Millionenfaches Nein
Spaniens "Empörte" begehen zweiten Jahrestag ihrer Bewegung
Von Carmela Negrete *
Unter dem Motto »Von der Empörung zur Rebellion« haben Tausende Menschen am Sonntag in zahlreichen Städten Spaniens den eigentlich erst am morgigen Mittwoch anstehenden zweiten Jahrestag der Entstehung ihrer Bewegung »15-M« begangen. Die größten Versammlungen fanden mit jeweils mehreren zehntausend Teilnehmern in Madrid, Barcelona und Valencia statt.
In der spanischen Hauptstadt verlas die Witwe des kürzlich verstorbenen Schriftstellers José Luis Sampedro, der als einer der intellektuellen Paten der »Empörten« galt, die Ergebnisse einer von der Bewegung durchgeführten Umfrage zu der von der spanischen Regierungspartei PP betriebenen Privatisierung des Gesundheitswesens. In nur fünf Tagen hatte sich dabei jeder sechste Einwohner Madrids gegen den Ausverkauf der medizinischen Versorgung ausgesprochen. Von insgesamt 6,5 Millionen Einwohnern unterzeichnete eine Million bereits die von Bürgerinitiativen und Gesundheitszentren gegen die Privatisierung ausgearbeiteten Vorschläge. Im Gegensatz zu anderen Initiativen wurden diese Unterstützungserklärungen nicht nur über das Internet eingeholt, sondern auch bei fast 1400 Infoständen in den Vierteln und Vororten Madrids gesammelt – selbst in solchen Gegenden, die als Hochburgen der PP gelten.
Als nächsten Schritt wollen die Initiatoren der Kampagne, unter ihnen Gewerkschaften, Berufsverbände und Nachbarschaftsvereinigungen, in den Kommunalparlamenten der Region Anträge einbringen, die das Votum der Bürger für die Behörden verbindlich machen. Zudem sollen die Unterschriften an beide Kammern des spanischen Parlaments und an die Vereinten Nationen übersandt werden.
Madrid ist gegenwärtig die Region in Spanien, in der die Privatisierungspläne am weitesten fortgeschritten sind. Zahlreiche Gesundheitszentren und Krankenhäuser sind ausgeschrieben worden, um von privaten Unternehmen übernommen zu werden. Anfang Mai wurden zudem alle Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Physiotherapeuten und Pflegehelfer, die das Alter von 65 Jahren überschritten haben, ohne Vorankündigung zwangsweise in den Ruhestand geschickt, um deren Gehälter zu sparen. Die Maßnahme trete zum 15. Mai in Kraft, die Beschäftigten sollten bis dahin noch den ihnen zustehenden Urlaub nehmen, hieß es Medienberichten zufolge in der Anweisung. Die Berufsvereinigung der Mediziner warnte, daß in vielen Bereichen deshalb die Betreuung der Patienten nicht mehr gewährleistet sei.
Auch die dramatische Wohnungsnot beherrschte die Diskussionen unter den Demonstrationsteilnehmern. In Barcelona wurde zum Abschluß der dortigen Demonstration, an der nach Veranstalterangaben 50000 Menschen teilgenommen hatten – die Polizei zählte nur ein Zehntel davon –, ein leerstehendes Gebäude besetzt, das der Gemeinde gehört und eigentlich Sozialwohnungen bieten soll. Tatsächlich stand das Haus in der Altstadt der katalanischen Metropole jedoch seit Jahren leer, die Türen und Fenster waren mit Brettern vernagelt.
