego Cañamero ist Generalsekretär der Andalusischen Arbeitergewerkschaft (SAT). Am Dienstag nahm er an der »Enteignung« von Lebensmitteln in zwei Supermärkten teil. Die spanische Staatsanwaltschaft erließ gegen alle Beteiligten Haftbefehl. Zwei wurden am Donnerstag in Sevilla festgenommen.

Die spanische Staatsanwaltschaft hat Haftbefehl gegen die Mitglieder der Andalusischen Arbeitergewerkschaft erlassen, die an der »Enteignung« von Lebensmitteln in zwei Supermärkten beteiligt waren. Bewerten Sie diesen Schritt eher juristisch oder politisch?

Zweifellos ist dies eine politische Strategie. Indem die Herrschenden uns bestrafen, wollen sie die Bevölkerung einschüchtern, damit sie nicht rebelliert. Wenn eine Aktion wie unsere sich massenhaft in allen Provinzen, in allen Supermärkten wiederholen würde, hätten sie ein echtes Problem. Das wollen sie rechtzeitig stoppen. Es kann aber nicht sein, daß es in Spanien Menschen gibt, die nichts zu essen haben. Darauf wollten wir mit der Protestaktion aufmerksam machen. Sie nehmen den ärmsten Schichten der Gesellschaft das Mindeste weg, das diese zum Überleben brauchen. In einem reichen Land wie unserem gibt es Menschen, die hungern. In unserer Gewerkschaft sind wir Repression gewohnt. Wir kämpfen weiter, komme, was wolle. Sie wollen uns festnehmen lassen, weil wir in einen Supermarkt gegangen sind, um Bohnen rauszuholen. Aber kein korrupter Politiker, kein Banker, kein Spekulant und kein Großunternehmer wird ins Gefängnis gesteckt. Sie praktizieren Robin Hood spiegelverkehrt: die Armen ausrauben, um es den Reichen zu geben.

Welche Alternativen schlägt Ihre Gewerkschaft vor?

Wir fordern eine Reaktivierung der Wirtschaft, indem öffentliche Gelder in Kredite für Kleinbauern und kleine Firmen investiert werden. Außerdem wollen wir, daß Menschen, die ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen können, nicht aus ihren Wohnungen geworfen werden. In Andalusien gibt es rund 20000 Hektar bebaubares, aber brachliegendes Land in Staatsbesitz, das vielen Familien Arbeit geben könnte. Grund und Boden sind ein knappes Gut. Deshalb sollten nicht der Eigentumstitel, sondern das Nutzungsrecht im Dienste der Menschen stehen. Wir sehen nicht ein, daß der einzige Entwicklungsplan für Andalusien Strand und Sonne sein soll. Unser Klima ist perfekt geeignet, um alles Mögliche anzubauen. In vielen Gebieten haben wir sogar tropisches Klima. Deshalb ist eine Bodenreform dringend notwendig, die den öffentlichen Grundbesitz an Bauernkooperativen zur Nutzung übergibt.

Was muß sich in Südeuropa insgesamt ändern?

Italien, Portugal, Griechenland und Spanien sind Länder, deren Wirtschaft in Bedrängnis ist, aber deren Fußballmannschaften in Endspiele kommen, weil sie Spielern Millionen bezahlen. Es sind Länder mit korrupten Politikern und Spekulanten, deren Regierungen nicht die Menschen repräsentieren, die sie gewählt haben. Niemand hat für sie gestimmt, damit sie die Mehrwertsteuer erhöhen, die Rechte abbauen, das Rentenalter heraufsetzen. Gegen solche Angriffe gibt es nur eine Antwort: Es ist nötig, daß das Volk kämpft und neue Politiker wählt, die unter Demokratie Gleichbehandlung verstehen.

Welche Rolle spielt die Europäische Union in dieser Krise?

Wenn du dem Fuchs die Bewachung des Hühnerstalls überläßt, wird er die Hühner fressen. Genau das passiert in Europa: Im Parlament sitzt die europäische Bourgeoisie, und natürlich macht sie Gesetze gemäß ihrer Klasseninteressen. Die Europäische Union bevorzugt die Banker und Großunternehmen wie Supermarktketten, denen wir einige Grundnahrungsmittel weggenommen haben. In Andalusien, wo wir vor allem von der Landwirtschaft leben, sind die Auswirkungen der europäischen Politik bisher katastrophal. Die EU-Agrargesetze berechnen Subventionen allein nach der Hektarzahl der Anbauflächen, nicht nach der Produktivität oder der Zahl der Beschäftigten. Das führt zu einer Konzentration des Grundbesitzes, um auf Kosten der Allgemeinheit mit den EU-Subventionen Kasse zu machen.

Und Deutschland?

Aus Deutschland kommen nur Forderungen und Empfehlungen für Kürzungspläne. Die Deutschen sollten lieber dazu beitragen, ein offenes und solidarisches Europa zu schaffen. Teilen wir, was es in Europa gibt. Die Arbeitslosigkeit in Spanien und speziell in Andalusien ist derzeit ein brennendes Problem, und es wäre nicht schlecht, den spanischen Arbeitern Türen zu öffnen und eine Übergangslösung anzubieten.

Interview: Carmela Negrete

** Aus: junge Welt, Freitag, 10. August 2012


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