Was wird aus Jugoslawien nach Milosevic?
Ein Land unter Einfluss - Abweichende Meinungen
Es ist schwer, verlässliche Hintergrundberichte über die Wahlen in Jugoslawien und die darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen altem Regime und Opposition zu erhalten. Die meisten Berichte in den großen Zeitungen ergehen sich in triumphalistischen Hymnen an die geglückte friedliche "Revolution", die es angesichts des zum Hitler des Balkans stilisierten, und nun fast über Nacht abgesetzten Milosevic eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Hin und wieder mischt sich in die Kommentare noch die Sorge um die Verlässlichkeit Kostunicas: Ist er wirklich der Mann des Westens? Ist sein serbischer Nationalismus - den er genauso pflegt wie sein Widersacher Milosevic - EU-kompatibel? Und ist eine "Wiederkehr" des "Bösen" in Gestalt Milosevics für alle Zeiten ausgeschlossen? Das sind die Fragen und Probleme der NATO-Kriegsallianz von 1999, die sich in die inneren Verhältnisse Jugoslawiens vor und nach den Wahlen in einer Weise eingemischt haben, dass es schon nicht mehr schön ist. Bundesaußenminister Fischer nennt das "präventive Konfliktprävention".
Aber auch eine friedenspolitische Einschätzung fällt schwer: Was bedeutet das Zurückweichen Milosevics vor dem Ansturm der sich politisch artikulierenden Bevölkerung für die realen innnenpolitischen Machtverhältnisse? Was bedeutet der sich vollziehende Regierungswechsel für die Außenbeziehungen Jugoslawiens? Welche Perspektiven eröffnen sich für den Zusammenhalt Restjugoslawiens (also einschließlich Montenegros und - vor allem - einschließlich des Kosovo)? Folgt der politischen West-Öffnung Jugoslawiens auch eine militärische West-Bindung?
Im folgenden dokumentieren wir zwei aktuelle Einschätzungen, die deutlich gegen den Strich der herrschenden Berichterstattung bürsten. Nicht zufällig stammen sie aus der ständig um ihr Überleben kämpfenden linken Tageszeitung "junge welt", die sich schon während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 als willkommene Quelle alternativer Informationen aus dem Kriegsgebiet erwiesen hat und in Kreisen der Friedensbewegung stark nachgefragt wurde. Das Interview mit Markovic ist vor allem auch deshalb interessant, weil es einen Einblick in die gar nicht so einheitlichen und angeblich ausschließlich "diktatorisch bevormundeten" politischen Kräfte des alten Regierungslagers erlaubt.
Neue Serbophilie und alte Serbophobie
Der Milosevic-Block ist an seinen eigenen Widersprüchen zerbrochen, der
Kostunica-Block zerbricht jetzt schon. Von Werner Pirker
Das politische Lager um Slobodan Milosevic und Mira Markovic erodiert. Es
hat dem äußeren und inneren Druck letztendlich nicht mehr standhalten
können. Als unschlagbar erwies sich die Kombination aus NATO-Drohungen und
Kostunica, der, obwohl Favorit der NATO, die Hoffnungen vieler seiner
Landsleute verkörperte, daß die Zeit der Demütigung Serbiens zu Ende geht.
Genau das hatte Milosevic in seiner Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht
auf dem Amselfeld versprochen. Daß er dieses Versprechen nicht halten
konnte, hat ihn nun die Macht gekostet. Vergessen war, daß aus dem
NATO-Krieg die Serben nicht als gedemütigte Verlierer, sondern als
moralische Sieger hervorgegangen waren. Den Sieg in der Niederlage
erzielen, auch das hat Milosevic auf dem Amselfeld gesagt. Es nützte
nichts: Kostunica war der Schatten, der »Slobo«, den serbischen
Volkshelden von 1989, eingeholt hat. »Niemand darf euch schlagen«, sagte
Milosevic damals. Im September 2000 glaubten die Geschlagenen einem
anderen. Auch der wird sein Versprechen nicht halten können. Mit der NATO
nicht und auch nicht gegen die NATO. Als Garant der Pax Americana setzt
sich Zoran Djindjic bereits kräftig in Szene. Was verblüffte, war die
Würdelosigkeit des Abgangs des bisher herrschenden Blocks, der jahrelang
allen Angriffen standgehalten und bei der Organisierung des
Volkswiderstandes gegen die NATO-Aggression eines der ruhmreichsten
Kapitel in der serbischen Geschichte geschrieben hat. Das beweist, daß das
Pro-Milosevic-Lager auch an seinen inneren Widersprüchen gescheitert ist.
