Zur Lage im Kosovo vor den Kommunalwahlen
Ein etwas anderer Blick von Justus Leicht
Die "World Socialist Web Site" (www.wsws.org) verbreitete Ende Oktober einen umfangreichen und interessanten Bericht über die Lage im Kosovo vor den Kommunalwahlen (die Wahlen fanden am 28. und 29.10.2000 statt). Wir können vieles von dem, was hier mitgeteilt wird, genauso wenig überprüfen wie die vielen Berichte, mit denen wir aus den gängigen Medien hierzulande überschwemmt werden, und die in der Tat ein sehr einseitiges Hohelied auf die nun beginnende Ära der Demokratie im Kosovo singen. Der folgende Hintergrundbericht eignet sich also durchaus als Korrektiv gegen das sonst Übliche. Als Autor wir ein Justus Leicht genannt und datiert ist der Bericht vom 28. Oktober 2000.
Heute finden im Kosovo Kommunalwahlen statt. Die westlichen Medien und
Regierungen feiern dieses Ereignis als "erste freie und demokratische Wahl im
Kosovo überhaupt". Blickt man jedoch auf die Realität, so bleibt von dieser
Behauptung nicht viel übrig.
Die nicht-albanischen Minderheiten, soweit sie nicht vertrieben worden sind,
boykottieren die Wahl aus Protest gegen die Methoden der albanischen
Nationalisten weitgehend.
Von den schätzungsweise etwa 100.000 Serben, die nach fast anderthalb Jahren
Terror durch die UCK noch in der Provinz geblieben sind und heute in Ghettos
ausharren, haben sich über 90 Prozent gar nicht erst als Wähler registrieren lassen.
Unterschiedlichste serbische Organisationen, Anhänger wie Gegner des
ehemaligen Milosevic-Regimes, hatten zu diesem Boykott aufgerufen. Lediglich
in der Gemeinde Leposavic, die im äußersten Norden der Region an der Grenze zu
Serbien liegt und ausschließlich von Serben bewohnt wird, beteiligen sich
Serben in größerer Anzahl an der Wahl.
Serben, die aus dem Kosovo geflohen sind, boykottieren die Wahl ebenfalls.
Nicht nur in Serbien selbst, sondern auch in Montenegro, das mit dem Westen
zusammenarbeitet, hat sich kaum einer von ihnen in die Wählerlisten der OSZE eingetragen.
Ebenfalls wenig registrieren lassen haben sich die Roma. Sie sind nach den
Serben die meistverfolgte Minderheit im Kosovo. Zehntausende von ihnen wurden
von den albanischen Nationalisten bisher vertrieben. Die Parteien der Roma
konzentrieren sich denn auch fast ausschließlich auf die Forderung nach
Minderheitenrechten und stehen dem Ziel eines unabhängigen Kosovo wesentlich
reservierter gegenüber als die albanischen Parteien, von denen die Lokalwahlen
als erster Schritt in diese Richtung betrachtet werden.
Ein Großteil der türkischen Minderheit ließ sich ebenfalls nicht registrieren.
Hier hat es teilweise ebenfalls Aufrufe zum Boykott der Wahlen gegeben, weil
die albanischen Nationalisten türkisch nicht als dritte Amtssprache anerkennen wollen,
sondern verlangen, dass die Türken sich als Albaner "bekennen".
Auch die Minderheit der muslimischen Slawen nimmt nur in geringer Zahl an den
Wahlen Teil. Von albanischen Nationalisten werden sie, wie die anderen
Minderheiten auch, als "Kollaborateure" mit Belgrad verfolgt, ermordet und
vertrieben. Mitte August explodierte in einem Gebäude mit Büros ihrer Parteien
ein Sprengsatz.
Die amerikanische Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" erklärte am
20. Oktober: "Bis jetzt scheint es so, dass die Vorbereitungen auf die Wahl
mehr von dem Wunsch ausgehen, einen vorher festgelegten Termin einzuhalten,
als die minimalen Voraussetzungen zu schaffen, die für freie und faire Wahlen
notwendig sind ..."
Die Bilanz ist nach 16 Monaten NATO-Besetzung verheerend. Selbst nach den
äußerst konservativen Statistiken der OSZE und des UNHCR
(UNO-Flüchtlingshilfswerk) sind an die 200.000 Angehörige nicht-albanischer
Minderheiten vertrieben und über 200 ermordet worden. Die Anzahl derjenigen,
die bedroht, zusammengeschlagen, mit Messern, Äxten, Schusswaffen und Granaten
angegriffen und verletzt, deren Haus und Hof angezündet wurden, ist kaum zu
zählen. Oft handelte es sich bei den Opfern um alte Männer und Frauen, die
nicht mehr flüchten konnten oder wollten, also keineswegs
um "Racheakte" für serbische Kriegsverbrechen und Gräueltaten.