Bereits am vergangenen Freitag waren die »Empörten« auf die zentrale Plaça de Catalunya zurückgekehrt, auf der sie vor zwei Jahren wochenlang ihr Protestcamp errichtet hatten. Dort reihte sich bis zum Sonntag eine Diskussionsrunde an die nächste. Einer der Teilnehmer warnte dabei einem Bericht der Tageszeitung El País zufolge, die Bewegung dürfe nicht in der Vergangenheit leben und sich auch nicht in eine Mode »mit hübschen T-Shirts« verwandeln: »Was wir getan haben, ist in die Geschichte eingegangen, aber wir müssen vorangehen. Tatsächlich haben wir noch nichts wirklich verändert.«
* Aus: junge Welt, Dienstag, 14. Mai 2013
In Bewegung geraten
Zwei Jahre 15-M in Spanien
Von André Scheer **
Zehntausende Menschen haben am Sonntag wieder einmal in zahlreichen Städten Spaniens gegen Sozialabbau, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit demonstriert. Anlaß für die Aktionen war diesmal der zweite Jahrestag der Entstehung der Bewegung der »Empörten«, die auch unter dem Kürzel 15-M bekanntgeworden ist, das sich auf ihr Geburtsdatum bezieht. Am 15. Mai 2011 hatte es in 58 Städten des Landes Demonstrationen gegeben, zu denen die Initiative »Wirkliche Demokratie Jetzt« aufgerufen hatte. Die Beteiligung übertraf alle Erwartungen, die Kundgebungen trafen den Nerv von Millionen, die kein Vertrauen mehr in die Politiker setzten. Vielerorts gingen die Menschen nach dem Ende der Kundgebungen einfach nicht nach Hause, die berühmten Protestcamps entstanden.
In der ersten Euphorie hofften viele Aktivisten auf eine »Spanische Revolution«, und die rasant wachsende Zahl der Teilnehmer schien ihnen zunächst recht zu geben. Zwei Jahre später gibt es die Zeltlager nicht mehr. Das Label der »Empörten« ist im Alltag aus dem Fokus der Öffentlichkeit verdrängt worden. Damit geht es diesen nicht anders als den Aktivisten von »Occupy«, die wenige Monate nach den Spaniern den Stab aufgenommen hatten.
Doch es gibt einen Unterschied. Zumindest in Deutschland ist »Occupy« als Bewegung tatsächlich verschwunden. Nur in Hamburg wird noch mühsam ein Camp aufrechterhalten, eine Hülle ohne greifbaren Inhalt zwischen Hippie-Romantik und Esoterik (Plenumsprotokoll vom 10. Mai: »Leider waren die Schiffshupen des Hafengeburtstags so laut, daß zeitweise das Plenum unterbrochen werden mußte. Wir überlegten, Beschwerde bei der Polizei einzulegen.«).
In Spanien hat sich die Bewegung hingegen »nicht völlig aufgelöst, sondern gewandelt«, wie die Tageszeitung El Periódico am Montag schrieb: »Sie bildet den Kern machtvoller Proteste, die in den vergangenen Monaten in den Bereichen Gesundheit oder Bildung auf sich aufmerksam gemacht haben.«
Tausende wehren sich in Spanien inzwischen gegen die Zwangsräumungen von Menschen, die die Zinsen ihrer Bankkredite nicht mehr zahlen können, gegen die »Arbeitsmarktreformen« der Regierung, durch die die Jugendarbeitslosigkeit weiter ansteigt, und gegen die Privatisierung der bislang öffentlichen Gesundheitsversorgung. Die »Empörten« sind zudem Teil von Bewegungen geworden, die es schon vor ihnen gab, etwa bei Landbesetzungen in Andalusien oder bei Kampagnen für die Abschaffung der Monarchie, aber auch in Diskussionen um eine größere Selbständigkeit der autonomen Regionen von Madrid.
So bestimmen die »Empörten« zwei Jahre nach ihrem Entstehen inzwischen die politische Tagesordnung in Spanien mit – ohne daß dies unter einem gemeinsamen Label passiert. Auch wenn sie die Machtfrage noch nicht stellen konnten und wohl auf absehbare Zeit auch nicht werden stellen können: In Spanien ist etwas in Bewegung geraten.
** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. Mai 2013
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