Die regierenden Sozialisten hatten keinen Rückhalt in der werktätigen
Bevölkerung mehr, weil sie mehr regierten, als Sozialisten zu sein. Wenn
die Wiener Zeitung Die Presse gedankenlos daherschreibt, mit Jugoslawien
sei die letzte kommunistische Bastion in Europa untergegangen, dann
ignoriert sie schlicht die Tatsache, daß die Transformation zu
Marktwirtschaft und bürgerlicher Demokratie in der Ära Milosevic ihren
Anfang nahm. Es ist von kaum zu überbietender Ironie, daß der
kapitalistische Westen diesen Prozeß durch seine Embargopolitik mehr
behindert als befördert hat. Es ist eine ungeklärte Frage, ob sich
Jugoslawien aus eigenem Antrieb der neoliberalen Globalisierung verweigert
hat oder ob es dazu gezwungen wurde.
Die marktwirtschaftliche Transformation ist immer eine unappetitliche
Angelegenheit - erst recht unter kriegsökonomischen Bedingungen. Die
Flucht des Milosevic- Sprößlings Marko sagt einiges über die
heruntergekommene Moral der jugoslawischen Marktwirtschaftsnomenklatura
aus. Doch während die Sieger über den Kommunismus anderswo
Bereicherungsorgien als marktwirtschaftliche Bravourleistungen zu feiern
wissen, galt sie im jugoslawischen Fall als übelstes Verbrechen. Und der
Korrupteste unter den Korrupten hat Slobodan Milosevic zu sein. Kann gut
sein, daß man ihn auch wegen Wirtschaftskriminalität unter Anklage stellt.
Es wäre schon von beispielloser Charakterlosigkeit, würde Kostunica dem
Wunsch seiner ausländischen Wahlhelfer nach Auslieferung seines
Amtsvorgängers nachkommen. Denn der Vorwurf des Kriegsverbrechens bezieht
sich auf die serbische Position generell. Und Kostunica war keineswegs des
Geistes Kind, das an den »kriegsverbrecherischen Handlungen« der
»serbischen Soldateska« Anstoß nahm, ganz im Gegenteil. Er wollte die
»serbische Sache« entschiedener und härter vertreten wissen und
kritisierte die Milosevic-Politik als zu lasch und kapitulantenhaft. Das
Friedensabkommen von Dayton, dessen wichtigster Akteur - neben Holbrooke -
Slobodan Milosevic hieß, hat Kostunica bis heute nicht anerkannt. Und auch
das Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom Dezember 1998, das einen einseitigen
Verzicht der jugoslawischen Armee im Kosovo beinhaltete, was den UCK-
Terror aufs neue anwachsen ließ, fand in ihm den schärfsten Kritiker. Zu
Recht, denn damit hatte Jugoslawien die Internationalisierung des
Kosovo-Konflikts akzeptiert, die über Rambouillet direkt zum Luftkrieg
gegen Jugoslawien führte. Charakterisiert man Vojislav Kostunica als
liberalen Nationalisten, ergibt sich die Frage nach dem Spielraum, den er
als Nationalist hat. Die ihm von den Sponsoren der »Demokratisierung
Jugoslawiens« zugedachte Hauptaufgabe liegt sicher im neoliberalen Umbau
des Landes, dem sich die bisher herrschende Koalition verweigert hatte.
Gelingt ihm dies, wird ihm das Festhalten am »serbischen Mythos« nicht
weiter übelgenommen werden. Denn was daran störte, war der serbische
Sonderweg, das Beharren auf Blockfreiheit und damit die Nichtakzeptanz der
imperialistischen Globalisierung. Zur Überwindung dieser Politik ist der
Liberale in Kostunica gefordert.