Vertreter der Serben geben allerdings wesentlich höhere Opferzahlen an. Nach
Angaben der serbisch-orthodoxen Kirche im Kosovo seien 900 Serben ermordet und
weitere 12.000 entführt worden. 200.000 Serben und zusätzlich 50.000
nicht-albanische Bewohner seien vertrieben worden, seit die NATO als
Verbündete der albanischen "Kosovo-Befreiungsarmee" (UCK) einmarschiert sei.
Der Terror der albanischen Nationalisten hat wiederum die lokalen serbischen
Nationalisten gestärkt, denen eine ethnische Teilung des Kosovo vorschwebt.
Der Westen hat sich in Worten stets von den Verbrechen der albanischen
Nationalisten distanziert. Wie hohl jedoch die Bekenntnisse zu einem
"demokratischen und multikulturellen Kosovo" sind, zeigt sich schon daran,
dass die 40.000 NATO-Soldaten praktisch weiterhin mit der UCK zusammenarbeiten
- wobei diese lediglich unter neuem Namen agiert.
Die Kommandostruktur und die Zusammensetzung, ja selbst das Wappen des 5.000
Mann starken "Kosovo-Schutzkorps" (KSK, albanisch TMK) ist im wesentlichen mit
der offiziell aufgelösten UCK identisch. Das gilt auch für ihren Chef: General
Agim Ceku war bereits während des Krieges Oberkommandierender der UCK. Vorher
hatte er in der kroatischen Armee gedient und 1995 eine führende Rolle bei der
Vertreibung von 250.000 Serben aus der kroatischen Region Krajina gespielt.
Hinzu kommt die ebenfalls nur offiziell aufgelöste "Militärpolizei" (PU) der
UCK. Ihre Mitglieder treten besonders in ländlichen Gebieten in martialischen
schwarzen Uniformen auf und werden weithin verdächtigt, für Entführungen,
Folter, Morde und Schutzgelderpressung verantwortlich zu sein. Auch für den
Terror gegen politisch missliebige Albaner, wie z.B. gegen die mit der UCK
rivalisierende LDK (Demokratische Liga des Kosovo) Ibrahim Rugovas, werden sie
verantwortlich gemacht. Die NATO-Truppen hatten die PU erst "aufgelöst" und
dann in sogenannte "neighbourhood watch" (albanisch KF) umgewandelt. ("What
happened to the KLA?" International Crisis Group 3.3.2000, S. 13)
Wie aus einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung der OSZE über das
Justizwesen im Kosovo im Zeitraum vom 1.2. bis 31.7. hervorgeht, haben Mörder
nicht viel zu befürchten, wenn ihre Opfer Serben oder Angehörige anderer
Minderheiten sind. Diese werden jedoch immer wieder ohne fairen Prozess,
manchmal ohne Anklage festgenommen und eingesperrt.
Der politische Führer der UCK, Hashim Thaci, heute Chef der "Partei des
Demokratischen Kosovo" (PDK) hat den Vorwürfen, dass seine Männer in
ethnischen Terror und organisierte Kriminalität verwickelt seien, stets entgegengehalten,
dass sich jeder eine UCK-Uniform anziehen könne. Hierin könnte zumindest ein
Körnchen Wahrheit liegen. Vereinzelt könnten sich auch "gewöhnliche" Gangster
als "UCK-Kämpfer" ausgegeben haben. Auch die LDK hatte eine eigene Miliz, die
"Streitkräfte der Republik Kosovo" (FARK), aufgebaut. Nachdem ihr Kommandeur
Ahmet Krasniqui im September 1998 in Albanien ermordet worden war, kämpfte sie
allerdings an der Seite der UCK. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einige
FARK-Kämpfer auch anschließend noch aktiv blieben.
Politisch scheint der Terror der UCK weitgehend Ibrahim Rugova zugute zu
kommen. Es wird ein deutlicher Wahlsieg seiner LDK erwartet. Er repräsentiert
die alteingesessenen, privilegierten Schichten unter den Albanern, wird jedoch
mittlerweile von vielen aus der einfachen Bevölkerung als gemäßigtes
Gegengewicht zu den Warlords und Gangstern der UCK gesehen. Wie Die
Zeit(26.10) schrieb:
"Der 55-jährige Literaturwissenschaftler lebt hermetisch
und entrückt in einer zur Parteiresidenz ausgebauten Villa. Doch gerade seine
Strategie, nahezu nichts zu tun, verklärt den schmächtigen Poeten für die
politikfremden Menschen - im Vergleich zu den breitschultrigen,
sonnenbebrillten Landrover-Lakaien seines Gegenspielers Thaci."