Noch schwelgt die westliche Meinungsmache in serbophiler Begeisterung über
die »friedliche Revolution« der Serben, die aus eigener Kraft die Despotie
besiegt haben. Gleichzeitig sucht die westliche Aggressionsgemeinschaft
nach Selbstbestätigung, will sie im Wahlverhalten der serbischen
Bevölkerung den Beweis für die Richtigkeit und moralische Berechtigung des
Interventionismus sehen. Die NATO läßt sich ihren Sieg vom serbischen Volk
nicht streitig machen. Denn ohne Bomben, hört und liest man, wären die
Serben nie zur Besinnung gekommen. Diese zweite, serbophobe Tendenz in der
medialen Aufbereitung beruht auch weiterhin auf der Ansicht, daß Milosevic
nur der extreme Ausdruck, nicht aber die Ursache des Problems sei. Das
Problem seien die Serben selbst, die mit ihren Mythen die ganze Welt
schikanieren. Kaum zum Präsidenten ernannt, sieht sich Kostunica bereits
mit den Forderungen der antiserbischen Allianz konfrontiert. Der Tenor
lautet, daß Serbien nur dann ein demokratisiertes Serbien sei, wenn das
Kosovo unter internationaler Kontrolle bleibt. Das Kosovo-Problem sei
nicht im serbischen, sondern im Rahmen der jugoslawischen Föderation zu
lösen, verlautet es zum Beispiel aus dem österreichischen
Außenministerium, wo man es ganz besonders nötig hat, sich für die
EU-Sanktionen an einem anderen Sanktionsopfer zu rächen. Diese Forderung
läuft praktisch auf die Schaffung einer dritten jugoslawischen Republik
hinaus. Löst sich Jugoslawien aber infolge der montenegrinischen Sezession
in seine nationalen Bestandteile auf, hätte dies automatisch die Loslösung
des Kosovos zur Folge.
Für Kostunica müßte die Forderung nach Jugoslawisierung der serbischen
Frage schon allein deshalb unerträglich sein, weil er eines ganz gewiß
nicht ist: ein Jugoslawist. Als bekennender serbischer Nationalist geht es
ihm um die Sammlung der serbischen Länder, einschließlich Montenegros, und
nicht um die Aufrechterhaltung eines antinationalen Gebildes, für das
Kostunica Jugoslawien immer gehalten hat. Schließlich kommt er aus dem
Dunstkreis der Verfasser des Manifestes der Serbischen Akademie der
Wissenschaften und Künste, in dem Titos Jugoslawien als Schöpfung einer
antiserbischen Verschwörung der Komintern bezeichnet wurde. Dieses
Manifest wurde von der westlichen Medieneinfalt gern als ideologische
Grundlage der großserbischen Milosevic-Politik hingestellt. Für Kostunica
aber hat Milosevic Serbien an seine jugoslawistisch gesinnte Gattin
verkauft.
Wenn der neue jugoslawische Präsident seine neoliberalen Hausaufgaben
löst, wird er auch ein wenig auf die serbische Pauke hauen dürfen.
Längerfristig wird der Widerspruch zwischen Liberalismus und Nationalismus
nicht lösbar sein. Neoliberale Transformation in Jugoslawien bedeutet
nationale Unterwerfung, Ausverkauf der Reichtümer des Landes zum Preis
einer jugoslawischen Fußballnationalmannschaft und die Verbannung großer
Teile der Bevölkerung in Bereiche unterhalb der Armutsgrenze. Mag auch
Zukunftshoffnung die jugoslawische Gegenwart beherrschen - Nostalgie wird
es sein, die die Zukunft bestimmt.
Aus: junge Welt, 14.10.2000
»Milosevic fehlte das richtige Gespür für die Korruption«
jW-Gespräch mit Mihailo Markovic über das Scheitern der Sozialistischen
Partei Serbiens und die neuen Aufgaben der Linkskräfte in Jugoslawien
(Prof. Mihailo Markovic ist Mitglied der Serbischen Akademie der
Wissenschaften und Vordenker der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS). Markovic war Mitarbeiter der marxistischen Praxis-Gruppe und bis Herbst
1995 Vize-Chef der SPS)
F: Nach den Wahlen in Jugoslawien am 24. September hat am 5. Oktober
gewissermaßen ein »Staatsstreich« der »Demokratischen Opposition Serbiens
(DOS)« auf den Straßen Belgrads stattgefunden. Andere nennen es eher
»samtene Revolution«. Wie würden Sie das, was geschah, beschreiben?