Rugova tritt allerdings ebenso wie Thaci für einen unabhängigen Kosovo ein.
Die der LDK nahestehende Tageszeitung Bota Sot tut sich sogar durch besondere
Hasstiraden gegen die serbische Minderheit hervor. ("Elections in Kosovo:
Moving Toward Democracy?" ICG 7.7.2000, S. 11,12) Im Moment scheint es zwar,
dass Rugova eher als Thaci zur Zusammenarbeit mit der vom Westen gestützten
neuen Regierung in Belgrad bereit ist. Aber die politischen Unterschiede
zwischen den beiden sind nicht sehr schwerwiegend.
Um so heftigere Formen nimmt dagegen der Kampf um die Fleischtöpfe an. Seit
dem Krieg wurden die meisten lokalen Verwaltungen von Thacis Männern
kontrolliert. Diese sind offenbar wenig geneigt, sie freiwillig wieder zu
räumen und der LDK zu überlassen. Seit Mitte Juni sind zwei Vertreter der LDK
und ein ihr nahestehender Journalist ermordet, zwei durch Schüsse verwundet
sowie zahlreiche Parteibüros demoliert worden. Kandidaten der LDK wurden
Handgranaten auf die Häuser geworfen und sie erhielten Briefe mit
Morddrohungen, falls sie weiterhin politisch aktiv blieben. LDK Funktionäre,
die ungenannt bleiben wollten, meinten gegenüber der Agentur AFP, solche
Briefe würden sie dauernd erhalten. Sie beschuldigten Thacis PDK, für den
Terror verantwortlich zu sein.
Die ehemalige UCK ist allerdings keineswegs homogen. Es gibt erbitterte
"Revier"-Kämpfe um Geld und Einfluss. In einem Artikel von Le Monde
Diplomatique(13.10.) heißt es dazu:
"So brannte in Pristina im Februar mehrere Tage lang das große Sportzentrum
,Ramiz Sadiku‘, in dessen Untergeschoss sich von Hrustem Mustafa
kontrollierte, gut gehende Kaufhausgalerien befanden. Mustafa, besser bekannt
unter seinem Kriegsnamen Kommandant Remi, befehligte die UCK und später den
TMK im Sektor Llap, zu dem Pristina gehört. Der vermutlich gelegte Brand
dürfte eine Warnung an Kommandant Remi gewesen sein, dem nachgesagt wird, er
kontrolliere Handel und Erpressungen in der Hauptstadt des Kosovo. Weiteren
Konfliktstoff zwischen ihm und Hashim Thaci könnten
die Tankstellen darstellen, die überall im Kosovo aus dem Boden schießen.
Einen ähnlichen Einfluss übt Ramush Haradinaj, während der Kämpfe Kommandant
des Sektors Dukagjin im Westen Kosovos, in seiner Herkunftsregion aus, obwohl
er mittlerweile Stellvertreter des Oberkommandierenden des TMK, Agim Ceku,
ist. Zwischen Prizren und Pec kann Haradinaj die gesamte Grenze zu Albanien
und Montenegro überwachen. Dank dieser strategischen Stellung kontrolliert er
wichtige Teile des Handels, insbesondere mit Erdöl und Zigaretten. Ein Grund
für seinen Bruch mit Thaci und die Gründung der AAK könnte in seiner
Verwicklung in Mafiageschäfte liegen. In den vergangenen Monaten entgingen
sowohl Ramush Haradinaj als auch Hrustem Mustafa nur knapp einem Attentat."
Es ist möglich, dass sich in den kommenden Monaten neue Konflikte um den
Kosovo entzünden. Die albanischen Nationalisten haben mit kaum verhohlener
Verärgerung und Frustration den Wechsel von Milosevic zu Kostunica und dessen
Umarmung durch den Westen verfolgt. Kostunica hat seit seinem Amtsantritt zwar
versöhnliche Gesten gegenüber den Albanern gemacht, aber er und seine
Verbündeten wie Djindjic haben trotzdem klargestellt, dass sie Kosovo als Teil
Serbiens betrachten, die serbischen Flüchtlinge rückführen und womöglich auch
Sicherheitskräfte in serbisch bewohnte
Gebiete bringen wollen.
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