Der 5. Oktober begann als eine der »Rebellionen«, wie wir sie schon
erleben konnten, angefangen mit dem 9. März 1991. Danach gab es
verschiedene Versuche auf der Straße, das Regime einzuschüchtern, es
zurückzudrängen, vielleicht in staatliche Institutionen einzudringen und
sie mit Gewalt zu übernehmen - wie es anderswo in Ländern Osteuropas der
Fall war.
Natürlich war dieser Protest des 5. Oktober nicht nur der »friedliche«
Ausdruck zivilen Ungehorsams, und er war nicht einmal als solcher geplant,
gleich was seine Organisatoren sagen. Dabei gab es viel Gewalt, einige
Menschen wurden getötet und etwa hundert verletzt; der materielle Schaden
war beträchtlich. All dies zeigt klar und deutlich, daß es eine
Konterrevolution war und keineswegs diese »Samtheit«, von der einige jetzt
sprechen.
Nach meiner Definition ist Revolution ein sozialer Gewaltstreich, eine
soziale Umwälzung, die zu einer höheren, fortschrittlicheren Form der
Gesellschaft führt. Wenn das nicht der Fall ist, sprechen wir von
Konterrevolution.
Slobodan Milosevic hätte die Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen
sogleich eingestehen sollen, dann wäre der Schaden geringer gewesen. Aber
nach einer Reihe von Fehlern machte er einen weiteren und entschied sich,
die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 24. September nicht
anzuerkennen. Als schließlich eine große Protestwelle ausgelöst wurde, als
DOS am 5. Oktober das Volk zu Massendemonstrationen in die jugoslawische
Hauptstadt rief, war die Zahl der versammelten Menschen nicht einmal mehr
entscheidend, weil Milosevic inzwischen schon entschieden hatte, zu
kapitulieren. Die Armee reagierte nicht, die Polizei leistete mehr oder
weniger symbolischen Widerstand, und die Macht wurde einfach übergeben.
F: Welche Faktoren führten dazu, dem zehn Jahre andauernden serbischen
Widerstand unter Slobodan Milosevic ein Ende setzten? Warum passierte dies
nicht schon früher?
Hier in Serbien kam das »Übergangs«szenario lange Zeit nicht zum Zuge, und
zwar aus verschiedenen Gründen. Einer dieser Gründe ist, daß in Serbien
bereits einige notwendige Reformen durchgeführt worden waren. Im Jahre
1989 hatten wir Reformen sowohl des politischen als auch des
wirtschaftlichen Systems. So war das, was in den osteuropäischen Ländern
später geändert wurde, in Jugoslawien bereits reformiert und geändert
worden, aber dabei waren die Regierungen (der Föderation und der
Teilrepubliken/d.Red.) fest in Händen sozialistischer Kräfte. Im übrigen
ist die serbische Nation sehr widerstandsfähig, wenn der Versuch gemacht
wird, ihr Lösungen von außen aufzuzwingen, und sie widerstand fest und
lange Zeit den Versuchen reaktionärer Kreise im Westen, hier eine
sogenannte »Transformation«, das heißt den Übergang zum Kapitalismus mit
»Schocktherapien« und all den anderen für die Bevölkerung und die
Gesellschaft katastrophalen Folgen, durchzusetzen. So existierte also eine
Art Bewußtsein von all dem, und daher der Widerstand.
Nichtsdestoweniger bewirkte eine Kombination bestimmter Faktoren in den
letzten zehn Jahren eine allmähliche Veränderung dieser Haltung: Der erste
ganz entscheidende Faktor war der enorme Druck der USA, des Westens, der
direkt in unsere inneren Angelegenheiten eingriff, Anweisungen an die
Oppositionsführer gab und 70 bis 100 Millionen Dollar allein für diese
letzten jugoslawischen Wahlen einsetzte.
Andererseits erfolgte eine Schwächung gerade innerhalb der Regierung und
eine gewisse Demoralisierung von Kadern der Sozialistischen Partei
Serbiens (SPS). Was aber das Schlimmste war: Die Bevölkerung, die unter
schwierigsten materiellen Bedingungen, ja geradezu in Armut lebte, konnte
dies nicht länger ertragen.
Daher schließlich dieses Motto »Veränderungen« um jeden Preis, selbst wenn
es hieß, daß diese Veränderungen auch Veränderungen zum Schlechteren sein
könnten - und es auch werden. Dies alles führte die Wahlniederlage der
Linken herbei, keine totale Niederlage natürlich; denn im Bundesparlament
hat die Koalition der linken Kräfte immer noch die Mehrheit; aber auf der
kommunalen Ebene war die Niederlage tatsächlich total und natürlich auch
auf der Ebene der Präsidentschaftswahlen.
F: Sie erwähnten die »inneren Schwächen« und die »Demoralisierung« in der
SPS. Wie weit hat die jugoslawische Regierung, unabhängig von dem
ausländischen Faktor, der offenkundig ist, selbst zu ihrem Niedergang in
diesen Wahlen beigetragen?
In der Sozialistischen Partei, die der Träger der Verteidigung
grundlegender sozialistischer Werte war, gab es ein gewisses Maß an
innerer Demokratisierung, und die Moral war ebenfalls auf einer gewissen
Höhe. Selbst heute gibt es natürlich eine große Zahl von sozialistischen
Funktionsträgern, die ehrlich und unbestechlich geblieben sind, die ihre
linke Orientierung nicht aufgegeben haben.
Aber die Situation veränderte sich allmählich durch den Umstand, daß eine
innere Erosion stattfand. In erster Linie hatte Slobodan Milosevic selbst
nicht das richtige Gespür für das Phänomen der Korruption. Auch wenn er
selbst bis zum Ende durch und durch ehrlich blieb, so war er doch in
seiner eigenen Familie nicht prinzipienfest genug, gegen das Verhalten
seines Sohnes und seiner Frau Mirjana Markovic Sanktionen zu ergreifen;
und all dies hatte einen wirklich schädlichen Einfluß auf die
Gesellschaft, die Anhänger, die Mitglieder und Verantwortlichen der
Sozialistischen Partei selbst.
Dies spielte bei der inneren Erosion eine große Rolle. Und die Bildung der
Jugoslawischen Linken (JUL) spielte eine verheerenden Rolle. Die JUL
stellt sich als eine linke Partei dar, aber nach dem formlosen
Eingeständnis von Milosevic selbst, wurde diese »linke« Partei unter den
Bedingungen der Sanktionen und der Blockade gebildet. Um diese Blockade zu
durchbrechen, mußte die jugoslawische Regierung einige Formen der
Schattenwirtschaft dulden. Einige Privateigentümer hatten an Funktionäre
der Europäischen Union und der NATO Bestechungsgelder zu zahlen. Dadurch
gelang es uns, an Öl, Benzin und all das übrige zu kommen. Aber diese
Privateigentümer kamen durch die Schattenwirtschaft zu einigem Vermögen.
Auf Grund der Überlegung, daß diese Leute, die nun in der Tat zu
Kapitalisten wurden, wirklich Gegner der Sozialisten sein werden, befand
Milosevic, daß es gut wäre, einen Weg zu finden, sie zu Alliierten zu
machen.
Dies zu der Frage, wie die JUL schließlich zustande kam und Milosevics
Frau deren Führung übernahm. Im Grunde genommen war dies eine schlechte
Idee und, wie verlockend sie auch im ersten Augenblick erschien, auf die
Dauer waren ihre Folgen übel, wie man sehen kann.
Diese Leute waren in dieser sogenannten linken Partei, um sich weiter zu
bereichern und vielleicht obendrein noch eine politische Position zu
erlangen, in der sie ihr Kapital schützen konnten. Natürlich hatte das auf
die Sozialistische Partei einen sehr demoralisierenden Einfluß. Und dann
veranlaßte Milosevic auch noch die Sozialisten, die JUL überall zu
fördern, eine Koalition mit ihr einzugehen und bei Wahlen den Vertretern
der JUL eine große Zahl von Sitzen zu geben. Jahrelang hat das zu
wachsendem Unmut unter Funktionären der Sozialistischen Partei geführt.
F: Sie sind einer der Vordenker der SPS. Inwieweit hat der Nationalismus
und sein Niederschlag im Programm der Sozialistischen Partei zum
Niedergang der Linken geführt?
»Serbischer Nationalismus«, Nationalismus als solcher und selbst
Patriotismus werden oft mit Chauvinismus verwechselt. Das ist ein grob
fehlerhaftes Denken.
Nationalismus? Ich habe eine kritische Einstellung zum Nationalismus in
dem Sinne, daß Nationalismus immer eine einseitige Auffassung eines
Problems bedeutet, wobei nur die nationale Dimension gesehen wird. So wird
alles im Licht nationaler Beziehungen, nationaler Interessen gesehen. Dazu
verhalte ich mich kritisch. Aber selbst dabei haben Sie zwei Arten von
Nationalismus. Sie haben den »verträglichen« Nationalismus, der, wie
gesagt, eben nur in seiner Einseitigkeit besteht. Aber Chauvinismus, den
ich den »bösartigen« Nationalismus nennen würde, ist etwas völlig anderes.
Chauvinismus, das ist der Haß auf andere Nationen, das Nicht-Geltenlassen
anderer Nationen - das ist etwas absolut Negatives. Leute, die nicht
zwischen diesen beiden Arten von Nationalismus unterscheiden wollen oder
können oder nicht einmal einen Unterschied zwischen Nationalismus und
Patriotismus sehen, sind einfach nicht gebildet genug. Sie sehen die
Problemstellungen unserer Zeit eben nicht in allen ihren Nuancen, sondern
gehen oberflächlich an die Dinge heran. Sie sehen dort, wo Abstufungen von
Grau sind, nur Schwarz und Weiß.
Daher ist dies keine Frage von »Serbischem Nationalismus«, nicht einmal
von einem verträglichen, sondern von serbischem Patriotismus. Patriotismus
ist Liebe zu seinem eigenen Volk und zu seinem eigenen Land und ist
vollkommen gerechtfertigt. Sie können nicht Internationalist sein, ohne
Patriot zu sein; und wo Unrecht und Aggression geschieht, da haben sie ihr
Land zu verteidigen, so wie Sie jedes andere Land auch verteidigen würden.
Patriotismus ist etwas gänzlich Positives. Nationalismus kann in einigen
rechten Parteien, z.B. in den Parteien von Seselj und Draskovic, vorhanden
sein, aber im Fall der Sozialistischen Partei können wir nur von einem
Patriotismus sprechen, der andere Nationen gelten läßt, aber gleichzeitig
bereit ist, die Interessen der eigenen serbischen Nation zu verteidigen.
Es ist gänzlich ungerechtfertigt zu behaupten, daß die SPS von irgendeiner
Form von Nationalismus angesteckt sei; und Milosevic kann nicht als
Nationalist bezeichnet werden. Seine berühmte Gazi-Mestan-Rede von 1989
war eine vollkommen antinationalistische Rede. Einige nennen sie
nationalistisch, ohne sie gelesen zu haben. Oder das frühere Memorandum
der Serbischen Akademie der Wissenschaften: Es wurde in der ganzen Welt
als die Grundlage von Milosevics Politik angesehen und als ein
nationalistisches Dokument bezeichnet, das zum Auseinanderfallen des
ehemaligen Jugoslawien führte. Jeder, der wollte, konnte dieses Dokument
lesen und feststellen, daß darin einzig und allein von der
Gleichberechtigung der Nationen die Rede ist.
F: Der Philosoph Professor Dejan Pavlov Kreculj sagte unlängst gegenüber
dieser Zeitung (siehe junge Welt vom 23./24.9.2000), die Septemberwahlen
seien eine Entscheidung zwischen »Freiheit und Sklaverei«. Haben die
Menschen in Serbien bewußt und bereitwillig für ihre eigene Sklaverei
gestimmt?
Natürlich nicht! Es konnte einfach nicht länger mit dem Druck fertig
werden, und zwar aus folgendem Grund. Das serbische Volk hat zehn Jahre
lang sehr hartnäckig Widerstand geleistet. Und es hätte weiter
widerstanden, wenn ausnahmslos alle die Folgen gleichermaßen getragen
hätten. Aber die Menschen konnten Armut und Leiden nicht länger
verkraften, derweil sie einige unter sich sahen, die reicher und reicher
wurden und in Luxus lebten. Diese Diskrepanz zwischen dem Programm einer
linken Partei und ihrer Praxis war zu groß. Darum wurden wir schließlich
von DOS geschlagen. Und das ist keine Frage des »serbischem Nationalismus«
oder der »Überlegenheit« der DOS. Aber die Leute, die sich für den
»Wandel« eingesetzt haben und dafür in dem Glauben gestimmt haben,
»schlimmer kann es nicht kommen, als es schon ist«, werden bald sehen: Es
kann mit Sicherheit schlimmer kommen. Und wenn das serbische Volk die
Gewißheit erlangt, daß es schlimmer kommen kann und wird, wenn es den
Druck der Verschuldung fühlt, und wenn es schließlich sieht, wie wir eine
Halbkolonie des Kapitals und der Neuen Weltordnung, der USA vor allem,
werden, dann werden hier wieder die Bedingungen für sozialistische und
linke Kräfte entstehen.
F: Gegenwärtig ist die Situation im Lande weit davon entfernt, geklärt zu
sein. Auf der einen Seite haben wir linke Kräfte mit allen ihren früheren
Schwächen und Stärken. Auf der anderen Seite haben wir DOS als
Vollstrecker der Konterrevolution, auch wenn das meiste davon hinter der
Bühne abläuft. Wie wird es weitergehen, wenn sich der Staub gelegt hat?
Schauen wir uns zunächst DOS einmal an, diese Koalition, die gegenwärtig
»auf der Straße« gewonnen hat. Auf der einen Seite haben wir hier unseren
neuen Präsidenten Vojislav Kostunica, und auf der anderen Seite eine sehr
bunte Gruppierung von Politikern, die in nichts übereinstimmen außer in
ihrem Ziel, Milosevic zu stürzen. Nachdem nun dieses Ziel erreicht ist,
steht der Kampf untereinander bevor, und zwar über alles. Wir alle kennen
die DOS-Führer und haben sie bereits erlebt, sie einigten sich irgendwie
unter dem Druck der USA und brachten es fertig, einen einzelnen Mann zu
finden, den einzigen unter ihnen, von dem gesagt werden kann, daß er
ehrlich und nicht kompromittiert ist.
Eines sollte klar sein: Zwischen Kostunica und dem Rest seiner Verbündeten
besteht ein großer Unterschied. Kostunica ist ein Mann, der immer war, was
er ist: antikommunistisch, patriotisch, kritisch gegenüber der
US-Außenpolitik. Er hat die Bombardierungen Jugoslawiens im letzten Jahr
leidenschaftlich verurteilt, und er hat öffentlich gesagt, daß er nicht
mit dem Haager Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien
zusammenarbeiten wird, weil er dieses nicht als eine juristische, sondern
als eine politische Institution ansieht. Er sagte öffentlich, daß er
Slobodan Milosevic nicht an Den Haag ausliefern werde.
Dies alles sind Gründe, warum die USA Kostunica bereits kritisieren, aber
sagen, sie akzeptierten ihn als jemanden, der an rechtsstaatliche und
demokratische Verfahren glaubt. Aber aus diesen Stellungnahmen geht klar
hervor, daß die USA ihn nur vorübergehend akzeptieren, und daß er nicht
lange in seiner Position verbleiben wird, wenn er es nicht fertig bringt,
sich und seine Position zu verteidigen, und zwar auf der Basis einer
breiten Unterstützung seiner Landsleute. Kostunica ist kein neuer Havel,
was auch immer die USA denken mögen. Kostunica ist Legalist und versucht,
die bestehenden legalen Formen zu nutzen. Das Problem ist, daß die Leute
um ihn herum das nicht sind. Sie sind dabei, einige »Krisengruppen« zu
bilden, die illegale Institutionen sind. Sie üben beispielsweise schon
jetzt Druck auf bestimmte Politiker, bestimmte Werksdirektoren aus, ihren
Rücktritt einzureichen, damit andere, von DOS willkürlich ausgewählte
Leute, ihre Stellungen einnehmen können. Das ist ein völlig
verfassungswidriger Kurs.
Nach der Verfassung ist das erste, was nun zu geschehen hat, der
Zusammentritt des Bundesparlaments. An diesem Punkt werden wir sehen,
inwieweit Kostunica wirklich ein Legalist ist, denn die Regierung sollte
von der Parlamentsmehrheit bestimmt werden.
Kostunica hat bereits akzeptiert, das Amt des Premierministers jemandem
von der Sozialistischen Partei Montenegros zu geben. Das ist
verfassungsgemäß. Aber wir haben auch Zoran Djindjic, der etwas sagt, was
nicht verfassungskonform ist: Er ist für eine »Regierung von Fachleuten«.
Darüber hat wohl kaum Djindjic zu entscheiden, und das Parlament wird die
Art von Regierung bestimmen, die es haben will. Was die Regierung der
serbischen Teilrepublik angeht, so ist die Entwirrung der Lage noch im
Gange, und wir müssen das Ergebnis abwarten.
Insgesamt ist im Hinblick auf die gegenwärtige »Doppelherrschaft« im Lande
gewiß, daß - wie im Falle jeder Konterrevolution - die DOS ihren
augenblicklichen Vorteil, den Triumph auf der Straße und die Unterstützung
der Massen, nutzen wird, entscheidende Machtpositionen zu erlangen.
Notfalls durch illegale Mittel. Und wenn schon: Die DOS-Führer werden mit
großem Widerstand zu leben haben, gerade wegen dieser Methoden.
F: Was ist nun die unmittelbare Aufgabe der linken Kräfte in Jugoslawien?
Es ist offensichtlich, daß sie zum Teil neu anfangen müssen, und daß eine
vor ihnen liegende neue Periode beginnen muß - eine Periode, in der die
Sozialisten sich ohne die führende Rolle von Milosevic organisieren
müssen. Die Hoffnung, daß die Sozialisten Serbiens sich nach der jüngsten
Niederlage umgruppieren, erneuern und eine starke politische Kraft sein
werden, beruht vor allem darauf, daß die innere Erosion in der SPS
gestoppt wird. Neue Leute werden kommen und die Fehler vermeiden, die
früher und jetzt begangen wurden. Und ganz nach dem osteuropäischen Modell
werden die Sozialisten erneut an die Macht kommen. Wirkliche, wahre Ideen
sterben nicht.
Der Globalisierungsprozeß im Gegenzug ist keine wirkliche und wahre Idee.
Genau deshalb wird er nicht von Dauer sein. Das macht- und geldhungrige
US-Imperium wird wie ein Kartenhaus einstürzen, wie schließlich jedes
Imperium, weil seine Fundamente innerlich morsch sind.
Der Widerstandsblock ist bereits im Entstehen; und die schreckliche
Erfahrung mit der Bombardierung Jugoslawiens hat dazu bedeutend
beigetragen. Die Politik der USA schien bis zur Aggression gegen
Jugoslawien mit der Methode von »Zuckerbrot und Peitsche« viel Erfolg zu
haben. Die Ziele schienen ganz problemlos ohne Kriege zu erreichen. Aber
die NATO-Bombardierungen Jugoslawiens haben die Welt aufgeschreckt, indem
sie demonstrierten, daß die Neue Weltordnung in vielerlei Hinsicht
dieselben Charakterzüge trägt wie der Faschismus. Rußland, China, Indien,
südamerikanische und afrikanische Länder - alle sind sie nun ernüchtert,
weiser und wachsamer.
Das Gespräch führte Tanja Djurovic in Belgrad
Aus: junge welt, 14.10.2000
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